Zusammen allein

Olivenzweig

Mitglied
Pfefferminz

Eigentlich mochte sie den Duft von Minze, aber seit gut drei Stunden, Seite an Seite mit ihrem Mann im nicht gerade geräumigen Inneren ihres altersschwachen Golf, versuchte sie angestrengt zu ignorieren, was für den wachsenden Widerwillen verantwortlich war.
Hermann schob sich in Abständen von 15 Minuten jene weissen, ringförmigen Minzscheibchen in den Mund, die er mit deutlich hörbaren Lutschgeräuschen bearbeitete und anschliessend mit knackendem Beissen zermalmte. Dieser Vorgang dauerte sicher nicht mehr als zwei Minuten, zog sich aber für Marlies auf zermürbende Weise auf ein vermeintlich Vielfaches in die Länge. In den Zeiträumen zwischen einem Bonbon und dem nächsten hätte sie sich entspannen können, hätte mit Hermann plaudern und damit vielleicht so etwas wie Eintracht schaffen oder doch zumindest das Einverleiben eines weiteren Bonbons hinauszögern können.
Wann hatte es begonnen, dass so viele seiner Handlungen, jede für sich wohl Kleinigkeiten, eine solch quälende Irritation bei ihr auszulösen vermochten?
Ob es die Art war wie er eine Brotscheibe mit Butter bestrich, langsam und minuziös, so dass sowohl eine gleichmässige dünne Schicht wie auch eine bis zu den Rändern fein säuberliche Verteilung hergestellt war oder das einem Ritual gleichenden Glätten der Tageszeitungsseiten am Frühstückstisch, sie empfand ein geradezu körperliches Unwohlsein.
Anfänglich hatte sie solche Dinge mit vordergründig scherzhaften Bemerkungen quittiert, um dann irgendwann später mit gereizten Seitenhieben bezüglich seiner auch sonst sehr peniblen Genauigkeit nachzudoppeln, was in der Folge in unerfreuliche Wortwechsel ausuferte und Wendungen nahm, die zu ihren Ungunsten ausfielen. Hermann ergriff dann die Gelegenheit ihr ihre nicht zu leugnende Unordnung vorzuwerfen, die sie allerdings selbst gerne als kreative Weite bezeichnete. Seine Pingeligkeit, eigentlicher Ausgangspunkt der Auseinandersetzung, verlor somit an Präsenz und sie selbst blieb auf frustrierende Weise als alleinige Zielscheibe der Kritik zurück.

Es gab noch andere Angewohnheiten, die Marlies zur Weissglut bringen konnten. Allen voran Hermanns leise Sprechweise. Wer auch immer ihm zuhören wollte oder musste, kam nicht umhin sich zu ihm hin zu beugen. War Marlies in diesen Momenten anwesend, erstickte sie ihre Gereiztheit über sein Nuscheln, wie sie es für sich selbst bezeichnete, indem sie ihrerseits lauter als nötig sprach. Das war natürlich unsinnig, bewirkte bei Hermann gar nichts und bei ihr lediglich ein Ansteigen des Ärgers.
Es konnte ja nicht einfach nur um all die kleinen Dinge gehen. Das geräuschintensive Bonbonlutschen stellte für andere Ohren sicher keinen Affront dar. Das akribische Butterverstreichen, als gälte es einen Preis für das perfekt geschmierte Brot zu gewinnen, konnte man nachsichtig als Marotte belächeln. Das geringe Stimmvolumen, das in den letzten Jahren Marlies’ Wahrnehmung von Hermann übertrieben bestimmte, war nicht mehr als eine ihn auf wenig bedeutsame Weise beschreibende Eigenheit. Wo waren die Momente des Staunens und der Attraktion geblieben, die zu Beginn ihrer Ehe vor fünfzehn Jahren ihr ganzes Empfinden dominierten? Hermann hatte immer so genau gewusst, was zu tun war, was er von einer Sache hielt, sagte dies dann kurz und prägnant auf die ihm eigene schlichte und, ja, leise Weise für die sie ihn damals noch bewunderte.
Hier nun, an seiner Seite im Auto auf dem Weg nach Südfrankreich und mit weiteren sechs Stunden Reisezeit vor sich, gab es nur diesen köchelnden Zorn. Was hätte sie auch sagen sollen? Ob er nicht auf die Bonbons verzichten oder ihren Verzehr lautlos abwickeln könnte? Marlies wusste, dass dies gewiss kein guter Beginn für die zwei vor ihnen liegenden Ferienwochen wäre, die auch so nicht unter dem besten Stern standen. Nur Schweigen vermochte die permanente Gereiztheit zumindest unter Kontrolle zu halten.
So schaute sie aus dem Fenster und versuchte alles auszublenden, was nicht zu der vorbeigleitenden Landschaft gehörte, der sie nun ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken gedachte.

Hermann wendete den Kopf nach rechts zu Marlies. Er sah wenig von ihrem Profil, denn sie hatte den Blick ihrerseits zur Seite gerichtet. Die letzten gewechselten Sätze, Belanglosigkeiten über den regen Verkehr und eine nörgelnde Bemerkung über sein angeblich zu dichtes Auffahren auf den Wagen vor ihnen, lag bereits eine ganze Weile zurück. Er verspürte keine Lust mit ihr zu sprechen, aber das unbehagliche Schweigen war keine befriedigende Alternative.
Ein verlockendes Begehren stellte sich ein. Wenn er nun bei der nächsten Ausfahrt von der Autobahn führe, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit anhielte und ihr den Abbruch der Reise unterbreiten würde?
Nicht nur die Vorstellung mit ihr noch weitere Stunden so im Auto zu verbringen, sondern auch die Aussicht auf die zwei Wochen in der kleinen Pension in Grignan, die endlosen Wandertouren, die sie so liebte und die ihn längst tödlich langweilten, all dies schien ihm unerträglich und lastete zentnerschwer auf seiner Brust. Ihr gemeinsames Leben war es, das ihm auf der Brust lastete.
Ahnte sie eigentlich, wie wenig er für sie empfand? Glaubte sie vielleicht, sie alleine könne sich den Luxus ihrer ewigen Kritik leisten und dabei mit seiner beständigen Loyalität rechnen?
Er wusste nicht mehr wann in den letzten Jahren er zum ersten Mal das Gefühl gehabt hatte seine Frau nicht mehr ertragen zu können, wann ihn ihre Zurechtweisungen und Spitzen verstummen liessen. Dann war da auch noch ihre Nachlässigkeit, die ihn zunehmend abzustossen begann. Es hatte Momente gegeben, da er ihr zu verstehen geben wollte, wie wenig ihr die Gewänder standen in die sie sich hüllte, die alle gleich unförmig an ihr hingen, egal welche Farbe sie hatten oder aus welchem Stoff sie gemacht waren. Er hatte versucht ihr so taktvoll wie möglich mitzuteilen, dass ihr bereits angegrautes Haar mit dem praktischen Kurzhaarschnitt zumindest durch häufigeres Waschen wenn nicht an Reiz so doch durch ein Minimum an Gepflegtheit gewinnen würde. Aber sie schien das alles nicht zu hören. Meinte stattdessen, sie hätte besondere Vorrechte über ihn zu spötteln, seine Liebe zur Präzision als öde Pedanterie abzutun oder seine Art zu sprechen mit Grimassen zu kommentieren.
Zu Beginn ihrer Beziehung gefiel ihm Marlies’ lässige Art. Ihn amüsierten und reizten ihre bunten Pluderhosen aus dem Indien-Laden, ihr Duft nach Patchouli, ihre kämpferische Haltung gegenüber dem, was sie die Knechtschaft der Frau nannte und womit sie kleine Zugeständnisse an Mode oder noch so geringfügige kosmetische Interventionen meinte. Ihre in früheren Jahren durchaus vorhanden weiblichen Reize zu unterstreichen, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen.
Schon damals war ihm klar, dass manches an ihr in krassem Kontrast zu seinen Bedürfnissen stand, allem voran ihr Hang zur Liederlichkeit und ihre Unfähigkeit durch ein Minimum an Organisation Übersicht in ihren Tagesablauf ausserhalb ihres Halbtagspensums als Grundschullehrerin zu bringen. Aber er wollte sich von diesen Überlegungen damals nicht beirren lassen, wollte sich auch glauben machen, es könne ihm nur gut tun ein wenig von ihrer konfusen Lebensart als Gegengewicht zu seinem ausgeprägten Ordnungsbedürfnis zu übernehmen.
Nun, seine jetzigen Empfindungen zeigten, dass dies nicht so funktioniert hatte.

Hermann griff nach der Schachtel mit den Pfefferminzbonbons. Er nahm sich ein Bonbon und schob es sich zwischen die Zähne, die es mit Vehemenz zerkleinerten.

Marlies wandte sich Hermann zu. Es musste sein, sie hielt es nicht länger aus. Wie ein Vulkan bahnte es sich seinen Weg. Ob er nicht Rücksicht nehmen könne, er sei schliesslich nicht alleine im Auto. Ob er meine, er könne ihr dieses rücksichtslose Dauergeschmatze einfach so zumuten. Nein, mehr noch, er sei selbst eine einzige unerträgliche Zumutung.
Was sagte sie da? Marlies war erschrocken über die Sätze, die sich eben ihren Weg nach Aussen gebahnt hatten.
Aber Hermann tat als würde er sie gar nicht hören. Nur ein kurzer Blick zu ihr. Er fuhr weiter, als sei keines ihrer Worte gefallen.

Nach vielleicht einem halben Kilometer blinkte er rechts und fuhr ein kurzes Stück von der Autobahn ab. Bei einem Kornfeld lenkte er den Wagen in eine Ausbuchtung, stieg aus und öffnete die Heckklappe. Er griff nach seinem Koffer und der Tasche mit der Fotoausrüstung. Noch immer war kein Wort gefallen seit Marlies’ Wortschwall.
Sie sagte seinen Namen, einmal, zweimal. Dass es ihr leid täte und überhaupt, dass sie jetzt vielleicht mal reden sollten, ganz in Ruhe. Aber da war Hermann schon einige hundert Meter vom Auto entfernt. Er ging schnell, sehr schnell.
Marlies wollte ihm zuerst nachlaufen, dann hinterherfahren, war schon auf den Fahrersitz gerutscht. Aber keine weitere Bewegung wollte ihr mehr gelingen. Und so schaute sie ihm nach, sah ihn immer kleiner werden und dann plötzlich gar nicht mehr, weil zuerst ein vorbeifahrender Lastwagen, dann schliesslich die belaubten Bäume eines Waldes den Blick auf ihn verdeckten.

Sie nahm die Schachtel mit den Pfefferminzbonbons aus der Mittelkonsole und öffnete sie. Langsam legte sie sich ein Bonbon auf die Zunge, ein Zweites, ein Drittes. Die Kühle und Schärfe der Minze ergriffen betäubend vom Inneren ihres Mundes Besitz.
 



 
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