Zweites Märchen: Von der Prinzessin, die dem Großvater Kuchen und Wein brachte

VikSo

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Zweites Märchen: Von der Prinzessin, die dem Großvater Kuchen und Wein brachte

Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Viola. Sie war das jüngste Kind ihrer Eltern und wurde darum von Mutter, Vater und den drei älteren Schwestern liebevoll gepflegt. Deswegen war sie aber nicht verwöhnt, sondern kannte genau ihren Platz im Haushalt, in dem es immer etwas zu tun gab. Der Vater war Förster, die Mutter Ärztin in der kleinen Stadt, in der sie lebten. Oft arbeiteten die Eltern bis spät in den Abend hinein. Das Mädchen aber wusste sich leicht zu beschäftigen. Am liebsten verbrachte sie ihre Zeit über Büchern oder in der Küche, wo sie Kekse und Kuchen backte. Manchmal durfte sie auch die Mutter begleiten, wenn diese Hausbesuche bei den Alten der Gemeinde machte. Dann durfte Viola einiges von ihrem Backwerk mitbringen und manchmal auch eine Flasche Wein. Die alten Leute freuten sich darüber und die Mutter sagte, dies sei eine bessere Medizin, als manche Pille, die sie verabreichen könne. Einen alten Herren besuchte Viola besonders gern und das war zufällig der Großvater von Kai.
Der Großvater litt seit einigen Jahren an Herzbeschwerden. Das lag daran, so meinte die Mutter, dass er solch ein großes Herz für alle Menschen, besonders aber für Kinder habe. Auch den Eltern habe er einmal einen großen Gefallen getan, weshalb die Mutter ihn umsonst und mit außergewöhnlicher Sorgfalt behandelte. Viola liebte den Alten wegen seiner warmen Augen und seiner gütigen Stimme. Noch mehr aber liebte sie ihn für seine Märchen. Sie wurde nie müde, zuzuhören, obwohl sie die Geschichten auswendig kannte, als wären sie ihr Wiegenlied gewesen. Viola nannte den guten Herrn ihren Großvater und Großvater nannte das niedliche Mädchen „Prinzessin“.
Mit der Zeit reifte das Mädchen zu einer klugen, freundlichen jungen Frau heran. Den Großvater besuchte sie allerdings seltener, zu sehr nahm die Schule sie in Anspruch. Später zog sie in eine andere Stadt, wo sie studieren konnte, denn Viola wollte Ärztin werden, genau wie ihre Mutter. Sie hatte dieses Studium gerade abgeschlossen, als sie eines Tages die Nachricht erhielt, dass ihre beiden Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen seien. An diesem Tag kehrte sie in die kleine Stadt, in das Haus ihrer Eltern zurück. Hier kümmerte sie sich von nun an um die Kranken der Gemeinde. So kam es, dass sie auch den Großvater wieder traf, denn dessen großes Herz war immer noch zu schwach für all die Liebe, die er zu verschenken hatte. Manchen Abend saß Viola zu seinen Füßen. Dann bat sie ihn: „Großvater, erzähl mir ein Märchen! Erzähl mir, wie es war nach den ersten Kriegen!“ Und der Großvater lächelte, nahm das Märchenbuch in die Hand, das schon dem Großvater des Großvaters gehört hatte und las:

„Nach dem ersten großen Krieg hielten sich die magischen Völker versteckt, indem sie sich als Menschen verkleideten. Damit sie nicht, unwissend voneinander, in alle Himmelsrichtungen zerstreut würden, beschlossen sie, dass jeder Stamm sich einen König unter seinesgleichen wählen sollte.
So erhoben als erstes die Zwerge einen aus ihrer Mitte: David, den Sohn Isajas. David war ein begnadeter Silberschmied, darum wählte er als Wappen seiner Herrschaft, einen Hammer auf silbernem Grund. Der König hatte nacheinander drei Frauen, von denen ihm jede drei Söhne schenkte. Der Älteste erbte später die Krone seines Vaters, während die übrigen acht seine Berater waren. So ist es bis heute bei den Zwergen Brauch.
Die Feen regierte Abischag, damals schon eine alte Frau, die ihre Untertanen mit Ruhe und Weisheit führte. In ihrem Andenken darf keine Fee Königin werden, die weniger als 50 Jahre zählt. Ihr Wappen war ein blaues Banner, auf dem eine Taube prangte, die Tochter des Windes.
Ein listiger Fuchs dagegen war das Zeichen des Koboldkönigs. Listig und wendig und immer etwas unvorhersehbar regierte der junge Pavel das Volk des Waldes, dessen Farbe rot war, rot wie das lebendige Blut, dass durch alle Tiere fließt.
Viola – du merkst wohl Kind, sie trägt den gleichen Namen wie du – Viola war Pavels Cousine, die Königin der Elfen. Mag sein, dass sie seine Cousine nur im dritten oder vierten Grad war, doch Elfen und Kobolde legen, wie du weißt, viel Wert auf ihre Verwandtschaft. Darum gelten sie sich alle als Cousins und Cousinen und fühlen sich damit als Brüder und Schwestern. Viola hatte ein ruhiges und schweigsames Gemüt, bedächtig und friedvoll. Königin wurde sie, weil sie sich wie keine zweite auf die Kräuterkunde verstand. Ihre Farbe war grün und ihr Zeichen der zarte, flüchtige Farn.
In einer prächtigen Zeremonie erkannten sich diese vier Könige gegenseitig an und zollten sich den größten Respekt. Einmal im Jahr trafen sie sich zu einem königlichen Rat, was jedesmal mit einem glanzvollen Fest begangen wurde. So hätten die Magischen endlich Frieden gefunden, denn unter sich fingen sie keine Kriege an. Es gab doch aber noch das fünfte Geschlecht, die eitlen und gierigen Menschen. Gewalt wuchs unter ihnen wie ein giftiges Unkraut und Bosheit wie ein tödliches Geschwür und drohte, sie alle zu vernichten. Zwar gab es auch Verständige unter ihnen, die versuchten, diesem Fluch Einhalt zu gebieten. Allein, ihre Stimmen waren wenige und ihnen fehlten die richtigen Worte, die Herzen der Verstockten zu bewegen.
Diese wenigen Klugen wählten sich die magischen Könige zu Verbündeten aus.
Ihnen allein offenbarten sie ihre wahre Existenz, ihnen allein die Zauberkraft, die immer noch in ihnen wohnte. Diesen Menschen zeigten sie, wie sie friedlich miteinander leben konnten, trotz der großen Gaben, mit denen sie sich mühelos hätten vernichten können. Dankbar saugten diese bevorzugten unter den Menschen auf wie einen Schatz und versuchten, es unter den ihren zu verbreiten. Vergebens, niemand wollte ihre weisen Predigten hören. Bis endlich einer kam, der es nicht nur mit Klugheit, sondern auch mit List und Phantasie versuchte. Verbote und Regeln wollen die Leute nicht hören, sagte er sich. Was ihr Herz erfreut, sind Geschichten; Helden, die sie verehren und Schurken, die sie verabscheuen können. Und so sprach er nicht mehr von dem Guten und Edlen, dass die Menschen tun sollten, sondern von den Abenteuern, die gute und edle Elfen, Zwerge, Kobolde und Feen glücklich bestanden hatten.
Freilich gab es auch jetzt noch Herzen, die so dürr waren, dass dieser Same bei ihnen nicht fruchten konnte. In viele aber fiel er ein, schlug Wurzeln und wuchs, wenn nicht zu ewigem Frieden, so doch zu der steten Sehnsucht danach. Und so sind bis heute die Geschichten, die manche abschätzig „Märlein“ nennen, die einzige Verbindung zwischen den magischen Völkern und den Menschen und die Erzähler sind ihre Boten. Das wird so lange dauern, bis irgendwann die Menschen ihr eigenes Wesen überwunden haben. Doch das wird wohl noch lange dauern.“

Wenn er so weit gekommen war, trank der Großvater stets einen Schluck Wein. Und nun war es an Viola, fortzfahren: „Auch du bist einer der Erzähler, Großvater, nicht wahr? Du trägst die Geschichte seit Jahrzehnten weiter.“ Darauf lächelte der Großvater und verneinte nicht, noch bejahte er. Die junge Frau aber sah dies als Gewissheit an und bewahrte die Botschaft in ihrem Herzen.
Es war an einem Abend wie diesem, als das Märchen des Großvaters endete. Wieder hatte er die gleiche Geschichte erzählt, wieder hatte Viola die gleiche Frage gestellt. Doch diesmal fügte sie noch hinzu: „Großvater, wer wird die Geschichte erzählen, wenn du einmal nicht mehr bist?“
Die Antwort darauf blieb ihr der Alte für immer schuldig. Denn noch bevor er die Frage hören konnte, hatte sein riesiges Herz langsam, ganz sanft, aufgehört zu schlagen. So schlief der Großvater friedlich ein, glücklich bis an sein Lebensende.
 
W

WilliWieberg

Gast
Zweites Märchen : Von der Prinzessin, die dem Großvater Kuchen und Wein u

Lieber VikSo,
eine wirkliche Erzählung, die ich sehr gerne gelesen habe. Hoffentlich geht es weiter!
Viele Grüße
Willi Wieberg
 



 
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