adonis - 8 distichen mit gereimten pentametern

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G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
adonis (8 distichen mit gereimten pentametern)

[ 4]adonis


frühling bricht endlich hervor durch unendlich sich öffnende himmel
[ 4]wolken verdichtet zu grün - steinzeug des gläsernen lichts
hör ich dich zaubern im schlaf oder ist es die fremde der sprache
[ 4]zimtrote rätsel im reim echo des narziß-gedichts

bin ich in strahlen gerädert in röhren geädertes netzwerk
[ 4]aus meinen wunden entrinnt gnade des jüngsten gerichts
aus meinem munde tropft seim für die wespe den tiger der süße
[ 4]in meinem lupen-kristall - schau des facetten-gesichts

sind wir die scheelen schakale die jagen die fetzige hündin
[ 4]bist du die löwin von gold - drone bin ich dein gedrohn
biene du leckst mir den nektar vom kreisrunden muskel der lippen
[ 4]honig zu spein für die brut - waben umkammern den thron

bin ich dein imker der dieb der dich hütet betrügt der dich weidet
[ 4]wirst du zur bäckerin selbst - forderst von mir deinen lohn
werd ich zum jungen der kommt in den laden und sagt daß er brot will
[ 4]lachst du der fall sei ganz klar - ich sei dein hungriger sohn
 
O

orlando

Gast
Ihr Götter: Wie wunderbar das ist!

Formal ein echtes Leckerli. Distichen, die ich sonst zu Gesicht bekomme, sind zuweilen ohne jede Eleganz gefertigt und wirken wie schlechte Kopien auf mich. Hier aber schmiegen sie sich vorzüglich zum Inhalt und in die Sprache.

Und dann der Adonis-Mythos, der so vieles offenlässt und von dir auf eine ganz eigene Weise dargereicht und interpretiert wird ... allen Mythen gemein ist, dass er als Vegetationsgott und/oder Gott der Schönheit gilt, oft ein "Vorbild" der Bildenden Künste.
frühling bricht endlich hervor durch unendlich sich öffnende himmel
wolken verdichtet zu grün - steinzeug des gläsernen lichts
hör ich dich zaubern im schlaf oder ist es die fremde der sprache
zimtrote rätsel im reim echo des narziß-gedichts
Hier schilderst du den Aufbruch des Frühlings (Adonis), der das von ihm (mit) verursachte Geschehen offenbar aus dem Bett einer Beauty betrachtet:
"Kein gewöhnlicher Mann bin ich, sondern der Ehegatte einer Göttin."
Der Zimt weist in die orientalische Richtung.
bin ich in strahlen gerädert in röhren geädertes netzwerk
aus meinen wunden entrinnt gnade des jüngsten gerichts
aus meinem munde tropft seim für die wespe den tiger der süße
in meinem lupen-kristall - schau des facetten-gesichts
In einer Version des Mythos, die du hier aufgreifst, färbt das Blut Adonis die Flüsse und Bäche rot. Andererseits erkenne ich einen allgemeineren Bezug: Liebe, Tod und Auferstehung.
sind wir die scheelen schakale die jagen die fetzige hündin
bist du die löwin von gold - drone bin ich dein gedrohn
biene du leckst mir den nektar vom kreisrunden muskel der lippen
honig zu spein für die brut - waben umkammern den thron
Adonis scheint hier gleichzeitig Jäger und Gejagter (sind wir ... ); dieser Seitenwechsel wirkt auf mich ungmein interessant, weil er zusätzlich Spannung (fast Verstörung) in das Geschehen bringt und zum nochmaligen Lesen zwingt.

Mein einziger Kritikpunkt: die "fetzige" Hündin. Vielleicht besser "fetzende", reißende o. ä.? - Diese Textgruppe hat nicht zuletzt einen deutlichen erotischen Bezug. - Die verwendeten Tiere tauchen in den Ursprungsmythen auf.

bin ich dein imker der dieb der dich hütet betrügt der dich weidet
wirst du zur bäckerin selbst - forderst von mir deinen lohn
werd ich zum jungen der kommt in den laden und sagt daß er brot will
lachst du der fall sei ganz klar - ich sei dein hungriger sohn
Hier gelingt dir die schwierige Kunst, den Mythos in die Gegenwart zu bringen, in einen stinknormalen Bäckerladen, wenn auch mit einem leicht inszestösen Beigeschmack, der wiederum einer Variante des Mythos entnommen ist.
[Gleichwohl gelingt es auch, das Gedicht in seiner Gesamtheit als reinen Sang für die heimische Schöne aufzufassen, die evtl. einen anderen Kulturkreis entstammt.]

Nur sehr, sehr selten lese ich in den Foren ein Gedicht dieser Qualität. Und um den Vorwurf der "Sympathiewertung" vorab zu entkräften: Einen Autor, der soviel Nachdenken, Recherche und Kombinationsvermögen heischt, kann man doch schwerlich ... oder doch?

orlando
 
G

Gelöschtes Mitglied 16600

Gast
Guten Tag,

du weißt, dass ich selbst mich diesem Hexameter/Distichon-Format gern widme. Daher weiß ich, wieviel Mühe es dich gekostet hat, diese Verse (im altgriechischen Rhythmus) zu verfassen. Und formal ist, soweit ich das sehe, alles richtig; vielleicht bis auf S1V3 in der es schwer fällt, das langsilbige o in "oder" unbetont zu sprechen.

XxxXxxX||xxXxxXxxXx
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Schade finde ich, dass du dich (immer noch?) der homerischen Hexameter-Form bedienst. An andere Stelle hatte ich schon einmal darauf hingewiesen, dass altgriechische Silben nicht mit deutschen in ihrer Länge verglichen werden können. Kurze deutsche Silben lauten verglichen mit kurzen griechischen viel kürzer und lange deutsche, verglichen mit langen griechischen erheblich länger. Das bedeutet, die Längen und Kürzen der griechischen Silben stehen sich so nah, dass homerische Dichtung in unseren Ohren so harmonisch klingt.
Zitat z.B. Wikipedia: Der griechisch-römische Hexameter ist quantitierend, d. h., die Abfolge von langen und kurzen Silben konstituieren den Vers. Wegen des in germanischen Sprachen feststehenden Wortakzents auf der Stammsilbe und einer geringeren Bedeutung der Länge von Vokalen (s. Akzentsprache), wird die Versform in der deutschen Sprache durch die Abfolge von betonten und unbetonten Silben realisiert.
Übertrage ich den griechischen Daktylos nun 1:1 ins Deutsche, entsteht ein Rhythmus, der unweigerlich leiert und langweilig wird. Das ist der Grund, weshalb spätestens seit Klopstock, Goethe, und Schiller in deutsche Hexameter der Trochäus als text- und klanggliedernde Komponente eingeführt worden ist.

Nur dann können gute Nebenzäsuren entstehen, wenn der daktylische Dreiheber von trochäischen Zweihebern unterbrochen wird.

Spätestens, wenn die Verse laut gelesen und vorgetragen werden, wird jedem deutlich, dass hier etwas nicht stimmt.

Vergleiche, laut lesend, den Rhythmus mit meinem Beitrag "Der alte Apfelbaum", den ich in dieser Hinsicht für gelungen halte.
Und in Distichen wird das Problem noch deshalb verschärft, weil der stets widerkehrende Hebungsprall und die Zäsur im Pentameter nach der dritten Hebung nicht verhandelbar ist.

Sprachästhetisch finde ich die Verse äußerst gelungen!

lg Hans
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ishtar und Adonis

Ein herzliches Dankeschön Dir, Orlando, und ein herzliches Dankeschön Dir, Manehans!
ad Manehans, Metrum: Das Verrückte ist, daß ich drauflosgeschrieben habe, ohne zu bemerken, daß es Hexameter waren, und die Pentameter waren zunächst ohne die "unverhandelbare" Binnenzäsur, liefen daktylisch durch, als sechfüßige daktylische Verse mit Endbetonung (d.h. fünffüßig mit einer anhängenden Betonung als sechstem hyperkatalektischen Fersentritt). Ich hatte eher den durchlaufenden (Haufen-) Reim der jeweils zweiten Zeilen im Blick. So etwa nach sechs Doppelversen bemerkte ich erst, daß ich konsequent daktylische (ich meine ohne Spondeen) Hexameter geschrieben hatte und daß die endbetonten Zeilen der reimenden (jeweils zweiten) Verse leicht zu Pentametern gestaltet werden konnten, zumal sie syntaktisch wohlhalbiert waren.
Sowas passiert leicht, wenn man alle zwei Tage hexametrische Dichtung liest (zur Zeit Ovids Metamorphosen, Narziß und Echo): da zählt man nicht (mehr), es läuft einfach sechhebig ab und die Aufmerksamkeit geht in die anderen Dimensionen der Musik.

ad Orlando: Ich bekenne, daß ich Sorgen hatte mit der barocken Schwere des Lieds, in Bezug sowohl auf den Metaphernwechsel (etwas üppig, unschlicht) als auch auf das Kryptische dieser Metaphern.
Wesentlich ist die Stufenfolge der dem Lyri und dem Lyrdu zugeschriebenen "Rollen", die sich hin- und her-wandeln:
Lyri: "tropft seim" - Lyrdu: "wespe, tiger der süße"
noch zwischen dem Insektenauge und dem scheelen Blick: "schau des facetten-gesichts"; dann konsequent im Zeilenwechsel:
Lyri: "die scheelen schakale - Lyrdu: "die fetzige hündin"
Lyrdu: "löwin von gold" - Lyri: "drone"
Lyrdu: "biene - Lyri: "muskel der lippen"
Lyrdu: "honig zu spein für die brut - waben"
Lyri: "imker"
Lyrdu: "bäckerin - forderst von mir deinen lohn"
Lyri: "werd ich zum jungen der kommt in den laden und sagt daß er brot will"
und die Rollenpartnerin (Bäckerin) analysiert ihn, statt ihm Brot zu verkaufen:
"lachst du der fall sei ganz klar - ich sei dein hungriger sohn".

Ja, das ist ein erotisches Rollen-Wechsel-Spiel, ein magisches Verwandlungs-Kämpfchen von Mann und Frau. Der Mann wird dabei letztlich überboten, überspielt, indem er nicht gesättigt ("bedient" heißt das im Verkaufsgespräch), sondern antierotisch entlarvt (=analysiert) und (zum "Sohn") verkleinert (fast schon verniedlicht) wird.
Adonis ist ein geopferter Frühlingsgott, so ist auch der verwundete und apokalyptische Menschensohn des "jüngsten Gerichts" hier mitangesprochen.
Der Ping-Pong, das gestufte Metamorphosen-Gespringe zwischen den Mann-Frau-Rollen, hat seinen Prototyp in Brhadaranyaka-Upanishad 1,4.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4]adonis


frühling bricht endlich hervor durch unendlich sich öffnende himmel
[ 4]wolken verdichtet zu grün - steinzeug des gläsernen lichts
hör ich dich zaubern im schlaf oder ist es die fremde der sprache
[ 4]zimtrote rätsel im reim echo des narziß-gedichts

bin ich in strahlen gerädert in röhren geädertes netzwerk
[ 4]aus meinen wunden entrinnt gnade des jüngsten gerichts
aus meinem munde tropft seim für die wespe den tiger der süße
[ 4]in meinem lupen-kristall - schau des facetten-gesichts

sind wir die scheelen schakale die jagen die fetzige hündin
[ 4]bist du die löwin von gold - drone bin ich schwer von mohn
biene du leckst mir den nektar vom kreisrunden muskel der lippen
[ 4]honig zu spein für die brut - waben umkammern den thron

bin ich dein imker der dieb der dich hütet betrügt der dich weidet
[ 4]wirst du zur bäckerin selbst - forderst von mir deinen lohn
werd ich zum jungen der kommt in den laden und sagt daß er brot will
[ 4]lachst du der fall sei ganz klar - ich sei dein hungriger sohn
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
[ 4]adonis


frühling bricht endlich hervor durch unendlich sich öffnende himmel
[ 4]wolken verdichtet zu grün - steinzeug des gläsernen lichts
hör ich dich zaubern im schlaf oder ist es die fremde der sprache
[ 4]zimtrote rätsel im reim echo des narziß-gedichts

bin ich in strahlen gerädert in röhren geädertes netzwerk
[ 4]aus meinen wunden entrinnt gnade des jüngsten gerichts
aus meinem munde tropft seim für die wespe den tiger der süße
[ 4]in meinem lupen-kristall - schau des facetten-gesichts

sind wir die scheelen schakale die jagen die fetzige hündin
[ 4]bist du die löwin von gold - drohne bin ich schwer von mohn
biene du leckst mir den nektar vom kreisrunden muskel der lippen
[ 4]honig zu spein für die brut - waben umkammern den thron

bin ich dein imker der dieb der dich hütet betrügt der dich weidet
[ 4]wirst du zur bäckerin selbst - forderst von mir deinen lohn
werd ich zum jungen der kommt in den laden und sagt daß er brot will
[ 4]lachst du der fall sei ganz klar - ich sei dein hungriger sohn
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Es ist ein Gedicht, wie man sie nicht allzuoft in der Leselupe findet.
Für mich ist es das Werk des Monats, weil es Poesie und Gefühl verbindet, weil es eine Freude ist, es zu lesen, weil es neue Wege beschreitet und ausgetretene Pfade erweitert.
Es vereint antike und gegenwärtige Perspektive.
Und es ist ein Gedicht, an das ich mich heute noch erinnert habe, das im Gedächtnis bleibt.
 



 
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