Zwillinge

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen
Langsam schwebten die weißen Flocken zur Erde. Der Himmel war grau und verhangen, er schien fast schon die Bäume im Park zu berühren, die mit ihren kahlen Ästen wie schwarze Risse auf einem Bild wirkten. Obwohl der Schnee erst vor kurzem beiseite geschaufelt worden war, bedeckte den Gehweg schon die nächste Schneeschicht. Nur wenige Fußspuren störten die reine Makellosigkeit dieser Oberfläche.

Es war empfindlich kalt und der eisige Wind tat das seinige dazu, auch die hartnäckigsten Spaziergänger aus dem Zentralpark zu vertreiben, nach Hause, wo mit ein wenig Glück ein warmer Kamin auf die erfrorenen Füße wartete. Fast alle Bänke waren leer und ungeschützt dem Atem des Winters ausgesetzt. Eine jedoch war es nicht.

Die Gestalt hatte sich in einen dicken, weißen Mantel eingehüllt, um das letzte bisschen Wärme bei sich zu behalten, so dass man auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte. Der Wind erfasste dunkles, langes Haar und entblößte ein helles, schmales Gesicht. Eine Frau – ein Mädchen noch, höchstens siebzehn Jahre alt. Die Wangen waren gerötet, ebenso die Nase. Lange Wimpern verdeckten die ausdrucksvollen Augen.

Auf ihrem Schoß stand eine kleine Packung. Mit Fingern, die in schwarzen Handschuhen steckten, riss das Mädchen den Deckel ab und enthüllte den gelblich weißen, cremigen Inhalt. Einen Augenblick lang sah das Mädchen regungslos darauf, dann holte sie einen Löffel aus ihrer Manteltasche und versenkte ihn in die Eiscreme. Sie war gefroren und hart, aber mit etwas Mühe brach sich das Mädchen ein Stück ab und ließ es in ihren Mund wandern. Nachdenklich lutschte sie das Eis eine Weile, bis es sich ganz aufgelöst hatte und die Süße ihre Geschmacksknospen überflutete. Dann schluckte sie es herunter und fing wieder an, die Eiscreme mit ihrem Löffel zu bearbeiten.

„Yulia. Mensch, was machst du denn hier?“ Eine weitere Person kam langsam auf die Parkbank zu, die Hände in den Taschen ihrer leichten Herbstjacke vergraben. Ein glänzender schwarzer Zopf fiel über ihren Rücken, Schneeflocken glitzerten wie Glas darin, bis sie zerschmolzen. Einige Haarsträhnen waren vom Wind aus der sorgfältig vorbereiteten Frisur gezogen worden und hingen ihr ins Gesicht. Ungeduldig wischte sie sie beiseite. „He, Yulia. Taub, oder was?“

Das Mädchen, Yulia, schaute schließlich auf. In ihren großen braunen Augen zeigte sich keine Überraschung. „Maria…“

„Nenn mich bloß nicht bei diesem grässlichen Namen!“ Ihr schönes Gesicht verzog sich ablehnend. „Ich sag doch, ich heiße May. Wenn ich achtzehn bin, lasse ich das offiziell ändern. Maria, kaum auszuhalten…“

„Hast du mich gesucht?“, fragte Yulia, ohne auf ihre Worte einzugehen. May musterte sie.

„Nö. War nur zufällig in der Gegend.“ Sie ließ sich auf die Bank fallen, direkt neben Yulia. Betont lässig schlug sie die Beine übereinander, so dass ihre Jacke ein Stück beiseite rutschte und einen Blick auf ihre wohlgeformten Beine gewährte. Nicht, dass jemand da gewesen wäre, um es zu schätzen. „Und, was machst du hier?“, wiederholte sie schließlich ihre Frage. Yulia starrte auf die Eisbox in ihren Händen.

„Weiß nicht“, sagte sie leise. May folgte ihrem Blick und schnalzte überrascht mit der Zunge.

„Du isst Eis? Um diese Jahreszeit?“

„Ist das verboten?“

May schüttelte resigniert den Kopf. „Du hast sie echt nicht mehr alle…“ Unvermittelt hob Yulia den Kopf und sah ihrer Schwester direkt in die Augen.

„Warst du gerade bei Kail?“

„Jep.“ Wieder zupfte sie eine nervtötende Haarsträhne fort. „Er lässt dich grüßen.“

„Tut er nicht.“

„Hast Recht. Tut er nicht. Ich wollte nur nett sein.“ Yulia schaute wieder fort. Unangenehmes Schweigen hing einen Augenblick lang zwischen ihnen, dann seufzte May und lehnte sich zurück, gegen den Rücken der Bank. „Weißt du, der Typ wollte von Anfang an nichts von dir. Das weißt du doch. Er dachte nur, er könnte so an mich rankommen.“ Yulia reagierte nicht. May zeigte ein Lächeln. „Wir sind schließlich Zwillinge. Wir teilen doch alles.“

„Alles?“ Yulias leise Stimme war wie eine Schneeflocke.

„Klar. Weißt du noch, im Kindergarten hatten wir nur eine Lunchbox für uns beide…“

Die Flocke landete auf Eis. „Kail ist keine Lunchbox.“

May seufzte wieder. „Ach, vergiss den Kerl doch endlich. Er ist es sowieso nicht wert, dass du dir den Kopf so über ihn zerbrichst.“

„Warum willst du ihn dann haben?“, fragte Yulia. May zuckte mit den Schultern und sah ihre Schwester nicht an. Sie beobachtete abwesend den Schneefall.

„Du kennst mich doch. Ich will nur meinen Spaß.“

„Hast du mit ihm geschlafen?“ Jetzt streifte May sie mit einem kurzen, abschätzenden Blick.

„Ja. Warum fragst du?“ Sie grinste. „Willst du die Details hören?“ Yulia schüttelte den Kopf. Die Eisbox ruhte unberührt auf ihren Knien, der Löffel steckte immer noch darin. Einige Schneeflocken hatten sich darauf abgesetzt.

„Er hat bestimmt nicht verhütet…“, äußerte sie tonlos. May hob ihre elegant geschwungenen Augenbrauen.

„Mach dir mal darüber keine Sorgen, Schwesterchen, ich hab immer…“

Yulia sah auf und brachte May mit ihrem direkten Blick zum Schweigen. „Kail ist HIV positiv“, sagte sie ruhig. Mays Gesichtsausdruck änderte sich nicht.

Die beiden starrten sich an, ein wortloser Augenblick, während der Himmel weiße Flocken ausspie.

„Woher weißt du das?“, fragte Maria endlich. Ihre Stimme klang genauso wie die ihrer Schwester.

„Ich habe mich danach testen lassen. Das Ergebnis war positiv.“

„Wie lange weißt du es schon?“

„Seit zwei Wochen.“ Etwas zuckte in Marias Augen, als sie diese ausdruckslose Antwort hörte.

„Kail geht seit einer Woche mit mir aus.“

„Ich weiß“, erwiderte ihre Schwester. Wieder ein stummer Moment. Yulia wich ihrem Blick nicht mehr aus. In dem blassen Gesicht wirkten ihre Augen fast schon schwarz. Maria war ihr Spiegelbild, der Gesichtsausdruck eingefroren im kalten Winternachmittag.

„Wir sind schließlich Zwillinge.“ Yulia musterte ihre Schwester abwartend, als sie deren Worte wiederholte. „Wir teilen doch alles.“

Auf Marias Gesicht zeigte sich ein schmales Lächeln. Sie hielt den Blickkontakt noch einen Moment lang aufrecht, suchte Yulias Augen ab, dann brach sie den Bann und schaute weg. Sie zeigte mit einem schlanken, nackten Finger auf die Eisbox.

„Teilen wir auch die Eiscreme?“

Jetzt lächelte Yulia. Sie brachte einen zweiten Löffel zum Vorschein. „Klar doch.“

Maria probierte. „Mm. Ich liebe Vanille.“

„Ich weiß.“
 
K

Kasoma

Gast
HERZLICH WILLKOMMEN!!!

Hallo, lieber Cliff,

nach Deinem netten Kommentar zu meiner Story, wollte ich den Neuzugang mal begucken und: Nicht schlecht, was ich hier zu lesen bekomme!

Die Idee mit den Zwillingen, die alles teilen und sich am gleichen Kerl den Tod holen, finde ich sehr gelungen.
Toll, die Beschreibung des Bildes der Eisessenden Julia im Park...

Was Du besser machen kannst: Raff ein bisschen, nicht so oft wiederholen, dass die Zwei alles teilen, das hat man rasch verstanden. Mach es knapper, flotter und die beiden Damen müssen nicht soo hübsch sein, ganz normale Frauen reichen, denn auch die Hässlichen haben Sex mit den falschen Männern (reine Vermutung, bin ja selbst eine Schönheit) und dann: Voila, hast Du einen großartigen Text, gut finde ich ihn schon jetzt!!!

Sei lieb gegrüßt und mach weiter so, ich lese gern mehr...
Kasoma
 



 
Oben Unten