Zwischenzeit

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jimKaktus

Mitglied
Zwischenzeit


Du sitzt in der Rettungsstelle und siehst das Profil eines Mannes. Er hat eine Stupsnase, gerötetes Gesicht, blaue Augen mit schwarzen Stecknadelpupillen, bohrend. Längliche, schmale Ohren, der Knorpel, die Rundung: dick, rot. Er ähnelt jemandem, den du kennst. Mundwinkel runtergezogen, wenig Kinn. Irgendwo in dir blinkt ein Lämpchen. Déja-vu! Déja-vu!

Vermutlich sollte man nie mit Fremden Kontakt aufnehmen. Immer schön im eigenen Leben bleiben, im eigenen Glück, eigenen Schmerz.

Du siehst ihn an. Braune Haare, die ergrauen. Wangenknochen niedrig wie bei Micky Maus. Ein fröhliches Gesicht ernst. Du siehst auch andere Leute an, aber dein Blick kehrt immer wieder zu ihm zurück. Dir fällt ein, an wen er dich erinnert. Aber es hilft dir nicht. Du kannst ihn ja nicht fragen.

Du beschließt zu warten, bis er zu dir rüber kuckt, und dann zu fragen. Du räusperst dich. Du kippelst mit dem Stuhl. Er kuckt.

«Ja», sagt er trocken, «ich bin der Vater von A.» Du hast ihn gefragt, ob er eine A. kennt, Mitte zwanzig so wie du. Er scheint an keinem Gespräch interessiert zu sein und schaut wieder nach vorn. Du lässt nicht locker.

«Ich hab sie lange nicht gesehen. Wie gehts ihr?»

Er musterte dich mit den irgendwie schönen stechenden Augen.

«Sie hatte einen Motorradunfall, wollte einen Lastwagen überholen. Er hat sie nicht gesehen.»

Vor deinen Augen spielen sich grässliche Bilder ab, die du aber sofort verdrängst. A.s Vater strahlt Ruhe aus. Es kann so schlimm nicht sein.

«Haben Sie mit ihr geredet.» Du willst mehr wissen, ohne direkt zu fragen.

«Nein. Sie haben mich angerufen ... Du kannst ruhig du zu mir sagen. Wir sind ja irgendwo Schicksalsgenossen, nicht wahr?» Er lacht und sieht sich um, ob nicht noch jemand im Raum mitlachen will.

«Können Sie mir 40 Cent für einen Cappuccino leihen?»

Er lehnt sich zurück, schaut in die Luft, während er in seiner Hosentasche kramt. Dann wirft er die Münzen auf den Tisch, als spieltet ihr Poker.

Als du dich wieder, deinen Becher balancierend, hinsetzt, hat er sich von dir abgewandt. Sein Kopf lagert auf der Faust, der Ellenbogen auf der Ecke des Tisches. Er massiert sich die Schläfen, einhändig.

«Weswegen bist denn du hier?»

«Eine Freundin ist schwanger. - Aber es gab Komplikationen», fügst du hinzu. Du möchtest noch mehr hinzufügen. Du wartest wahrscheinlich gar nicht am richtigen Ort. In die Notaufnahme hast du sie gebracht, weil es ein Notfall war. Dann haben sie sie mitgenommen. Du hoffst, es wird sich jemand an dich erinnern und dich holen. Du möchtest nicht gleich einen dieser vielbeschäftigten Ärzte nerven.

Schweigen.

«Es ist nicht mein Kind», sagst du.

«Herzlichen Glückwunsch», sagt er. Du bist verdutzt. Ein Warum? verfängt sich zwischen deinen Lippen.

Da lacht er, lacht die Decke an. Es war nur ein Witz.

«Ich gebe Ihnen das Geld wieder. Ich gebs A.» sagst du, lächelst.

Er sieht dich an und sieht weg. Er hat die Augen geschlossen, die Hand massiert wieder die Schläfen. «Eigentlich darf ich keinen Kaffee trinken.»

Er steht auf und greift in die Hosentasche. Du springst auf. Du willst ihm den Kaffee holen. Er nimmt an, legt ein paar Münzen in meine Hand und sagt: «Schwarz.»

Das irritiert dich, doch weiß er gar nicht, dass dein Nachname Schwarz ist. Wie du die Münzen in den Automaten zählst, wünschst du dir, du hättest A. näher gekannt. Du hättest gern gesagt: «A. war für mich immer die Person mit der größten Fürsorge für andere Menschen. Wie sie damals ins Altersheim gegangen ist, um alten Leuten auf ihrer Blockflöte vorzuspielen ...» Oder: «A. hat mal zu mir gemeint, es wäre schön, wenn es weniger Kriege gäbe. Dann gäbe es weniger Tote. Das hat mich sehr beeindruckt.»

Irgendsowas hättest du sagen sollen. Aber du wusstest rein gar nichts von ihr und wolltest nichts erfinden. Ihr seid jahrelang in dieselbe Klasse gegangen. Alles was du von ihr weißt ist, dass sie früher die Kelly Family verehrte.

Du hasstest die Kelly Family. Alle Mitglieder hatten Schweinsnasen und verdienten viel zu viel Geld. Sie waren eine irische Musikmafia, die sich durch Inzest vermehrte und von ihren Opfern Geld erpresste, indem sie sie zu willenlosen Feuerzeugschwenkern ummodelte, die sich selbst hypnotisierten und dann die CDs der «Familie» kaufen gingen.

Dü-di-dit! Ein junger Mann transportiert einen Kaffee zu einem Tisch. Dü-di-dit! Behutsam wie ein erfahrener Kranführer senkt er die Fracht auf die Ladefläche des Tisches. Dü-di-dit! Hektisch reißt er sein Handy aus der Tasche, drückt - sieht - verarbeitet - wird bleich. Die Augen sind weit geöffnet, in seinem Gesicht steht ein mittleres Entsetzen. Er saugt Luft ein und hält sie. Drei lange Sekunden lang. Der Mund bleibt auch offen ... So ungefähr muss es ausgesehen haben.

«Meine Freundin hat mich verlassen», die Worte klingen alarmierend.

A.s Vater nickt langsam. «Vor einem Jahr ist meine Frau gestorben», erwidert er. Du starrst ihn verständnislos an. Dein Mund ist immer noch auf. Du steckst zu sehr in deinem eigenen Unglück, um Mitleid zu empfinden und zu äußern. Der junge Mann fällt auf einen Stuhl und starrt vor sich hin. Er scheint den Tisch niederstarren zu wollen. «Ob es hier irgendwo was zu trinken gibt?»

A.s Vater zuckt die Schultern. Er sieht aus, als würde er einen Wodka mittrinken.

«Ich bin gleich wieder da», sagst du als würdest du sagen: «Halten Sie aus, ich hol Hilfe!» Du bist entschlossen. Du hast eine Aufgabe.


Du gehst durch die Glastür nach draußen, wo kühle, klare Nacht wartet. Nach ein paar Metern zielstrebiger Bewegung bleibst du stehen. Wohin gehst du eigentlich?

Ein Bus kommt die Straße herunter. Es ist für dich das Signal, zur Haltestelle zu rennen, dem Glaskasten, der fünfzig Meter vor dir glimmt wie eine Verheißung. Aber du rennst nicht, um den Bus zu kriegen, sondern um dein Leben, um dein sinnerfülltes Leben. Nicht nur dass es ein Gefühl von Stärke ist, als du schnaubend und keuchend dem Fahrer deine Monatskarte zeigst. Irgendwo entfernt spürst du, dass du verzweifeln könntest, wenn du jetzt an einer Haltestelle wartest oder auf gut Glück nach einem Imbiss suchst. Du denkst an den Wodka und daran, ihn zu trinken, mit A.s Vater. Der Bus wird dich in eine Straße mit Leuchtreklame bringen, und du wirst wissen: hier steigst du aus, hier wirst du fündig.

Der Bus bringt dich in den Wedding. Eine vor Endstation steigst du aus und wendest dich stracks Richtung Mauerpark, Prenzlauer Berg, weithin sichtbar wegen der vier Flutlichter des Max-Schmeling-Stadions, die aussehen wie gigantische Zahnbürsten. Du eilst. Du willst unverletzt ins Krankenhaus zurückkehren und keinesfalls, bevor du eine Flasche Wodka intus hast. Die Straßen sind leer. Häuser und die Autos davor schlafen. Du denkst, es liegt am Bezirk, aber als du in den Mauerpark kommst, ist der auch leer.

Schlendernd gehst du die Straße entlang, die hindurch führt. Wo sind alle? Links der Hang, die Steinränge des Freilichttheaters: leer. Rechts auf der Wiese läuft jemand. Du siehst es erst beim zweiten Hinsehen. Der Jemand schlendert genauso wie du und du glaubst, er hält eine Hundeleine zusammengelegt in der Hand. Einen Hund siehst du nicht. Dann ist der Jemand weg. Du betrittst die Wiese, und da ist Feuer etwas weiter in Wegrichtigung. Das Feuer wirkt anziehend. Die Menschen wirken anziehend. Es sind Jongleure. Im Hintergrund ragen Mietskasernen und Scheinwerferkegel durchstöbern graue Wolkenberge. Und der Fernsehturm erscheint, verschwindet, erscheint ... in blauem Licht. Die Stäbe der Jongleure zeichnen Feuerkreise in die Luft. Sie sind zu zweit, einer lässt einen brennenden Stab rotieren, der andere gleich zwei. Die Stäbe rasen. Es faucht und summt. Erst von nahem kannst du unterscheiden, dass die Stäbe an beiden Enden brennen. Die Männer sind hochkonzentriert oder in Trance. Eine mittelgroße Gruppe Männer, Frauen und Kinder sitzt anbei und unterhält sich raunend. Alle sehen aus wie Hippies, aus Kalifornien eingeflogen. Oder mit der Zeitmaschine hergeschafft. Die Stäbe des Jonglierers, die ineinander greifen wie Zahnräder: so stellst du dir die Zeitmaschine vor. Die Flakscheinwerfer am Himmel sind der Zweite Weltkrieg und der blinkende Fernsehturm ein Gruß aus der Zukunft. Dieser Abend hat etwas zu bedeuten.

In der Oderberger Straße langweilen sich Bars ohne Gäste. Es ist doch Sonnabend. Kursiert eine Grippe? Der Inder oder Indonesier im Spätverkauf sieht gesund aus. Er grinst überfreundlich und wünscht dir einen schönen Abend, während du den Borisov Wodka in deine Umhängetasche steckst, wo nun endlich etwas drin ist. Du fühlst, dieser Abend wird ein erfülltes Ende nehmen. Du wirst lernen, dass dein Liebeskummer lächerlich ist verglichen mit A.s Unfalls (von dem sie wieder genesen wird!) und angesichts des neuen Lebens, das heute noch auf die Welt kommen wird oder schon da ist. Du wirst das Baby im Arm halten und A.s Vater und wirst weinen vor Glück.

J. hat dich verlassen. Per SMS. Wahrscheinlich bist du unmodern. A.s Vater ist bestimmt auch unmodern. Er wird dich verstehn. Ihr seid irgendwo Schicksalsgenossen. Hat er gesagt.

Du machst dich auf den Rückweg. Wieder durch den Mauerpark. Die Feuerkünstler und ihr Kreis sind verschwunden. So plötzlich wie J. verschwunden war. Vermutlich hat ihnen irgendwer eine SMS geschickt. So schnell geht das. Du machst einen Abstecher auf die Wiese. Es muss Spuren geben. Hatten sie nicht ein Lagerfeuer? Du suchst nur kurz, musst zurück zu A.s Vater, ehe der auch weg ist. Warum bist du überhaupt Wodka kaufen gegangen? Du klemmst dir deine Wodkatasche unter den Arm und beginnst zu laufen. Von außen solltest du wie ein Handtaschenräuber aussehen. Aber niemand sieht dich. Vielleicht ist das alles nicht wahr.
 

Bonnie Darko

Mitglied
Ja, sieht so aus, als hättest du deinen ersten Fan, Jim. ;)

Ich konnte mich nach einer Weile gut hineindenken, kam leider zwischendurch ein paarmal raus (am Bildschirm lesen, das alte Problem, ich hätte es mir für abends aufsparen sollen).


Daß die Geschichte ab der zweiten Hälfte (nach der Szene im Krankenhaus) eine andere Richtung einschlägt und dann offen endet, gefällt mir am besten. Zu Beginn dachte ich, es läuft auf irgendeinen 'komischen Zufall' oder eine gewöhnliche Pointe hinaus.

Für mich kommt ein Gefühl der Entfremdung rüber. Etwas Einschneidendes passiert, man läuft los, auf einmal ist man irgendwo gelandet und fragt sich: Was mache ich eigentlich hier? Nicht nur im geographischen Sinne. Alles ist auf einmal fremd und seltsam. Diese Odyssee durchs nächtliche Berlin gefällt mir von der Stimmung her am besten.


Ich muß die Geschichte aber noch mal ausgedruckt lesen, das ist nichts für Zwischendurch.

Gruß,
Bonnie
 
F

filechecker

Gast
Hallo jim,

die Geschichte verwirrt mich. Nicht nur dass du mit den Zeiten durcheinander gekommen zu sein scheinst. Einmal schreibst Du im Präsens, dann wieder im Perfekt.

Der Standort des Erzählers ist nicht eindeutig. Einmal schreibst Du:

[Du sitzt in der Rettungsstelle und siehst das Profil eines Mannes. Er hat eine Stupsnase, gerötetes Gesicht, blaue Augen mit schwarzen Stecknadelpupillen, bohrend. Längliche, schmale Ohren, der Knorpel, die Rundung: dick, rot. Er ähnelt jemandem, den du kennst. Mundwinkel runtergezogen, wenig Kinn. Irgendwo in dir blinkt ein Lämpchen. Déja-vu! Déja-vu!]

Wer soll denn Du sein?
Nach einem Absatz fährst Du dann fort:

[Ich sehe ihn an. Braune Haare, die ergrauen. Wangenknochen niedrig wie bei Mickey Mouse. Ein fröhliches Gesicht ernst. Ich sehe auch andere Leute an, aber mein Blick kehrt immer wieder zu ihm zurück. Mir fällt ein, an wen er mich erinnert. Aber es hilft mir nicht. Ich kann ihn ja nicht fragen]

Hier verwendest Du den "internen Erzähler" (Ich-Erzähler).

Viele Grüße
filechecker
 

GabiSils

Mitglied
Hallo jim, die wechselnden Zeiten und Personen verwirren mich auch; "Du" und "ich" ginge ja noch, dann aber noch "der junge Mann"?
Andererseits sind die Brüche so auffallend, daß ich Absicht vermute - vielleicht steht "ich" so sehr neben sich, als er die SMS erhält; das passiert gar nicht ihm. So etwa?

Warum ist es notwendig, die Vornamen abzukürzen? Soll damit ausgesagt werden, daß die Mädchen in der Geschichte letzten Endes keine Rolle spielen?

Gruß,
Gabi
 

jimKaktus

Mitglied
Hi Bonnie,

wenn ich dich richtig verstehe, dann ist die Geschichte so angekommen wie ich sie abgeschickt hab. Alles ist sehr fremd, ein Erwachen in eine Unwirklichkeit.

Grüße!
Jim

PS: Hab grad noch mal geschraubt, ein paar blöde Worte ausgetauscht.

---

Hallo Filechecker,

ich musste selbst erst mal drüber nachdenken. Es erscheint mir so: bei dem Erzähler handelt es sich um einen Ich-Erzähler mit verschiedenen Perspektiven. Es schaut auch manchmal nur zu. "Du" ist sehr nah dran. Mit "er" betrachtet sich das Ich von außen, schaut seinem eigenen Tun zu, und hat es in dem Moment nicht unter Ich-Kontrolle.

Diese beiden Perspektiven, "du" und "er" sind für mich auch mit einer gewissen Spannung behaftet, während in den Ich-Teilen das Ich Regent seines Tuns ist. Darum ist die "Ich"-Perspektive irgendwie lockerer und sozial näher am Leser dran, weshalb "Ich" wohl auch die Perspektive der Dialoge ist.

Die Zeitformen verwende ich zum Teil ähnlich intuitiv. Denn sie markieren neben der Zeitebenen-Unterscheidung auch verschiedene Grade von Unmittelbarkeit. Welche Zeitebene (und welche Person) im Zweifels-Fall gemeint, ergibt sich (hoffe ich, beim aufmerksamen Lesen) aus dem Zusammenhang.

Gruß,
jim
 

Yamana

Mitglied
hallo jim

meinen vorrednern kann ich mich erstmal anschliessen: diese perspektivwechsel kann ich nicht schlucken, sie fügen sich nicht in den 'klang' den 'ton' der in der geschichte vorherrscht. damit willst du auf eine andere ebene gelangen, willst mehr, als die geschichte hergibt. andererseits passen die abgekürzten frauennamen gut zu diesem ton. den würde ich als 'schlicht' (gar nicht abwertend), 'tagebuchartig' bezeichnen. also das mit der sms nervt mich. entweder ist das eine teenie-haftes 'wir spielen verlieben und entlieben' dann interessiert es (mich) aber nicht als gefühl, oder es ist einfach unglaubwürdig. zum schluss: gut gefällt mir die geradheit deines tons, die klaren beschreibungen.
gruss y.
 

jimKaktus

Mitglied
Hey Y.,

Wahrscheinlich sind die Perspektivenwechsel wirklich zu verwirrend. Ich hab nun mal alles, abgesehen von der SMS-Stelle, in die "Du"-Perspektive verlegt. Die alte Version hänge ich unten an.

Gruß,
jim

PS: Wenn du die SMS mit Teenie-Liebe verbindest, und diese abwertest, dann ist das dein Stereotyp, nicht meins.
 

jimKaktus

Mitglied
Alte Version

Zwischenzeit


Du sitzt in der Rettungsstelle und siehst das Profil eines Mannes. Er hat eine Stupsnase, gerötetes Gesicht, blaue Augen mit schwarzen Stecknadelpupillen, bohrend. Längliche, schmale Ohren, der Knorpel, die Rundung: dick, rot. Er ähnelt jemandem, den du kennst. Mundwinkel runtergezogen, wenig Kinn. Irgendwo in dir blinkt ein Lämpchen. Déja-vu! Déja-vu!

Vermutlich sollte man nie mit Fremden Kontakt aufnehmen. Immer schön im eigenen Leben bleiben, im eigenen Glück, eigenen Schmerz.

Ich sehe ihn an. Braune Haare, die ergrauen. Wangenknochen niedrig wie bei Mickey Mouse. Ein fröhliches Gesicht ernst. Ich sehe auch andere Leute an, aber mein Blick kehrt immer wieder zu ihm zurück. Mir fällt ein, an wen er mich erinnert. Aber es hilft mir nicht. Ich kann ihn ja nicht fragen.

Ich beschließe zu warten, bis er zu mir rüber kuckt, und dann zu fragen. Ich räuspere mich. Ich kipple mit dem Stuhl. Er kuckt.

«Ja», sagt er trocken, «ich bin der Vater von A.» Ich habe ihn gefragt, ob er eine A. kennt, Mitte zwanzig so wie ich. Er schien an einem Gespräch nicht interessiert zu sein und schaute wieder nach vorn. Ich ließ nicht locker.

«Ich hab sie lange nicht gesehen. Wie gehts ihr?»

Er musterte mich mit den irgendwie schönen stechenden Augen.

«Sie hatte einen Motorradunfall, wollte einen Lastwagen überholen. Er hat sie nicht gesehen.»

Vor meinen Augen spielten sich grässliche Bilder ab, die ich aber sofort verdrängte. A.s Vater strahlte Ruhe aus. Es konnte so schlimm nicht sein.

«Haben Sie mit ihr geredet.» Ich wollte mehr wissen, ohne direkt zu fragen.

«Nein. Sie haben mich angerufen ... Du kannst ruhig du zu mir sagen. Wir sind ja irgendwo Schicksalsgenossen, nicht wahr?» Er lachte und sah sich im Raum um, ob nicht noch jemand mitlachen wollte.

«Können Sie mir 40 Cent für einen Cappuccino leihen?»

Er lehnt sich zurück, schaut in die Luft, während er in seiner Hosentasche kramt. Dann wirft er die Münzen auf den Tisch, als spielten wir Poker.

Als ich mich wieder, meinen Becher balancierend, setze, hat er sich von mir abgewandt. Sein Kopf lagert auf der Faust, der Ellenbogen auf der Ecke des Tisches. Er massiert sich die Schläfen, einhändig.

«Weswegen bist denn du hier?»

«Eine Freundin ist schwanger. - Aber es gab Komplikationen», füge ich hinzu. Ich möchte noch mehr hinzufügen. Ich warte wahrscheinlich gar nicht am richtigen Ort. In die Notaufnahme hab ich sie gebracht, weil es ein Notfall war. Dann haben sie sie mitgenommen. Ich hoffe, es wird sich jemand an mich erinnern und mich holen. Ich möchte nicht gleich einen dieser vielbeschäftigten Ärzte nerven.

Wir schweigen.

«Es ist nicht mein Kind», sage ich.

«Herzlichen Glückwunsch», sagt er. Ich bin verdutzt. Mein Warum? verfängt sich vorne bei den Lippen.

Da lacht er, lacht die Decke an. Es war nur ein Witz.

«Ich gebe Ihnen das Geld wieder. Ich gebs A.» sage ich. Lächle.

Er sieht mich an und sieht weg. Er hat die Augen geschlossen, die Hand massiert wieder die Schläfen. «Eigentlich darf ich keinen Kaffee trinken.»

Er steht auf und greift in die Hosentasche. Ich springe auf. Ich will ihm den Kaffee holen. Er nimmt an, legt ein paar Münzen in meine Hand und sagt: «Schwarz.»

Das irritiert mich, doch weiß er gar nicht, dass mein Nachname Schwarz ist. Wie ich die Münzen in den Automaten zähle, wünsche ich mir, ich hätte A. näher gekannt. Ich hätte gern gesagt: «A. war für mich immer die Person mit der größten Fürsorge für andere Menschen. Wie sie damals ins Altersheim gegangen ist, um alten Leuten auf ihrer Blockflöte vorzuspielen ...» Oder: «A. hat mal zu mir gemeint, es wäre schön, wenn es weniger Kriege gäbe. Dann gäbe es weniger Tote. Das hat mich sehr beeindruckt.»

Irgendsowas hätte ich sagen sollen. Aber ich wusste rein gar nichts von ihr und wollte nichts erfinden. Wir sind jahrelang in dieselbe Klasse gegangen. Alles was ich von ihr wusste war, dass sie früher die Kelly Family verehrte.

Ich hasste die Kelly Family. Alle Mitglieder hatten Schweinsnasen und verdienten viel zu viel Geld. Sie waren eine irische Musikmafia, die sich durch Inzest vermehrte und von ihren Opfern Geld erpresste, indem sie sie zu willenlosen Feuerzeugschwenkern ummodelte, die sich selbst hypnotisierten und dann die CDs der «Familie» kaufen gingen.

Dü-di-dit! Der junge Mann transportiert den Kaffee zum Tisch. Dü-di-dit! Behutsam wie ein erfahrener Kranführer senkt er die Fracht auf die Ladefläche des Tisches. Dü-di-dit! Hektisch reißt er sein Handy aus der Tasche, drückt - sieht - verarbeitet - wird bleich. Die Augen sind weit geöffnet, in seinem Gesicht steht ein mittleres Entsetzen. Er saugt Luft ein und hält sie. Drei lange Sekunden lang. Der Mund bleibt auch offen ... So ungefähr muss es ausgesehen haben.

«Meine Freundin hat mich verlassen», die Worte klingen alarmierend.

A.s Vater nickt langsam. «Vor einem Jahr ist meine Frau gestorben», erwidert er. Ich starre ihn verständnislos an. Mein Mund ist immer noch auf. Ich stecke zu sehr in meinem eigenen Unglück, um Mitleid zu empfinden und zu äußern. Der junge Mann fällt auf einen Stuhl und starrt vor sich hin. Er scheint den Tisch niederstarren zu wollen. «Ob es hier irgendwo was zu trinken gibt?»

A.s Vater zuckt die Schultern. Er sieht aus, als würde er einen Wodka mittrinken.

«Ich bin gleich wieder da», sage ich als würde ich sagen: «Halten Sie aus, ich hol Hilfe!» Ich bin entschlossen. Ich habe eine Aufgabe.

Ich ging durch die Glastür nach draußen. Mich empfing eine kühle, klare Nacht. Nach ein paar Metern zielstrebiger Bewegung blieb ich stehen. Wohin gehe ich eigentlich?

Ein Bus kam die Straße herunter. Es war für mich das Signal, zur Haltestelle zu rennen, dem Glaskasten, der fünfzig Meter vor mir glimmte wie eine Verheißung. Aber ich rannte nicht, um den Bus zu kriegen, sondern um mein Leben, um mein sinnerfülltes Leben. Nicht nur dass es ein Gefühl von Stärke war, als ich schnaubend und keuchend dem Fahrer meine Monatskarte zeigte. Irgendwo entfernt spürte ich, dass ich verzweifeln könnte, wenn ich jetzt an einer Haltestelle warten oder auf gut Glück nach einem Imbiss suchen würde. Ich dachte an den Wodka und daran, ihn zu trinken mit A.s Vater. Der Bus wird mich in eine Straße mit Leuchtreklame bringen, und ich werde wissen: hier steigst du aus, hier wirst du fündig.

Der Bus brachte mich in den Wedding. Eine vor Endstation stieg ich aus und wandte mich stracks Richtung Mauerpark, Prenzlauer Berg, weithin sichtbar wegen der vier Flutlichter des Max-Schmeling-Stadions, die aussahen wie gigantische Zahnbürsten. Ich eilte. Ich wollte unverletzt ins Krankenhaus zurückkehren und keinesfalls, bevor ich eine Flasche Wodka intus hätte. Die Straßen sind leer. Häuser und die Autos davor schlafen. Ich denke es liegt am Bezirk, aber als ich in den Mauerpark komme, ist der auch leer.

Schlendernd gehe ich die Straße entlang, die hindurch führt. Wo sind alle? Links der Hang, die Steinränge des Freilichttheaters: leer. Rechts auf der Wiese läuft jemand. Ich sehe es erst beim zweiten Hinsehen. Der Jemand schlendert genauso wie ich und ich glaube, er hat eine Hundeleine zusammengelegt in der Hand. Einen Hund sehe ich nicht. Dann ist der Jemand weg. Ich betrete die Wiese, und da ist Feuer etwas weiter in Wegrichtigung. Das Feuer wirkt anziehend. Die Menschen wirken anziehend. Es sind Jongleure. Im Hintergrund ragen Mietskasernen und Scheinwerferkegel durchstöbern graue Wolkenberge. Und der Fernsehturm erscheint, verschwindet, erscheint ... in blauem Licht. Die Stäbe der Jongleure zeichnen Feuerkreise in die Luft. Sie sind zu zweit, einer lässt einen brennenden Stab rotieren, der andere gleich zwei. Die Stäbe rasen. Es faucht und summt. Erst von nahem kann ich unterscheiden, dass die Stäbe an beiden Enden brennen. Die Männer sind hochkonzentriert oder in Trance. Eine mittelgroße Gruppe Männer, Frauen und Kinder sitzt anbei und unterhält sich raunend. Alle sehen aus wie Hippies, aus Kalifornien eingeflogen. Oder mit der Zeitmaschine hergeschafft. Die Stäbe des Jonglierers, die ineinander greifen wie Zahnräder: so stelle ich mir die Zeitmaschine vor. Die Flakscheinwerfer am Himmel sind der Zweite Weltkrieg und der blinkende Fernsehturm ein Gruß aus der Zukunft. Dieser Abend hat etwas zu bedeuten.

In der Oderberger Straße langweilen sich Bars ohne Gäste. Es ist doch Sonnabend. Kursiert eine Grippe? Der Inder oder Indonesier im Spätverkauf sieht gesund aus. Er grinst überfreundlich und wünscht mir einen schönen Abend, während ich den Borisov Wodka in meine Umhängetasche stecke, wo nun endlich etwas drin ist. Ich fühle, dass dieser Abend noch ein erfülltes Ende nehmen wird. Ich werde lernen, dass mein Liebeskummer lächerlich ist verglichen mit A.s Unfalls (von dem sie wieder genesen wird!) und angesichts des neuen Lebens, das heute noch auf die Welt kommen wird oder schon da ist. Ich werde das Baby im Arm halten und A.s Vater und werde weinen vor Glück.

Hoffentlich. J. hat mich verlassen. Per SMS. Wahrscheinlich bin ich unmodern. A.s Vater ist bestimmt auch unmodern. Er wird mich verstehn. Wir sind irgendwo Schicksalsgenossen. Hat er gesagt.

Ich mache mich auf den Rückweg. Wieder durch den Mauerpark. Die Feuerkünstler und ihr Kreis sind verschwunden. So plötzlich wie J. verschwunden war. Vermutlich hat ihnen irgendwer eine SMS geschickt. So schnell geht das. Ich mache einen Abstecher auf die Wiese. Es muss Spuren geben. Hatten sie nicht ein Lagerfeuer? Ich suche nur kurz, muss zurück zu A.s Vater, ehe der auch weg ist. Warum bin ich Arsch überhaupt Wodka kaufen gegangen? Ich klemme mir meine Wodkatasche unter den Arm und beginne zu laufen. Von außen sollte ich wie ein Handtaschenräuber aussehen. Aber niemand sieht mich. Vielleicht ist das alles nicht wahr.
 

Bonnie Darko

Mitglied
"Ich werde das Baby im Arm halten und A.s Vater und werde weinen vor Glück."

Soll das nicht heißen, "A.s Vater und ich werden weinen vor Glück"? So habe ich es zuerst verstanden.

Oder hält er Baby + Vater im Arm?

Das ist ein bißchen doppeldeutig.
 
Hallo jimKaktus,

das Spiel mit dem Perspektivwechsel ist ein interessantes Experiment. Man muss sich als Leser darauf einlassen können. An sich ist ein solcher Perspektivwechsel (zumindest zwischen er und ich) nicht so ungewöhnlich. Günter Grass führt es in der Blechtrommel bereits mit Oskar Matzerath vor, ohne dass man es richtig merkt. In einem eher kurzen Text wie hier ist es sehr schwierig für den Leser, diesen sehr häufigen Wechsel nachzuvollziehen. Dabei kommen manche Szenen für sich betrachtet recht gut, aber insgesamt wird einem ständig der Boden unter den Füßen weggezogen, wie Gabi schon schreibt.

Am Anfang fand ich noch eine kleine Sache, die perspektivisch nicht ganz exakt zu sein scheint:
Es heißt:
Du sitzt in der Rettungsstelle und siehst das Profil eines Mannes.

Nun folgt aber eine Beschreibung, die eindeutig nicht aus dem Profil erfolgt, wenn die „bohrenden“ Stecknadelpupillen beschrieben werden.


Beste Grüße
Monfou
PS: Ich beziehe mich ausschließlich auf den ersten Text.
 

jimKaktus

Mitglied
Tag Monfou,

da hast du gut aufgepasst. Es ist wohl schwierig, einem Profil in die Augen zu sehen.

Was mir mit dem Perspektivwechsel vorschwebt (vielleicht schreib ich mal ne Geschichte, wo das geht; es muss sich natürlich vom Inhalt her anbieten):dass die einheitliche Perspektive (Ich oder Er oder Du) mal völlig aufgelöst wird. Das Verständnis müsste dazu vollständig durch den Inhalt, die Bilder, gewährleistet sein. Eine Geschichte, ausgenommen den Erzählerbericht, ist für mich letztlich eine Aneinanderreihung von Bildern. Da ist das Personalpronomen doch eigentlich egal??

Gruß,
jim
 



 
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