Zwischenzeit

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fynn

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Heute.
Ja, heute.
Das konnte sie spüren.
Heute wird der Tag sein, an dem sie stirbt. Ein Tag so schön wie jener längst vergangene Tag im Sommer, in dem sie Julius traf.
Die Sonne brachte ihr Haar zum Glänzen, ihre Augen strahlten ähnlich wie der blaue Himmel über ihnen und das Lachen übertönte das Rauschen des Meeres. Ein Tag, wie er nicht wiederkommt. Ein Tag, der auch nach 85 Jahren so voll lebendiger Erinnerung ist, das sie jetzt vor der Haustür steht und die Bäume sich zuwispern: schaut wie glücklich sie ist.

Der Morgen ist kühl und klar. Kein Wind lässt die Zweige der großen Ulmen schwanken. Noch einmal setzt sie sich auf die Treppenstufen ihres kleinen Häuschens, noch einmal sitzt sie da und wartet.
Es fühlt sich so gut an.
So ganz und gar zufrieden.
Ja, heute wird sie sterben.

Ihre Gedanken wandern zurück in jenen Sommer als das Meer rauschte, die Sonne glänzte und der Himmel strahlte.
Sie saß genau wie heute auf den Stufen des Hauses und hörte den Bäumen zu.
Nur ein sanftes Geräusch knirschenden Sandes durchbrach die vormittägliche Stille. Ein Mann näherte sich langsam und sehr bedächtig auf dem Weg und sah mit seinen Augen irgendwo an einen Punkt in der Ferne.
Erst als er vor ihr stand, senkte er seinen Kopf und schaute sie mit einem Blick an, der bis tief in ihr Innerstes zu schauen schien.
Seine Augen leuchteten so grün, wie die letzten Frühlingsblätter über ihr in den Zweigen der riesigen Ulmen.
„Haben Sie etwas Wasser für mich?“
Haben Sie etwas Wasser für mich, fragte er damals. Und dann immer wieder. Niemals wollte er etwas anderes als Wasser.
Selbst als er schon lange krank oben in seinem Zimmer lag und sie täglich die vielen Stufen hinaufstieg, um ihm vorzulesen oder gemeinsam mit ihm aus dem Fenster zu schauen, wollte er nie etwas anderes als Wasser.
Nie beklagte er sich, interessierte sich für ihr Leid und ihre Bedürfnisse, als wäre es das Wichtigste, das es ihr gut ginge.
Für ihn war es das Wichtigste.
Denn sie würde ohne ihn weiterleben müssen, das wusste er.
Weiterleben bis heute.

Es waren noch ein paar schöne Sommer, seit dem Tag im Herbst als Julius starb. Ganz leise schlich er sich aus ihrem Leben in dem Wissen, das sie das könnte. Noch ein paar schöne Sommer haben, bis auch ihr Körper schwach genug wäre, um dem Leben mit all seinen Härten und Schwierigkeiten weiterhin standzuhalten.
Sie lachte noch viel mit ihren Kindern, die mit den Jahren Julius immer ähnlicher wurden. Sie saß noch oft unter den mächtigen Ulmen und ließ sich von ihrem Gewisper zu einem kleinen Nickerchen überreden, so wie einst mit ihrem Mann auch.

Sie konnte das, weil sie wusste, eines Tages werde ich wieder in seine leuchtend grünen Augen blicken und er wird mich fragen: „Hast du etwas Wasser für mich?“ Denn sein Hals wird schon ganz trocken sein, vom Warten.
Und vom Ausschau halten.

Heute ist es soweit. Sie träumt davon, wie sie den Sand unter ihren Füßen spürt, wie er knirscht. Und sie geht langsam den Weg entlang, schaut auf einen Punkt in der Ferne.
Irgendwo, sie weiß nicht wohin.
Sie weiß nur: es wird morgen sein.
 



 
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