Zwischenzeit
Du sitzt in der Rettungsstelle und siehst das Profil eines Mannes. Er hat eine Stupsnase, gerötetes Gesicht, blaue Augen mit schwarzen Stecknadelpupillen, bohrend. Längliche, schmale Ohren, der Knorpel, die Rundung: dick, rot. Er ähnelt jemandem, den du kennst. Mundwinkel runtergezogen, wenig Kinn. Irgendwo in dir blinkt ein Lämpchen. Déja-vu! Déja-vu!
Vermutlich sollte man nie mit Fremden Kontakt aufnehmen. Immer schön im eigenen Leben bleiben, im eigenen Glück, eigenen Schmerz.
Du siehst ihn an. Braune Haare, die ergrauen. Wangenknochen niedrig wie bei Micky Maus. Ein fröhliches Gesicht ernst. Du siehst auch andere Leute an, aber dein Blick kehrt immer wieder zu ihm zurück. Dir fällt ein, an wen er dich erinnert. Aber es hilft dir nicht. Du kannst ihn ja nicht fragen.
Du beschließt zu warten, bis er zu dir rüber kuckt, und dann zu fragen. Du räusperst dich. Du kippelst mit dem Stuhl. Er kuckt.
«Ja», sagt er trocken, «ich bin der Vater von A.» Du hast ihn gefragt, ob er eine A. kennt, Mitte zwanzig so wie du. Er scheint an keinem Gespräch interessiert zu sein und schaut wieder nach vorn. Du lässt nicht locker.
«Ich hab sie lange nicht gesehen. Wie gehts ihr?»
Er musterte dich mit den irgendwie schönen stechenden Augen.
«Sie hatte einen Motorradunfall, wollte einen Lastwagen überholen. Er hat sie nicht gesehen.»
Vor deinen Augen spielen sich grässliche Bilder ab, die du aber sofort verdrängst. A.s Vater strahlt Ruhe aus. Es kann so schlimm nicht sein.
«Haben Sie mit ihr geredet.» Du willst mehr wissen, ohne direkt zu fragen.
«Nein. Sie haben mich angerufen ... Du kannst ruhig du zu mir sagen. Wir sind ja irgendwo Schicksalsgenossen, nicht wahr?» Er lacht und sieht sich um, ob nicht noch jemand im Raum mitlachen will.
«Können Sie mir 40 Cent für einen Cappuccino leihen?»
Er lehnt sich zurück, schaut in die Luft, während er in seiner Hosentasche kramt. Dann wirft er die Münzen auf den Tisch, als spieltet ihr Poker.
Als du dich wieder, deinen Becher balancierend, hinsetzt, hat er sich von dir abgewandt. Sein Kopf lagert auf der Faust, der Ellenbogen auf der Ecke des Tisches. Er massiert sich die Schläfen, einhändig.
«Weswegen bist denn du hier?»
«Eine Freundin ist schwanger. - Aber es gab Komplikationen», fügst du hinzu. Du möchtest noch mehr hinzufügen. Du wartest wahrscheinlich gar nicht am richtigen Ort. In die Notaufnahme hast du sie gebracht, weil es ein Notfall war. Dann haben sie sie mitgenommen. Du hoffst, es wird sich jemand an dich erinnern und dich holen. Du möchtest nicht gleich einen dieser vielbeschäftigten Ärzte nerven.
Schweigen.
«Es ist nicht mein Kind», sagst du.
«Herzlichen Glückwunsch», sagt er. Du bist verdutzt. Ein Warum? verfängt sich zwischen deinen Lippen.
Da lacht er, lacht die Decke an. Es war nur ein Witz.
«Ich gebe Ihnen das Geld wieder. Ich gebs A.» sagst du, lächelst.
Er sieht dich an und sieht weg. Er hat die Augen geschlossen, die Hand massiert wieder die Schläfen. «Eigentlich darf ich keinen Kaffee trinken.»
Er steht auf und greift in die Hosentasche. Du springst auf. Du willst ihm den Kaffee holen. Er nimmt an, legt ein paar Münzen in meine Hand und sagt: «Schwarz.»
Das irritiert dich, doch weiß er gar nicht, dass dein Nachname Schwarz ist. Wie du die Münzen in den Automaten zählst, wünschst du dir, du hättest A. näher gekannt. Du hättest gern gesagt: «A. war für mich immer die Person mit der größten Fürsorge für andere Menschen. Wie sie damals ins Altersheim gegangen ist, um alten Leuten auf ihrer Blockflöte vorzuspielen ...» Oder: «A. hat mal zu mir gemeint, es wäre schön, wenn es weniger Kriege gäbe. Dann gäbe es weniger Tote. Das hat mich sehr beeindruckt.»
Irgendsowas hättest du sagen sollen. Aber du wusstest rein gar nichts von ihr und wolltest nichts erfinden. Ihr seid jahrelang in dieselbe Klasse gegangen. Alles was du von ihr weißt ist, dass sie früher die Kelly Family verehrte.
Du hasstest die Kelly Family. Alle Mitglieder hatten Schweinsnasen und verdienten viel zu viel Geld. Sie waren eine irische Musikmafia, die sich durch Inzest vermehrte und von ihren Opfern Geld erpresste, indem sie sie zu willenlosen Feuerzeugschwenkern ummodelte, die sich selbst hypnotisierten und dann die CDs der «Familie» kaufen gingen.
Dü-di-dit! Ein junger Mann transportiert einen Kaffee zu einem Tisch. Dü-di-dit! Behutsam wie ein erfahrener Kranführer senkt er die Fracht auf die Ladefläche des Tisches. Dü-di-dit! Hektisch reißt er sein Handy aus der Tasche, drückt - sieht - verarbeitet - wird bleich. Die Augen sind weit geöffnet, in seinem Gesicht steht ein mittleres Entsetzen. Er saugt Luft ein und hält sie. Drei lange Sekunden lang. Der Mund bleibt auch offen ... So ungefähr muss es ausgesehen haben.
«Meine Freundin hat mich verlassen», die Worte klingen alarmierend.
A.s Vater nickt langsam. «Vor einem Jahr ist meine Frau gestorben», erwidert er. Du starrst ihn verständnislos an. Dein Mund ist immer noch auf. Du steckst zu sehr in deinem eigenen Unglück, um Mitleid zu empfinden und zu äußern. Der junge Mann fällt auf einen Stuhl und starrt vor sich hin. Er scheint den Tisch niederstarren zu wollen. «Ob es hier irgendwo was zu trinken gibt?»
A.s Vater zuckt die Schultern. Er sieht aus, als würde er einen Wodka mittrinken.
«Ich bin gleich wieder da», sagst du als würdest du sagen: «Halten Sie aus, ich hol Hilfe!» Du bist entschlossen. Du hast eine Aufgabe.
Du gehst durch die Glastür nach draußen, wo kühle, klare Nacht wartet. Nach ein paar Metern zielstrebiger Bewegung bleibst du stehen. Wohin gehst du eigentlich?
Ein Bus kommt die Straße herunter. Es ist für dich das Signal, zur Haltestelle zu rennen, dem Glaskasten, der fünfzig Meter vor dir glimmt wie eine Verheißung. Aber du rennst nicht, um den Bus zu kriegen, sondern um dein Leben, um dein sinnerfülltes Leben. Nicht nur dass es ein Gefühl von Stärke ist, als du schnaubend und keuchend dem Fahrer deine Monatskarte zeigst. Irgendwo entfernt spürst du, dass du verzweifeln könntest, wenn du jetzt an einer Haltestelle wartest oder auf gut Glück nach einem Imbiss suchst. Du denkst an den Wodka und daran, ihn zu trinken, mit A.s Vater. Der Bus wird dich in eine Straße mit Leuchtreklame bringen, und du wirst wissen: hier steigst du aus, hier wirst du fündig.
Der Bus bringt dich in den Wedding. Eine vor Endstation steigst du aus und wendest dich stracks Richtung Mauerpark, Prenzlauer Berg, weithin sichtbar wegen der vier Flutlichter des Max-Schmeling-Stadions, die aussehen wie gigantische Zahnbürsten. Du eilst. Du willst unverletzt ins Krankenhaus zurückkehren und keinesfalls, bevor du eine Flasche Wodka intus hast. Die Straßen sind leer. Häuser und die Autos davor schlafen. Du denkst, es liegt am Bezirk, aber als du in den Mauerpark kommst, ist der auch leer.
Schlendernd gehst du die Straße entlang, die hindurch führt. Wo sind alle? Links der Hang, die Steinränge des Freilichttheaters: leer. Rechts auf der Wiese läuft jemand. Du siehst es erst beim zweiten Hinsehen. Der Jemand schlendert genauso wie du und du glaubst, er hält eine Hundeleine zusammengelegt in der Hand. Einen Hund siehst du nicht. Dann ist der Jemand weg. Du betrittst die Wiese, und da ist Feuer etwas weiter in Wegrichtigung. Das Feuer wirkt anziehend. Die Menschen wirken anziehend. Es sind Jongleure. Im Hintergrund ragen Mietskasernen und Scheinwerferkegel durchstöbern graue Wolkenberge. Und der Fernsehturm erscheint, verschwindet, erscheint ... in blauem Licht. Die Stäbe der Jongleure zeichnen Feuerkreise in die Luft. Sie sind zu zweit, einer lässt einen brennenden Stab rotieren, der andere gleich zwei. Die Stäbe rasen. Es faucht und summt. Erst von nahem kannst du unterscheiden, dass die Stäbe an beiden Enden brennen. Die Männer sind hochkonzentriert oder in Trance. Eine mittelgroße Gruppe Männer, Frauen und Kinder sitzt anbei und unterhält sich raunend. Alle sehen aus wie Hippies, aus Kalifornien eingeflogen. Oder mit der Zeitmaschine hergeschafft. Die Stäbe des Jonglierers, die ineinander greifen wie Zahnräder: so stellst du dir die Zeitmaschine vor. Die Flakscheinwerfer am Himmel sind der Zweite Weltkrieg und der blinkende Fernsehturm ein Gruß aus der Zukunft. Dieser Abend hat etwas zu bedeuten.
In der Oderberger Straße langweilen sich Bars ohne Gäste. Es ist doch Sonnabend. Kursiert eine Grippe? Der Inder oder Indonesier im Spätverkauf sieht gesund aus. Er grinst überfreundlich und wünscht dir einen schönen Abend, während du den Borisov Wodka in deine Umhängetasche steckst, wo nun endlich etwas drin ist. Du fühlst, dieser Abend wird ein erfülltes Ende nehmen. Du wirst lernen, dass dein Liebeskummer lächerlich ist verglichen mit A.s Unfalls (von dem sie wieder genesen wird!) und angesichts des neuen Lebens, das heute noch auf die Welt kommen wird oder schon da ist. Du wirst das Baby im Arm halten und A.s Vater und wirst weinen vor Glück.
J. hat dich verlassen. Per SMS. Wahrscheinlich bist du unmodern. A.s Vater ist bestimmt auch unmodern. Er wird dich verstehn. Ihr seid irgendwo Schicksalsgenossen. Hat er gesagt.
Du machst dich auf den Rückweg. Wieder durch den Mauerpark. Die Feuerkünstler und ihr Kreis sind verschwunden. So plötzlich wie J. verschwunden war. Vermutlich hat ihnen irgendwer eine SMS geschickt. So schnell geht das. Du machst einen Abstecher auf die Wiese. Es muss Spuren geben. Hatten sie nicht ein Lagerfeuer? Du suchst nur kurz, musst zurück zu A.s Vater, ehe der auch weg ist. Warum bist du überhaupt Wodka kaufen gegangen? Du klemmst dir deine Wodkatasche unter den Arm und beginnst zu laufen. Von außen solltest du wie ein Handtaschenräuber aussehen. Aber niemand sieht dich. Vielleicht ist das alles nicht wahr.
Du sitzt in der Rettungsstelle und siehst das Profil eines Mannes. Er hat eine Stupsnase, gerötetes Gesicht, blaue Augen mit schwarzen Stecknadelpupillen, bohrend. Längliche, schmale Ohren, der Knorpel, die Rundung: dick, rot. Er ähnelt jemandem, den du kennst. Mundwinkel runtergezogen, wenig Kinn. Irgendwo in dir blinkt ein Lämpchen. Déja-vu! Déja-vu!
Vermutlich sollte man nie mit Fremden Kontakt aufnehmen. Immer schön im eigenen Leben bleiben, im eigenen Glück, eigenen Schmerz.
Du siehst ihn an. Braune Haare, die ergrauen. Wangenknochen niedrig wie bei Micky Maus. Ein fröhliches Gesicht ernst. Du siehst auch andere Leute an, aber dein Blick kehrt immer wieder zu ihm zurück. Dir fällt ein, an wen er dich erinnert. Aber es hilft dir nicht. Du kannst ihn ja nicht fragen.
Du beschließt zu warten, bis er zu dir rüber kuckt, und dann zu fragen. Du räusperst dich. Du kippelst mit dem Stuhl. Er kuckt.
«Ja», sagt er trocken, «ich bin der Vater von A.» Du hast ihn gefragt, ob er eine A. kennt, Mitte zwanzig so wie du. Er scheint an keinem Gespräch interessiert zu sein und schaut wieder nach vorn. Du lässt nicht locker.
«Ich hab sie lange nicht gesehen. Wie gehts ihr?»
Er musterte dich mit den irgendwie schönen stechenden Augen.
«Sie hatte einen Motorradunfall, wollte einen Lastwagen überholen. Er hat sie nicht gesehen.»
Vor deinen Augen spielen sich grässliche Bilder ab, die du aber sofort verdrängst. A.s Vater strahlt Ruhe aus. Es kann so schlimm nicht sein.
«Haben Sie mit ihr geredet.» Du willst mehr wissen, ohne direkt zu fragen.
«Nein. Sie haben mich angerufen ... Du kannst ruhig du zu mir sagen. Wir sind ja irgendwo Schicksalsgenossen, nicht wahr?» Er lacht und sieht sich um, ob nicht noch jemand im Raum mitlachen will.
«Können Sie mir 40 Cent für einen Cappuccino leihen?»
Er lehnt sich zurück, schaut in die Luft, während er in seiner Hosentasche kramt. Dann wirft er die Münzen auf den Tisch, als spieltet ihr Poker.
Als du dich wieder, deinen Becher balancierend, hinsetzt, hat er sich von dir abgewandt. Sein Kopf lagert auf der Faust, der Ellenbogen auf der Ecke des Tisches. Er massiert sich die Schläfen, einhändig.
«Weswegen bist denn du hier?»
«Eine Freundin ist schwanger. - Aber es gab Komplikationen», fügst du hinzu. Du möchtest noch mehr hinzufügen. Du wartest wahrscheinlich gar nicht am richtigen Ort. In die Notaufnahme hast du sie gebracht, weil es ein Notfall war. Dann haben sie sie mitgenommen. Du hoffst, es wird sich jemand an dich erinnern und dich holen. Du möchtest nicht gleich einen dieser vielbeschäftigten Ärzte nerven.
Schweigen.
«Es ist nicht mein Kind», sagst du.
«Herzlichen Glückwunsch», sagt er. Du bist verdutzt. Ein Warum? verfängt sich zwischen deinen Lippen.
Da lacht er, lacht die Decke an. Es war nur ein Witz.
«Ich gebe Ihnen das Geld wieder. Ich gebs A.» sagst du, lächelst.
Er sieht dich an und sieht weg. Er hat die Augen geschlossen, die Hand massiert wieder die Schläfen. «Eigentlich darf ich keinen Kaffee trinken.»
Er steht auf und greift in die Hosentasche. Du springst auf. Du willst ihm den Kaffee holen. Er nimmt an, legt ein paar Münzen in meine Hand und sagt: «Schwarz.»
Das irritiert dich, doch weiß er gar nicht, dass dein Nachname Schwarz ist. Wie du die Münzen in den Automaten zählst, wünschst du dir, du hättest A. näher gekannt. Du hättest gern gesagt: «A. war für mich immer die Person mit der größten Fürsorge für andere Menschen. Wie sie damals ins Altersheim gegangen ist, um alten Leuten auf ihrer Blockflöte vorzuspielen ...» Oder: «A. hat mal zu mir gemeint, es wäre schön, wenn es weniger Kriege gäbe. Dann gäbe es weniger Tote. Das hat mich sehr beeindruckt.»
Irgendsowas hättest du sagen sollen. Aber du wusstest rein gar nichts von ihr und wolltest nichts erfinden. Ihr seid jahrelang in dieselbe Klasse gegangen. Alles was du von ihr weißt ist, dass sie früher die Kelly Family verehrte.
Du hasstest die Kelly Family. Alle Mitglieder hatten Schweinsnasen und verdienten viel zu viel Geld. Sie waren eine irische Musikmafia, die sich durch Inzest vermehrte und von ihren Opfern Geld erpresste, indem sie sie zu willenlosen Feuerzeugschwenkern ummodelte, die sich selbst hypnotisierten und dann die CDs der «Familie» kaufen gingen.
Dü-di-dit! Ein junger Mann transportiert einen Kaffee zu einem Tisch. Dü-di-dit! Behutsam wie ein erfahrener Kranführer senkt er die Fracht auf die Ladefläche des Tisches. Dü-di-dit! Hektisch reißt er sein Handy aus der Tasche, drückt - sieht - verarbeitet - wird bleich. Die Augen sind weit geöffnet, in seinem Gesicht steht ein mittleres Entsetzen. Er saugt Luft ein und hält sie. Drei lange Sekunden lang. Der Mund bleibt auch offen ... So ungefähr muss es ausgesehen haben.
«Meine Freundin hat mich verlassen», die Worte klingen alarmierend.
A.s Vater nickt langsam. «Vor einem Jahr ist meine Frau gestorben», erwidert er. Du starrst ihn verständnislos an. Dein Mund ist immer noch auf. Du steckst zu sehr in deinem eigenen Unglück, um Mitleid zu empfinden und zu äußern. Der junge Mann fällt auf einen Stuhl und starrt vor sich hin. Er scheint den Tisch niederstarren zu wollen. «Ob es hier irgendwo was zu trinken gibt?»
A.s Vater zuckt die Schultern. Er sieht aus, als würde er einen Wodka mittrinken.
«Ich bin gleich wieder da», sagst du als würdest du sagen: «Halten Sie aus, ich hol Hilfe!» Du bist entschlossen. Du hast eine Aufgabe.
Du gehst durch die Glastür nach draußen, wo kühle, klare Nacht wartet. Nach ein paar Metern zielstrebiger Bewegung bleibst du stehen. Wohin gehst du eigentlich?
Ein Bus kommt die Straße herunter. Es ist für dich das Signal, zur Haltestelle zu rennen, dem Glaskasten, der fünfzig Meter vor dir glimmt wie eine Verheißung. Aber du rennst nicht, um den Bus zu kriegen, sondern um dein Leben, um dein sinnerfülltes Leben. Nicht nur dass es ein Gefühl von Stärke ist, als du schnaubend und keuchend dem Fahrer deine Monatskarte zeigst. Irgendwo entfernt spürst du, dass du verzweifeln könntest, wenn du jetzt an einer Haltestelle wartest oder auf gut Glück nach einem Imbiss suchst. Du denkst an den Wodka und daran, ihn zu trinken, mit A.s Vater. Der Bus wird dich in eine Straße mit Leuchtreklame bringen, und du wirst wissen: hier steigst du aus, hier wirst du fündig.
Der Bus bringt dich in den Wedding. Eine vor Endstation steigst du aus und wendest dich stracks Richtung Mauerpark, Prenzlauer Berg, weithin sichtbar wegen der vier Flutlichter des Max-Schmeling-Stadions, die aussehen wie gigantische Zahnbürsten. Du eilst. Du willst unverletzt ins Krankenhaus zurückkehren und keinesfalls, bevor du eine Flasche Wodka intus hast. Die Straßen sind leer. Häuser und die Autos davor schlafen. Du denkst, es liegt am Bezirk, aber als du in den Mauerpark kommst, ist der auch leer.
Schlendernd gehst du die Straße entlang, die hindurch führt. Wo sind alle? Links der Hang, die Steinränge des Freilichttheaters: leer. Rechts auf der Wiese läuft jemand. Du siehst es erst beim zweiten Hinsehen. Der Jemand schlendert genauso wie du und du glaubst, er hält eine Hundeleine zusammengelegt in der Hand. Einen Hund siehst du nicht. Dann ist der Jemand weg. Du betrittst die Wiese, und da ist Feuer etwas weiter in Wegrichtigung. Das Feuer wirkt anziehend. Die Menschen wirken anziehend. Es sind Jongleure. Im Hintergrund ragen Mietskasernen und Scheinwerferkegel durchstöbern graue Wolkenberge. Und der Fernsehturm erscheint, verschwindet, erscheint ... in blauem Licht. Die Stäbe der Jongleure zeichnen Feuerkreise in die Luft. Sie sind zu zweit, einer lässt einen brennenden Stab rotieren, der andere gleich zwei. Die Stäbe rasen. Es faucht und summt. Erst von nahem kannst du unterscheiden, dass die Stäbe an beiden Enden brennen. Die Männer sind hochkonzentriert oder in Trance. Eine mittelgroße Gruppe Männer, Frauen und Kinder sitzt anbei und unterhält sich raunend. Alle sehen aus wie Hippies, aus Kalifornien eingeflogen. Oder mit der Zeitmaschine hergeschafft. Die Stäbe des Jonglierers, die ineinander greifen wie Zahnräder: so stellst du dir die Zeitmaschine vor. Die Flakscheinwerfer am Himmel sind der Zweite Weltkrieg und der blinkende Fernsehturm ein Gruß aus der Zukunft. Dieser Abend hat etwas zu bedeuten.
In der Oderberger Straße langweilen sich Bars ohne Gäste. Es ist doch Sonnabend. Kursiert eine Grippe? Der Inder oder Indonesier im Spätverkauf sieht gesund aus. Er grinst überfreundlich und wünscht dir einen schönen Abend, während du den Borisov Wodka in deine Umhängetasche steckst, wo nun endlich etwas drin ist. Du fühlst, dieser Abend wird ein erfülltes Ende nehmen. Du wirst lernen, dass dein Liebeskummer lächerlich ist verglichen mit A.s Unfalls (von dem sie wieder genesen wird!) und angesichts des neuen Lebens, das heute noch auf die Welt kommen wird oder schon da ist. Du wirst das Baby im Arm halten und A.s Vater und wirst weinen vor Glück.
J. hat dich verlassen. Per SMS. Wahrscheinlich bist du unmodern. A.s Vater ist bestimmt auch unmodern. Er wird dich verstehn. Ihr seid irgendwo Schicksalsgenossen. Hat er gesagt.
Du machst dich auf den Rückweg. Wieder durch den Mauerpark. Die Feuerkünstler und ihr Kreis sind verschwunden. So plötzlich wie J. verschwunden war. Vermutlich hat ihnen irgendwer eine SMS geschickt. So schnell geht das. Du machst einen Abstecher auf die Wiese. Es muss Spuren geben. Hatten sie nicht ein Lagerfeuer? Du suchst nur kurz, musst zurück zu A.s Vater, ehe der auch weg ist. Warum bist du überhaupt Wodka kaufen gegangen? Du klemmst dir deine Wodkatasche unter den Arm und beginnst zu laufen. Von außen solltest du wie ein Handtaschenräuber aussehen. Aber niemand sieht dich. Vielleicht ist das alles nicht wahr.