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ThomasBecker

Mitglied
»Was ist das?«
Ich schoss von meinem Stuhl hoch. »Oh Mann, Tua, was schleichst du dich so an?«, fragte ich, dann ließ ich mich, noch unter leichtem Schock, langsam wieder nieder.
»Oh«, machte Tua nur. Er war schon zu mir an den Küchentisch herangetreten, in einer Hand einen dicken Stapel Karten. »Was ist das?«, fragte er nochmal und deutete mit dem Zeigefinger der freien Hand auf den Bildschirm vor mir.
»Äh, das ist die Arecibo-Botschaft«, antwortete ich und schaute ihn an.
»Hä«, machte er nur und warf seinen Kopf zur Seite.
»Also vor vielen Jahren, da waren deine Eltern vielleicht gerade erst geboren, da haben Forscher mit einem großen Teleskop ein – einen Brief ins Weltall geschickt. Das war in Arecibo in Südamerika. Und die Forscher hofften, dass Außerirdische den Brief – lesen würden.«
»Hä«, machte Tua wieder, »und hat das geklahappt?«
»Ähä«, lachte ich auf, »naja, der braucht 25.000 Jahre, bis er ans Ziel gelangt. Und wenn wirklich Außerirdische antworten, dann braucht deren Brief nochmal so lang.«
»25.000 Jahre ist sehr lang, oder?«, fragte Tua.
»Ganz schön lang, ja«, meinte ich und nickte langsam.
»Soll das ein Mensch sein?«, fragte Tua und deutete auf das Strichmännchen im Bild.
»Richtig! Und da steht, wie viele es von uns gab, als man den Brief abgeschickt hatte!«
»Wie viele Menschen gab es damals?«
»Du darfst raten!«
»Äh, dreihundertmillionen?« Er dachte sicher, es sei wieder eine Spaßantwort mit irgendeiner Zahl!
»Über vier Milliarden Menschen!«
»Oah«, stöhnte Tua.
»Und jetzt gibt es fast doppelt so viele Menschen!« Ich hatte ihn, er war definitiv interessiert! »Guck mal, die gelben Punkte hier drunter sollen die Planeten zeigen. Und wir –«
»Wir sind auf dem dritten! Und vor uns kommen Merkur und Venus!«
»Genau!«
»Und das ist das Teleskop?«, fragte Tua und zeigte auf einen Teil des Bildes.
»Hey, Tua, du hast ein scharfes Auge!«, sagte ich und lächelte ihn an.
»Hm«, machte Tua und lächelte zähnezeigend. So zerstreut und zurückgezogen er auch gewesen war – er hatte einen großen Enthusiasmus für Natur und Wissenschaft. Sein griechischer Großvater zeigte ihm, wenn Tua und seine Geschwister auf langen Ferienbesuch in Skorponeri waren, sehr oft Sternbilder durch das Teleskop. Aber in wolkenfreien Nächten reichte das bloße Auge, um tausende Sterne zu betrachten.
Tua entfernte sich nun, indem er einige Schritte um den Küchentisch herum ging und sich auf den Stuhl genau meinem gegenüber setzte. Dort legte er den Stapel Karten ab und befasste sich mit zwei aus Lego gebauten Raumschiffen, die seit dem Frühstück dort herumlagen. Eine Zeitlang war es ruhig. Ich hörte Tua nur schniefend atmen, während sein Blick, die Raumschiffe auf dem Küchentisch wendend, auf selbigen herumkrabbelte. Und der Kühlschrank arbeitete. Von draußen kam mittlerweile schwächer gewordenes Tageslicht durch den gläsernen Vorbau des Hauses. Was ich aus dieser Kulisse sog, war ein Gefühl von – Nachmittag: Ein Nachmittag, der sich zwischen Schule und Abendessen auftat. Der sich für mich als Kind damals so aufzutun hatte, weil er mir ein wohliges Jetztgefühl bereitete. Jetzt passierte alles, genau jetzt, das ganze Universum – wuselte.
»Was machst du mit dem Bild?«, fragte Tua auf einmal.
»Hm?«, murmelte ich, ich hatte ihn und das Thema schon wieder ausgeblendet. »Äh, ich möchte etwas über meine Jugendzeit schreiben«, fing ich an, dann betrachtete ich das Bild nochmal. »Damals, da war ich vielleicht in der neunten Klasse, da entdeckte ich das Bild in einem Schulbuch. Und – hm – naja, es ist sehr einfach, aber ich fand, es sagt viel über uns Menschen aus. Und für jemanden wie die Außerirdischen kann das ja auch ganz viel bedeuten!« Ich zeichnete mit meinen Armen ein großes M mit runden Bögen in die Luft. »Und sie können dann hoffen, dass da draußen im Weltall noch jemand ist!«
»Hm«, machte Tua nur. Er hielt die Raumschiffe jetzt vor sich in den Händen. Dann rief er »Dreifache Atombombe!«, imitierte Explosionsgeräusche mit dem Mund und ließ das kleinere Raumschiff unter einer Sprenkelfontäne aus Speichel auf den Küchentisch fallen. Mit einem »Oh« entschuldigte er sich, wie immer, für den lauten Knall, obwohl er genau damit meine Aufmerksamkeit bekommen wollte.
»Sag mal, muss denn immer alles sterben unter tausend Atombomben?«, fragte ich daraufhin.
»Ja, das is’ lustig!«, antwortete Tua ganz begeistert. Dann legte er das große Raumschiff ab, nahm seine Karten, kletterte vom Stuhl und rannte aus der Küche. Er würde erst in drei Stunden wieder auftauchen und zusammen mit seinen Geschwistern von mir vorbereitete Brote beim Sehen der Kindernachrichten im Fernsehen essen, weil ihre Eltern länger als gedacht beim Grundstücksmakler brauchten.
Ich schloss die Bilddatei und drückte Strg und X zum Ausschneiden. Dann wechselte ich vom »2005«- in das vorbereitete Ordnerfenster mit dem Titel »Hintergrundbilder«, drückte Strg und V, machte »Arecibo« zu meinem neuen Desktophintergrund, beförderte den Laptop in den Standby-Modus und blieb noch eine Weile still in meinem Jetzt sitzen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo ThomasBecker, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


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