Zwanzigstes Märchen: Von der Hexe, die aus der Art schlug

VikSo

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Zwanzigstes Märchen: Von der Hexe, die aus der Art schlug

„Fräulein Andersen!“
Maria hob den Kopf. Die beiden waren so in die Erzählung vertieft gewesen, dass sie den Wächter nicht bemerkt hatten, bis er fast vor ihnen stand. Tadelnd starrte er auf das verstummte Paar herab. „Fräulein Andersen, der Rí wartet auf Sie. Eilen Sie sich.“
Trotz der unhöflichen Anrede ließ sich Maria nicht aus der Fassung bringen. Mit einer fließenden, provokativ langsamen Bewegung, erhob sie sich, um an der Seite des Mannes in den angrenzenden Saal zu schweben.
„He!“, rief Kai und als niemand auf seinen Ruf reagierte: „He, was ist mit uns?“
„Bemühe dich nicht, Erzähler.“ Georgi hatte seit ihrem Eintreffen seine Position nicht verändert. Aus halb geschlossenen Augen betrachtete er den entrüsteten jungen Mann. „Sie werden dich genau zu dem Zeitpunkt rufen, wenn sie deiner bedürfen, keinen Moment früher oder später.“
„Das darf doch nicht wahr sein!“ Kais Blut kochte. „Jetzt ist aber Schluss! Wer gibt denen denn das Recht, uns erst zu rufen und dann die halbe Nacht hier zappeln zu lassen?“
„Es sind Könige.“ Georgi zuckte die Schultern. „Gewöhnlich denken sie sich etwas bei dem, was sie tun. Gedulde dich, du wirst es schon erfahren.“
„Ich will mich aber nicht gedulden!“ Kai stapfte mit dem Fuß auf und kam sich dabei selbst wie ein Kleinkind vor. „Wenn du dich wie ein besserer Hausknecht behandeln lässt, ist das deine Sache. Über mich haben diese Leute nicht zu gebieten, schon gar nicht das gebrechliche Fossil oder die beiden Halbwüchsigen. Entschuldige“, fügte er rasch hinzu. Georgis Mine hatte bei dem Ausdruck „Fossil“ einen ausgesprochen feindseligen Ausdruck angenommen.
Mit etwas milderem Ton fuhr Kai fort: „Allein schon wie sie mit Maria umspringen. Als litte sie an Aussatz. Das kannst du doch nicht gutheißen?“
Schweigen. Einige Sekunden lang betrachtete Georgi sein Gegenüber. Zum ersten Mal lag so etwas wie Unsicherheit in seinem Blick.
„Du bist nicht erzogen worden wie wir.“, begann er vorsichtig. „Wenn du Maria anschaust, dann siehst du eine schöne, geheimnisvolle Frau mit einer Vorliebe für Kräutertees. Wenn einer der meinen ihrer gewahr wird“ – er überlegte kurz – „dann gemahnt ihre Erscheinung ihn an eine jahrhundertelange Geschichte von Missgunst, Betrug, Boshaftigkeit – mit einem Wort: Gefahr. Die Bedrohung mag sich hinter einer schönen Fratze und einem liebenswürdigen Gebaren verbergen. Das alles kennen wir schon. Wir wissen aber auch aus Erfahrung, wie abstoßend die Wahrheit hinter dieser Fassade sein kann. Du magst einwenden, Maria sei eine rühmliche Ausnahme von dieser Regel. Erlaube uns, aus der Geschichte heraus berechtigte Zweifel daran zu hegen. Wir bleiben so lange misstrauisch, bis dreimal drei Mal das Gegenteil bewiesen ist.“
„Aber was hat Maria denn Böses getan?“ Kai raufte sich die Haare.
„Sie selbst nichts, das stimmt. Zumindest nicht so, dass man es ihr nachweisen könnte. Es geht mehr um das was sie ist. Seiner eigenen Natur kann niemand auf ewig entrinnen und ihre ist notwendigerweise so schwarz wie der Tod.“
Dazu wusste Kai nichts mehr zu sagen. Eine Weile starrte er den Marmorfußboden an, als wolle er ein Loch hineinbohren. Dann kam ihm ein Gedanke: „Georgi, wie gut kennen Sie Maria eigentlich?“
Der Zwerg zog gedankenverloren die Nase hoch. „So gut man eben jemanden kennt, der seit seiner Geburt in der gleichen Gemeinde lebt wie man selbst. Warum fragst du?“
„Kannten Sie auch ihre Familie? Ihre Mutter, ihren Vater? Soweit ich weiß, hat sie einige Schwestern.“
Georgi schnäuzte sich. „Ja und?“
„Na, wo sind die? Sie erwähnten gerade, Maria sei in der Stadt geboren. Also müssen ihre Eltern auch hier gelebt haben. Sind sie weggezogen. Wenn ja, warum ging Maria nicht mit ihnen? Warum erwähnt sie ihre Leute nie? Ich habe Maria bis jetzt erst einmal von ihnen sprechen hören und auch da nur widerwillig. Irgendetwas muss da vorgefallen sein. Wenn ich nur wüsste, was?“
„Was wäre, wenn du es wüsstest? Würde das etwas verändern?“ Der Zwerg grunzte. „Hast du sie selbst gefragt?“
„Sie wich mir aus.“
„Wieso sollte ich dir dann antworten?“
Kai presste die Lippen aufeinander. Dieser sture… Verärgert fuhr er mit der Zungenspitze über die Schneidezähne. Plötzlich blinzelte er.
„Georgi.“, rief er den anderen an. Ein Lächeln spielte um seine Lippen. Seine Stimme nahm einen schmeichelnden Klang an. „Alle hier nennen mich die ganze Zeit den Erzähler. Sie und Viola sind doch ganz aus dem Häuschen bei der Idee, dass ich herumlaufen und Geschichten sammeln soll. Erzählungen tradieren, die bisher noch an kein Ohr gedrungen sind. So eine Art moderner Jakob Grimm. Nun, ich dachte mir, diese Geschichte wäre ein guter Anfang. Aber bitte, wenn Sie nicht wollen…“ Theatralisch wandte er sich ab.
Georgi schniefte. „Du hast kein schauspielerisches Talent, weißt du das?“ Sein Finger kratzte geistesabwesend an seinem linken Nasenloch. Endlich schnäuzte er sich entschlossen. „Also gut. Setz dich hin und zappele nicht so herum. Sei still und höre aufmerksam zu, denn ich werde das alles nur einmal vortragen.“
Während Kai versuchte, dieser Aufforderung gemäß zur Salzsäure zu erstarren, setzte sich Georgi in Pose. Mit schwerer, förmlicher Stimme eröffnete er:
„Es war einmal ein kleines Mädchen, an dem war nichts weiter ungewöhnlich, ausgenommen drei Dinge: Zum ersten war sie von Geburt an außergewöhnlich schön. Zum zweiten zeigte sich, noch bevor sie sprechen konnte, dass sie über alle Maßen klug war. Und zum dritten – das hätte ich vielleicht ganz zu Anfang erwähnen sollen – war sie eine geborene Hexe.
Natürlich kennst du alle Geschichten, die man sich über diese Zauberwesen erzählt. Darum brauche ich dir nicht ausschweifend zu erklären, wie das Mädchen und ihre Familie ihr Dasein fristeten. Die Mutter hatte außer dem kleinen Mädchen bereits sechs Töchter und war schon kurz nach der Geburt der siebten wieder schwanger geworden. Die Väter dieser Kinder kannte niemand und sie waren der Mutter wohl auch von Herzen gleichgültig. Zusammen mit ihren Töchtern wohnte sie in einer baufälligen Villa am Rande des Ortes, da wo die Stadt stückweise in den Wald überging. Nie besuchte eines der Mädchen den Kindergarten oder wurde auf dem Spielplatz gesehen. In der Schule fielen die Schwestern zuerst durch ihre durchgehend nachtschwarze Kleidung auf.
Unsympathische Kinder waren es! Falschheit und Tücke; verkleidet durch die schief sitzenden Masken von Engeln. Lasse deinen Sohn zu lange mit einer von ihnen allein und er fängt an, sich mit einem anderen Jungen zu prügeln, ohne recht den Grund zu kennen. Setze deine Tochter neben sie und nach wenigen Minuten reißt sie ihrer Lieblingspuppe Arme, Kopf und Beine aus. Lass dich von ihnen anlächeln und sogleich befallen dich die übelsten Gedanken, Wünsche und Pläne.
Die einzige, die diesem Bild nicht entsprach war die kleine Maria – das Mädchen, von dem meine Geschichte handelt. Maria war ein stilles, schüchternes Kind mit blasser Haut und hellen, fast weißen Haaren, einer Flüsterstimme und scheuem, verletzlichem Blick. Wo andere Kinder spielten und tobten und ihre Schwestern krochen, kratzten und Ränke schmiedeten, hockte Maria wortlos in einer Ecke und beobachtete. Selten sah man sie irgendetwas tun. Trotzdem merkten die Leute mit der Zeit, dass in ihrer Nähe seltsame Dinge geschahen: Doch war das anders als bei ihren Schwestern, die alles zerstörten und verdunkelten. Wo Maria hinkam, da wurden Dinge heil. Der löchrige Fußball war plötzlich wieder rund und prall. Die zerrissene Buchseite wurde ganz und musste nicht geklebt werden. Das zerbrochene Spielzeug war plötzlich an einem Stück, als hätte es eben erst den Laden verlassen. Ein Kind, das gerade noch betrübt war und geweint hatte, sprang bald wieder fröhlich lachend herum, ohne zu wissen, was es dazu veranlasste.
‚Ein liebes Mädchen.‘, sagten einige Menschen von ihr. ‚Die hat man gerne um sich.‘
‚An einem Zitronenbaum wachsen keine gezuckerten Kirschen.‘, entgegneten andere. ‚Auch diese wird nicht aus der Art schlagen. Wahrscheinlich spart sie sich ihre Kraft nur für ein besonderes Schurkenstück auf.‘ So blieben die Menschen, große wie kleine, misstrauisch und abweisend gegen die kleine Hexe.
Darüber gingen die Jahre dahin und aus dem stillen Kind wurde eine schweigsame, einsame junge Dame. Keiner beachtete sie groß, auch nicht ihre eigene Familie, bis sie eines Tages verschwand.
Von der Schule hatte man sie als letzte der Schwestern noch losgehen sehen. Zu Hause aber war sie nie angekommen. Vier Wochen lang blieb die Fünfzehnjährige wie vom Erdboden verschluckt. Die Polizei befürchtete das Schlimmste für das Mädchen. Auch die Dorfbewohner hatten Angst, allerdings mehr für den armen Menschen, mit wem auch immer sie sich davongemacht hatte. Die Mutter aber streifte in dieser Zeit wie ein gereizter Wolf durch die Straßen. Noch nie war es ihr untergekommen, dass eine ihrer Töchter – die ja gleichzeitig ihre Schülerinnen waren – ein Zeichen des Ungehorsams gezeigt hätte. Nun hatte sich eine gleich gänzlich ihrem Einfluss entzogen. Noch dazu ihr Sorgenkind, das, welches am wenigsten nach ihr schlagen wollte. Wehe dem Mädchen, wenn sie nach Hause käme!
Maria kehrte nach Hause zurück. Keiner von uns hat erfahren, was in diesem Monat geschehen war oder was sie zur Umkehr bewogen hatte. Lange Zeit bekam niemand in der Stadt sie überhaupt zu Gesicht. Monatelang hielt die Mutter sie unter Verschluss. In der Schule hieß es, das Mädchen sei ernsthaft erkrankt und müsse sich daheim auskurieren.
Nur einmal konnte ich in dieser Zeit durch puren Zufall einen Blick auf sie erhaschen, als der schwarze Wachhund – ihre Mutter – einmal kurz unachtsam war. Ich kehrte gerade von einem Spaziergang im Frieden der Natur zurück. Als ich das Hexenhaus passierte, erkannte ich eine schmale, einsame Gestalt, die in dem verwilderten Garten auf und ab ging. Noch blasser und trauriger wirkte das Mädchen, sonst hatte sich an ihr nicht viel verändert. Nur eine Sache noch: Zwar war sie weiter schlank wie zuvor. Doch zeigte sich in der Mitte ihres Leibes unter dem schwarzen Seidenkleid ein kugelrunder Bauch.
Noch einmal vier Wochen zogen nach dieser interessanten Beobachtung ins Land. Da polterten auf einmal Umzugswagen durch die engen Straßen unserer Stadt, direkt auf das Hexenhaus zu. Wollte die Familie die Stadt verlassen? Die Einwohner unseres Örtchens wagten gar nicht zu hoffen. Doch wirklich: Ein Mann konnte ihre Vermutung bestätigen. Das war der einzige, der über die vergangenen Monate hinweg mit der Familie in Kontakt gestanden hatte: Der alte Herr Grimm. Dem vertrauten alle Menschen bei uns und glaubten ihm darum auch, als er ihnen berichtete, die verhassten Weiber wollten an einen weit, weit entfernten Ort ziehen, fern genug, dass man nie mehr mit ihnen in Berührung kommen musste. Ein Aufatmen strömte durch die ganze Gemeinde, das auch durch eine kleine Einschränkung nicht geschmälert wurde.
Eine Tochter nämlich – diejenige, welche vor einiger Zeit fortgelaufen war – sollte ohne ihre Familie hierbleiben. Allein sollte sie so lange bei dem alten Herrn Grimm wohnen, bis sie die Schule abgeschlossen hätte.
Wäre Frau Andersen, die Alte, als liebende Mutter bekannt gewesen, hätten sich eventuell einige gewundert, dass sie ihre minderjährige Tochter allein bei einem beinahe Fremden zurückließ. Nun wusste aber jeder, das das Verhältnis der alten Hexe zu Maria stets warm wie ein Wintermorgen gewesen war. Daher waren sich alle einig, dass Großvater Grimm unter Umständen das Beste war, was dem vaterlosen Mädchen passieren konnte. Als Kind hatte man sie einige wenige Male unter den atemlosen Zuhörern seiner Märchen gesehen; das hatte die Hexe später unterbunden. Von dem Großvater wiederum wusste man, dass er seinen einzigen Enkel, der in einer fernen Stadt studierte, sehr vermisste. So konnten die beiden sich gegenseitig die Familie vertreten, die ihnen fehlte.
Was aber hatte die Alte nun doch dazu gebracht, auf die Kontrolle über das Mädchen zu verzichten, das sie erst vor wenigen Monaten so eifrig hatte wieder einfangen wollen? Das erstaunte die Leute eigentlich am meisten. Auch ich kann dir dazu nichts Sicheres mitteilen. Fest steht, dass die Mutter ihr ungeliebtes Kind von da an in Ruhe ließ. Keiner von ihrer Sippe tauchte danach wieder in unserer Stadt auf. Das Mädchen, Maria, entfernte sich von hier nicht auf hundert Schritte, als ahnte sie, dass sie nur an diesem Ort sicher sei. Nachdem sie die Schulzeit beende hatte, verschaffte ihr Großvater Grimm eine Lehre in einem Krämerladen und half ihr später, in einem verlassenen Geschäft einen Teehandel zu eröffnen. Er selbst war zu Anfang ihr bester Kunde. Kaum einer hätte sich wohl herabgelassen, bei ihr zu kaufen, hätte der Großvater nicht bei jeder Gelegenheit betont, wie schnell ihre Tees seine Gliederschmerzen gelindert hätten.
Wirklich schienen die vielen Mischungen aus allerlei Kräutern manche sichtbaren und unsichtbaren Krankheiten zu lindern. Auch ihre eigene Seele schien sie dabei zu heilen. Hatten die Städter zu Anfang noch eine lastende Traurigkeit an der jungen Frau bemerkt – in den gesenkten Augen, der gepressten Stimme und dem schwermütigen Seufzen – so ließ diese mit der Zeit immer mehr nach. Ein interessierter Beobachter hätte wohl bemerken können, dass hinter der glatten Maske und dem ausdruckslosen Blick immer noch die gleiche Verzweiflung lauerte. Indes – wer achtete schon auf derartiges bei einem Mädchen, das alle am liebsten vergessen wollten?
So richtete sich die Hexe Maria ihren Platz in der Stadtgemeinschaft ein und wurde, wenn schon nicht geliebt, so zumindest nicht offen angefeindet. Dass sie nicht gestorben ist, siehst du ja selbst. So lebt sie auch noch heute.
 



 
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