advocatus angeli

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chrissieanne

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Marnie hatte ein Problem - ein gewaltiges Problem.
Sie verbrachte das Wochenende bei ihren Cousinen Tina, Luise und Katja, weil Mama und Papa zu irgendwelchen Spielen nach Salzburg gefahren sind.
Sie verstand überhaupt nicht, warum sie da nicht mitdurfte. Mama hat gesagt, dafür wär sie zu klein und das wäre alles ganz langweilig. Wenn das so langweilig ist, warum fahren sie denn dann dahin? Erwachsene sind und bleiben komisch.
Aber das war jetzt gar nicht ihr Problem.
Gestern noch war es sehr lustig. Sie mochte ihre Cousinen gern, und sie haben zusammen Verstecken gespielt und Fangen. Abends gabs eine Kissenschlacht - sie lachten so viel und so doll, bis dass ihre Bäuche wehtaten. Und bis Tante Käthe hereinkam und mit Schlägen drohte, wenn sie nicht sofort still wären.
Tante Käthe. Marnie konnte die Tante nicht leiden. Sie war so streng und auch furchtbar häßlich und riesengroß.
Marnie hatte richtig Angst vor ihr.
Nun war Sonntag morgen, die Sonne schien - ein herrlicher Tag. Sie saßen alle am Frühstückstisch. Tante Käthe, Onkel Otto (der war ganz klein und lieb und witzig) Tina, Luise, Katja und Marnie. Alle waren gut gelaunt, redeten und lachten viel. Sogar Tante Käthe. Nur Marnie nicht. Denn vor ihr stand es. Das Problem:
Ein weichgekochtes Frühstücksei.
Brrr. Igitt. Sie ekelte sich furchtbar vor weichen Eiern. Das hier war sogar so weich, dass das Weiße noch durchsichtig war und über dem hellgelben Dotter glibberte.
„Marnie, was ist denn los?" fragte der Onkel. „Du sagst ja gar nichts? Hast du aus Versehen deine Zunge mitgegessen?"
Die Cousinen kicherten, und Marnie lächelte zaghaft.
„Du hast dein Ei noch nicht gegessen, Marnie."
Tante Käthe schaute sie streng an. Oje, was sollte sie nur tun?
„Mach mal voran, wir sind alle schon fertig und warten nur auf dich."
„Ich mag keine weichen Eier."
„Wie bitte?" Die Stimme der Tante war drohend. Marnie traute sich nicht hoch zu sehen. Doch sie wiederholte tapfer:
„Ich mag keine weichen Eier. Die sind eklig. Da muß ich brechen von."
Keiner sagte etwas. Es war so still, dass die Luft ganz schwer wurde, und Marnie ganz kalt. Nach einiger Zeit schaute sie hoch. Ihre Cousinen sahen erschrocken aus, und schielten ängstlich zu ihrer Mutter. Der Onkel grinste unsicher.
„Das Ei wird gegessen, mein Fräulein. Und zwar sofort!" Sehr leise sagte die Tante das.
„Aber zu Hause muß ich das auch nicht essen. Mama hat gesagt, ich muß nichts essen, was ich nicht mag."
Nun schauten ihre Cousinen ganz bewundernd. Als hätte sie erzählt, dass sie ihr Lieblingspferd Nora vom Reiterhof, wo sie oft hingingen, auf ihren Armen von der Koppel in die Box getragen hat, weil es wieder nicht wollte. Wie Pippi Langstrumpf.
Unwillkürlich mußte sie grinsen.
„DIR WIRD DAS LACHEN GLEICH VERGEHEN!! HIER WIRD GEGESSEN WAS AUF DEN TISCH KOMMT! DU BLEIBST SOLANGE HIER SITZEN, BIS DU AUFGEGESSEN HAST!"
Tante Käthe brüllte so laut, dass das Frühstücksgeschirr leise klirrte. Sie stand jetzt, die Hände in die Seiten gestützt, vor Marnie. Das breite Gesicht mit der dicken Nase war rot angelaufen, einige Strähnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst. Ihr riesiger Busen unter dem Kittel ging auf und ab. Das sah aus, als versuchte ein Buckelwal aus dem Kittel auszubrechen.
Aber Marnie war nun wirklich nicht mehr nach Grinsen zumute. Ihr Gesicht war heiß, ihr Bauch fühlte sich an wie eine glühende Murmel, und ihre Arme und Beine wie Kaugummi. Zudem war da noch ein dicker Klops im Hals.
„Nun laß sie doch, Käthe. Wenn Ingrid und Bernd sie nicht zw......"
„Du hälst dich da raus. Tina, Luise, Katja, ihr räumt die Spülmaschine ein und geht nach draußen spielen. Otto, bring bitte den Müll raus, und dann mach deinen Spaziergang. Ich geh jetzt nach oben und mach die Betten. Und wenn ich wiederkomme, hast du dieses Ei gegessen!!"
Schweigend taten ihre Cousinen, wie ihnen befohlen wurde. Onkel Otto nahm den Müll. Im Hinausgehen zwinkerte er Marnie zu und lächelte traurig.
Tante Käthe wischte den Tisch ab, warf den Lappen in die Spüle und ging auch aus der Küche.
Nun war es ganz still. Marnie konnte sich gar nicht bewegen und starrte in ihr Frühstücksei. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, doch sie liefen einfach ihr Gesicht herunter. Das war alles so gemein.
So unendlich ungerecht.
Plötzlich sah sie etwas im Ei. Was war das denn? Sie wischte die Tränen aus dem Gesicht, und zwinkerte fest mit den Augen, bis sie wieder klar sehen konnte. Da war ein winziger, schwarzer Punkt im Eidotter. Und der wurde immer größer. Ihr Herz fing an zu klopfen. Da war was in dem Ei! Das wuchs und wuchs, und dann war das Eidotter ganz schwarz, wölbte sich und - etwas schoß heraus und landete auf dem Tisch.
Marnie schrie auf und duckte sich weg, ihr Herz raste und sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ein Monster im Ei! Hilfe! Sie nahm die Hände nicht weg. Sie mochte nicht hinschauen. Wenn das jetzt beißt?
„Ich hab doch immer gesagt, dass das nicht lustig ist. Aber nein. Immer wissen sie es besser. Aufheitern. Ha! Verängstigt ist sie."
Marnie traute ihren Ohren nicht. Das konnte sprechen. Eine piepsige Stimme, die verärgert klang.
„Nun nimm schon die Hände vom Gesicht. Hallo, Marnie. Ich tu dir nichts!"
Vorsichtig lugte sie durch die Finger. Ihr Unterkiefer fiel nach unten und endlich auch ihre Hände.
Da stand ein winziges Männlein, mit Eidotter verklebt und schüttelte sich.
„Wäh, ist das eklig. Kannst du mir bitte einen sauberen Eierbecher mit Wasser bringen?"
Marnie starrte.
„Haaaallooo. Mach den Mund zu und hol mir einen Eierbecher. Bitte."
Marnie stand wie von jemand anderem geführt auf, und holte dem Männchen das Gewünschte.
Dann setzte sie sich wieder hin und beobachtete fassungslos, wie das Männlein badete.
Dann sprang es hinaus, schüttelte sich erneut .
„Würdest du mich jetzt anpusten? Ich weiß ja, dass du verwirrt bist, aber tu mir den Gefallen. Hach, wie ich diese Aufträge hasse. Lustig. Ich weiß wirklich nicht, was daran lustig ist."
Marnie pustete, und das Männlein wirbelte herum.
„Das reicht jetzt. Hey es reicht, ich bin trocken."
Das Männlein hatte einen schwarzen Umhang an, ein kluges Gesicht mit vielen Falten, weiße dünne Haare und eine winzige Brille mit einem Goldrand.
Es lief mit wehendem Umhang zu der Serviette neben Marnies Ellenbogen, riß ein Stückchen ab, und begann die Brille zu putzen.
„Wer bist du?"
Marnie fand endlich ihre Stimme wieder. Dies Männlein war zu lustig, um Angst haben zu müssen. Es passieren manchmal komische Dinge, eigentlich war das doch ganz normal.
Der kleine Mann setzte die Brille auf, stellte sich so hin, dass sie gerade auf ihn schauen konnte, strich sich die Haare aus dem Gesichtchen, machte eine knappe Verbeugung.
„Gestatten. Advocatus Angeli. Ich bin geschickt worden, deine Interessen gegenüber der Tante wahrzunehmen. Das heißt, ich verteidige dich. Ich werde auf Freispruch plädieren, das heißt, ich werde versuchen zu erreichen, dass du das Ei nicht essen muß. Und vielleicht erreiche ich sogar, dass niemand mehr bei ihr irgendetwas essen muß, was er oder sie nicht mag."
„Advocatus Angeli. Das ist ein lustiger Name. Und du bist sehr mutig. Meine Tante ist furchtbar streng. Du wohnst in Eiern?"
Das Männlein machte ein wütendes Gesicht.
„Nein. Meine Auftraggeber finden das lustig. Die Kinder, die in diese Not geraten, und soviel Phantasie besitzen mich sehen zu können, sollen dadurch erstmal zum Lachen gebracht werden. Aber sie erschrecken eigentlich immer. Und ich muß ständig durch diese eklige Gülle tauchen. Eidotter geht ja noch. Ich find Haferschleim und Rahmspinat schlimmer. Ich kann daran nichts Witziges finden. Aber Schutzengel können verdammt stur sein. Sie sagen, hinterher ist das sehr lustig. Und es wäre viel bedrohlicher, wenn ich als normaler Anwalt in Robe plötzlich neben dir sitzen würde. Naja, argumentieren können sie, das muß man ihnen lassen....... Robe ist der Name für meinen schwarzen Umhang. Sowas tragen alle Anwälte." fügte er hinzu, denn Marnie guckte völlig verdattert.
Doch das interessierte sie gar nicht.
„Schutzengel?? Du kommst von den Schutzengeln?"
„Ja, natürlich. Du weißt doch, dass du einen Schutzengel hast? Natürlich weißt du das, sonst könntest du mich ja gar nicht sehen. Mein Name ist auch nicht Advocatus Angeli. Das ist meine Berufsbezeichnung und heißt Anwalt der Engel. Mein Name ist Doktor Witzigmann. Und ich sag gleich, das ist nicht witzig!"
Das Männlein verschränkte die Arme vor seinen Bauch. Doch Marnie lachte gar nicht. Sie staunte, und dachte nach.
Ja, Papa hat oft gesagt, dass sie einen guten Schutzengel hat. Letztens erst, als sie vom Baum gefallen war, und sich nichts gebrochen hatte. Sie hat ihn sich immer als großen, blonden Mann mit weißen Flügeln vorgestellt.
Und jetzt hat er ihr einen kleinen Mann in einem schwarzen Umhang geschickt, der sie vor der Tante beschützen soll. Marnie war glücklich.
„Ist mein Schutzengel ein großer, blonder Mann mit Flügeln?"
Dr. Witzigmann hob den Zeigefinger.
„Das darf ich dir nicht sagen. Meine Auftraggeber bleiben unsichtbar. Aber- " sagte er lächelnd, als er Marnies Enttäuschung merkte „eigentlich sehen sie immer so aus, wie man sie sich vorstellt."
Plötzlich hörten sie Schritte im Flur.
„Ohje. Meine Tante kommt. Schnell, verschwinde. Sie wird bestimmt furchtbar böse."
„Keine Angst. Ich verschwinde nicht. Im Gegenteil."
Er schlug sich mit der Hand auf die Brust, und war auf einmal viel größer. So groß wie eine Kaffekanne.
Er stand mitten auf dem Tisch, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, und schaute streng und wichtig drein.
Tante Käthe betrat die Küche, in einer Hand einen Teppichklopfer.
„So, jetzt wollen wir doch mal....." Sie schwieg mitten im Satz, blieb wie angewurzelt stehen, und ihr Mund klappte auf. Sie starrte auf Doktor Witzigmann. Ihr Gesicht sah aus wie Mehl.
Der kleine Anwalt räusperte sich.
„Guten Morgen, Frau Wadenberg. Wie Sie sehen, ist Marnie nicht mehr allein, und hat ihr Ei noch immer nicht gegessen. Mein Name ist Doktor Witzigmann - Advocatus Angeli. Ich sehe, Sie haben vor, ihre Teppiche zu reinigen. Ich nehme dies an - in Ihrem Sinne. Dies müssen Sie ein wenig verschieben, denn ich bin beauftragt worden, Marnie vor Ihnen zu verteidigen. Sind Sie damit einverstanden?"
Die Tante machte ein komisches Geräusch.
„Nun ..." Doktor Witzigmann fing an, auf dem Tisch hin und her zu laufen, immer noch die Hände auf dem Rücken.
„Ich denke, dass der Fall recht eindeutig ist, und es nicht sehr lange dauern wird, Sie zu überzeugen. Sie wollen Marnie zwingen ein weiches Ei zu essen, obwohl sie sich davor ekelt. Ist das richtig so?"
Er drehte sich mit Schwung herum, so dass die Robe und seine weißen Haare wirbelten, und schaute die Tante sehr streng an. Die Tante sagte noch immer nichts.
„Ich habe Sie gefragt, ob das so richtig ist!" Der kleine Anwalt wurde richtig böse.
Endlich nickte die Tante.
„Ja, das hab ich. Denn Eier sind gesund." flüsterte sie.
„Danach hab ich Sie nicht gefragt. Aber nun gut. Ich nehme das zur Kenntnis. Es ist vieles gesund, nicht wahr. Auch vieles, was Marnie gerne ißt. Wie gesagt, die Beweisführung wird nicht lange dauern. Ich weise Sie auf eines unserer Gesetze hin, ein Gesetz, welches Sie auch gut kennen. Das da lautet:
Was du nicht willst was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!
Ich werde nun etwas vorführen und damit, wie ich meine, eindeutig belegen, dass sie dieses Gesetz aufs Gröbste mißachtet haben."
Doktor Witzigmann schnippte mit den Fingern. Auf einmal stand ein Teller mit einer dampfenden, eklig aussehenden, schwarzroten Masse auf dem Tisch.
„Blutsuppe!" flüsterte die Tante und ging einen Schritt rückwärts.
Blutsuppe, dachte Marnie. Sie kannte nur Blutwurst. Die mochte sie eigentlich ganz gern, obwohl ihr ganz anders wurde, als Mama ihr erzählt hat, dass die tatsächlich aus Tierblut gemacht ist. Aber Blutsuppe! Igitt!
„Ich fordere Sie hiermit auf, diese köstliche und gesunde Suppe zu essen."
Tante Käthe schüttelte den Kopf.
„Setzen Sie sich bitte an den Tisch, und essen Sie die Suppe. Sie wollen nicht?"
Die Tante setzte sich an den Tisch, aber Marnie ahnte, nur deshalb, weil ihre Beine nicht mehr stehen wollten.
„Ich kann die Suppe nicht essen."
Doktor Witzigmann klopfte sich auf die Brust, und wurde mit einem Mal so groß, dass er sich den Kopf an der Decke stieß. Schließlich stand er ja noch auf dem Tisch.
„Autsch. Mist. Entschuldigung." Seine Stimme war plötzlich sehr tief und laut.
Marnie blieb das Kichern im Hals stecken, denn der Anwalt stand jetzt auf dem Boden, und war bestimmt drei Meter groß. Er stand vor der Tante, riesig wie er war, und sagte immer wieder mit dröhnender Stimme:
„SIE ESSEN JETZT DIESE SUPPE!"
So laut war das, dass alle Möbel und die Lampe klapperten.
Marnie wußte genau, wie die Tante sich fühlte. Das war jetzt nicht mehr komisch. Sie wollte gerade rufen:
„Lass doch meine Tante in Ruhe!" als Doktor Witzigmann immer kleiner wurde und, während er rosa anlief, sagte: „Ja, ist ja gut, ich bin etwas zu weit gegangen. Aber sie soll es doch wirklich verstehen..." Dabei schaute er an Marnie vorbei. Sie spürte einen leichten Luftzug, als würde etwas Großes vorbeiwehen und plötzlich war der Anwalt verschwunden. Auch der Teller mit Suppe war fort. Nur die Tante saß am Tisch, blaß und ganz still, und Marnie, noch immer mit dem Ei vor sich.
Marnie wußte nicht, was sie tun sollte. Die Beiden saßen einfach nur da und schwiegen. Dann schaute die Tante auf, und lächelte. Sie sah plötzlich so freundlich und lieb aus.
„Es ist gut, Marnie. Du mußt das Ei nicht essen. Geh zu deinen Cousinen und spiel mit ihnen. Es ist so ein schöner Tag. Und heute abend gibt es Spaghetti Bolognese."
Das war Marnies Lieblingsessen. Woher wußte die Tante das? Aber das war ja ganz egal. Marnie war sich auf einmal sehr sicher, dass die Tante gar nicht böse und gemein war. Sie hatte einfach nur etwas vergessen: nämlich, dass sie selber mal ein kleines Mädchen war. Und das Schönste und Wichtigste war: Tante Käthe glaubte an Engel. Denn sonst hätte sie Doktor Witzigmann gar nicht sehen können. Sie und Tante Käthe hatten nun ein gemeinsames, großes Geheimnis.
Und Marnie würde es niemals jemandem erzählen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
die

geschichte ist zum heulen schön und bekommt einen ehrenplatz in meiner sammlung, obwohl n paar fehlerchen drin sind.
ganz lieb grüßt
 

chrissieanne

Mitglied
liebe flammarion!
danke fürs lob. fühl mich sehr geehrt, mitglied in deiner geschichtensammlung zu sein.
ich weiss nicht, wie oft ich diese geschichte auf fehler hin gelesen und verbessert habe. und immer noch sind welche drin. also auf ein neues....
lieben gruss
chrissieanne
 

Wasserlinse

Mitglied
Marnie hatte ein Problem - ein gewaltiges Problem.
Sie verbrachte das Wochenende bei ihren Cousinen Tina, Luise und Katja, weil Mama und Papa zu irgendwelchen Spielen nach Salzburg gefahren sind.
Sie verstand überhaupt nicht, warum sie da nicht mit durfte. Mama hat gesagt, dafür wäre sie zu klein und das wäre alles ganz langweilig. Wenn das so langweilig ist, warum fahren sie denn dann (überflüssig) dahin? Erwachsene sind und bleiben komisch.
Aber das war jetzt gar nicht ihr Problem.
Gestern noch war es sehr lustig. Sie mochte ihre Cousinen gern, und sie haben zusammen Verstecken gespielt und Fangen. Abends gab`s eine Kissenschlacht - sie lachten so viel und so doll, bis dass ihre Bäuche weh taten (Leerzeichen fehlt). Und (besser weglassen) bis Tante Käthe hereinkam und mit Schlägen drohte, wenn sie nicht sofort still wären.
Tante Käthe. Marnie konnte die Tante nicht leiden. Sie war so streng und auch furchtbar hässlich und riesengroß.
Marnie hatte richtig Angst vor ihr.
Nun war Sonntag morgen, die Sonne schien - ein herrlicher Tag. Sie saßen alle am Frühstückstisch. Tante Käthe, Onkel Otto (der war ganz klein und lieb und witzig) Tina, Luise, Katja und Marnie. Alle waren gut gelaunt, redeten und lachten viel. Sogar Tante Käthe. Nur Marnie nicht. Denn vor ihr stand es. Das Problem:
Ein weichgekochtes Frühstücksei.
Brrr. Igitt. Sie ekelte sich furchtbar vor weichen Eiern. Das hier war sogar so weich, dass das Weiße noch durchsichtig war und über dem hellgelben Dotter glibberte.
„Marnie, was ist denn los?" fragte der Onkel. „Du sagst ja gar nichts? Hast du aus Versehen deine Zunge mitgegessen?"
Die Cousinen kicherten, und Marnie lächelte zaghaft.
„Du hast dein Ei noch nicht gegessen, Marnie."
Tante Käthe schaute sie streng an. Oje, was sollte sie nur tun?
„Mach mal voran, wir sind alle schon fertig und warten nur auf dich."
„Ich mag keine weichen Eier."
„Wie bitte?" Die Stimme der Tante war drohend. Marnie traute sich nicht hoch zu sehen. Doch sie wiederholte tapfer:
„Ich mag keine weichen Eier. Die sind eklig. Da muss ich brechen von."
Keiner sagte etwas. Es war so still, dass die Luft ganz schwer wurde, und Marnie fühlte sich ganz kalt. Nach einiger Zeit schaute sie hoch. Ihre Cousinen sahen erschrocken aus, und schielten ängstlich zu ihrer Mutter. Der Onkel grinste unsicher.
„Das Ei wird gegessen, mein Fräulein. Und zwar sofort!" Sehr leise sagte die Tante das, aber bestimmt.
„Aber zu Hause muss ich das auch nicht essen. Mama hat gesagt, ich muss nichts essen, was ich nicht mag."
Nun schauten ihre Cousinen sie ganz bewundernd an. Als hätte sie erzählt, dass sie ihr Lieblingspferd Nora vom Reiterhof, wo sie oft hingingen, auf ihren Armen von der Koppel in die Box getragen hat, weil es wieder nicht wollte. Wie Pippi Langstrumpf.
Unwillkürlich musste sie grinsen.
„DIR WIRD DAS LACHEN GLEICH VERGEHEN!! HIER WIRD GEGESSEN WAS AUF DEN TISCH KOMMT! DU BLEIBST SOLANGE HIER SITZEN, BIS DU AUFGEGESSEN HAST!"
Tante Käthe brüllte so laut, dass das Frühstücksgeschirr leise klirrte. Sie stand jetzt, die Hände in die Seiten gestützt, vor Marnie. Das breite Gesicht mit der dicken Nase war rot angelaufen, einige Strähnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst. Ihr riesiger Busen unter dem Kittel ging auf und ab. Das sah aus, als versuchte ein Buckelwal aus dem Kittel auszubrechen.
Aber Marnie war nun wirklich nicht mehr nach Grinsen zumute. Ihr Gesicht war heiß, ihr Bauch fühlte sich an wie eine glühende Murmel, und ihre Arme und Beine wie Kaugummi. Zudem war da noch ein dicker Klops im Hals.
„Nun lass sie doch, Käthe. Wenn Ingrid und Bernd sie nicht zw......"
„Du hälst dich da raus. Tina, Luise, Katja, ihr räumt die Spülmaschine ein und geht nach draußen spielen. Otto, bring bitte den Müll raus, und dann mach deinen Spaziergang. Ich geh jetzt nach oben und mach die Betten. Und wenn ich wiederkomme, hast du dieses Ei gegessen!!"
Schweigend taten ihre Cousinen, wie ihnen befohlen wurde. Onkel Otto nahm den Müll. Im Hinausgehen zwinkerte er Marnie zu und lächelte traurig.
Tante Käthe wischte den Tisch ab, warf den Lappen in die Spüle und ging auch aus der Küche.
Nun war es ganz still. Marnie konnte sich gar nicht bewegen und starrte in ihr Frühstücksei. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, doch sie liefen einfach ihr Gesicht herunter. Das war alles so gemein.
So unendlich ungerecht.
Plötzlich sah sie etwas im Ei. Was war das denn? Sie wischte die Tränen aus dem Gesicht, und zwinkerte fest mit den Augen, bis sie wieder klar sehen konnte. Da war ein winziger, schwarzer Punkt im Eidotter. Und der wurde immer größer. Ihr Herz fing an zu klopfen. Da war was in dem Ei! Das wuchs und wuchs, und dann war das Eidotter ganz schwarz, wölbte sich und - etwas schoss heraus und landete auf dem Tisch.
Marnie schrie auf und duckte sich weg, ihr Herz raste und sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ein Monster im Ei! Hilfe! Sie nahm die Hände nicht weg. Sie mochte nicht hinschauen. Wenn das jetzt beißt?
„Ich hab doch immer gesagt, dass das nicht lustig ist. Aber nein. Immer wissen sie es besser. Aufheitern. Ha! Verängstigt ist sie."
Marnie traute ihren Ohren nicht. Das konnte sprechen. Eine piepsige Stimme, die verärgert klang.
„Nun nimm schon die Hände vom Gesicht. Hallo, Marnie. Ich tu dir nichts!"
Vorsichtig lugte sie durch die Finger. Ihr Unterkiefer fiel nach unten und endlich auch ihre Hände.
Da stand ein winziges Männlein, mit Eidotter verklebt und schüttelte sich.
„Wäh, ist das eklig. Kannst du mir bitte einen sauberen Eierbecher mit Wasser bringen?"
Marnie starrte das Männlein an.
„Haaaallooo. Mach den Mund zu und hol mir einen Eierbecher. Bitte."
Marnie stand, wie von jemand anderem geführt auf, und holte dem Männchen das Gewünschte.
Dann setzte sie sich wieder hin und beobachtete fassungslos, wie das Männlein badete.
Dann sprang es hinaus, schüttelte sich erneut .
„Würdest du mich jetzt anpusten? Ich weiß ja, dass du verwirrt bist, aber tu mir den Gefallen. Hach, wie ich diese Aufträge hasse. Lustig. Ich weiß wirklich nicht, was daran lustig ist."
Marnie pustete, und das Männlein wirbelte herum.
„Das reicht jetzt. Hey es reicht, ich bin trocken."
Das Männlein hatte einen schwarzen Umhang an, ein kluges Gesicht mit vielen Falten, weiße dünne Haare und eine winzige Brille mit einem Goldrand.
Es lief mit wehendem Umhang zu der Serviette neben Marnies Ellenbogen, riss ein Stückchen ab, und begann die Brille zu putzen.
„Wer bist du?"
Marnie fand endlich ihre Stimme wieder. Dies Männlein war zu lustig, um Angst haben zu müssen. Es passieren manchmal komische Dinge, eigentlich war das doch ganz normal.
Der kleine Mann setzte die Brille auf, stellte sich so hin, dass sie gerade auf ihn schauen konnte, strich sich die Haare aus dem Gesichtchen, machte eine knappe Verbeugung.
„Gestatten. Advocatus Angeli. Ich bin geschickt worden, deine Interessen gegenüber der Tante wahrzunehmen. Das heißt, ich verteidige dich. Ich werde auf Freispruch plädieren, das heißt, ich werde versuchen zu erreichen, dass du das Ei nicht essen musst. Und vielleicht erreiche ich sogar, dass niemand mehr bei ihr irgendetwas essen muss, was er oder sie nicht mag."
„Advocatus Angeli. Das ist ein lustiger Name. Und du bist sehr mutig. Meine Tante ist furchtbar streng. Du wohnst in Eiern?"
Das Männlein machte ein wütendes Gesicht.
„Nein. Meine Auftraggeber finden das lustig. Die Kinder, die in diese Not geraten, und soviel Phantasie besitzen mich sehen zu können, sollen dadurch erst mal zum Lachen gebracht werden. Aber sie erschrecken eigentlich immer. Und ich muss ständig durch diese eklige Gülle tauchen. Eidotter geht ja noch. Ich find Haferschleim und Rahmspinat schlimmer. Ich kann daran nichts Witziges finden. Aber Schutzengel können verdammt stur sein. Sie sagen, hinterher sei das sehr lustig. Und es wäre viel bedrohlicher, wenn ich als normaler Anwalt in Robe plötzlich neben dir sitzen würde. Na ja, argumentieren können sie, das muss man ihnen lassen....... Robe ist der Name für meinen schwarzen Umhang. So was tragen alle Anwälte." fügte er hinzu, denn Marnie guckte völlig verdattert.
Doch das interessierte sie gar nicht.
„Schutzengel?? Du kommst von den Schutzengeln?"
„Ja, natürlich. Du weißt doch, dass du einen Schutzengel hast? Natürlich weißt du das, sonst könntest du mich ja gar nicht sehen. Mein Name ist auch nicht Advocatus Angeli. Das ist meine Berufsbezeichnung und heißt Anwalt der Engel. Mein Name ist Doktor Witzigmann. Und ich sag gleich, das ist nicht witzig!"
Das Männlein verschränkte die Arme vor seinen Bauch. Doch Marnie lachte gar nicht. Sie staunte, und dachte nach.
Ja, Papa hat oft gesagt, dass sie einen guten Schutzengel hat. Letztens erst, als sie vom Baum gefallen war, (Komma zuviel) und sich nichts gebrochen hatte. Sie hat ihn sich immer als großen, blonden Mann mit weißen Flügeln vorgestellt.
Und jetzt hat er ihr einen kleinen Mann in einem schwarzen Umhang geschickt, der sie vor der Tante beschützen soll. Marnie war glücklich.
„Ist mein Schutzengel ein großer, blonder Mann mit Flügeln?"
Dr. Witzigmann hob den Zeigefinger.
„Das darf ich dir nicht sagen. Meine Auftraggeber bleiben unsichtbar. Aber- " sagte er lächelnd, als er Marnies Enttäuschung merkte „eigentlich sehen sie immer so aus, wie man sie sich vorstellt."
Plötzlich hörten sie Schritte im Flur.
„Oh je. Meine Tante kommt. Schnell, verschwinde. Sie wird bestimmt furchtbar böse."
„Keine Angst. Ich verschwinde nicht. Im Gegenteil."
Er schlug sich mit der Hand auf die Brust, und war auf einmal viel größer. So groß wie eine Kaffeekanne.
Er stand mitten auf dem Tisch, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, und schaute streng und wichtig drein.
Tante Käthe betrat die Küche, in einer Hand einen Teppichklopfer.
„So, jetzt wollen wir doch mal....." Sie schwieg mitten im Satz, blieb wie angewurzelt stehen, und ihr Mund klappte auf. Sie starrte auf Doktor Witzigmann. Im Gesicht wurde sie auf einmal weiß, wie Mehl.
Der kleine Anwalt räusperte sich.
„Guten Morgen, Frau Wadenberg. Wie Sie sehen, ist Marnie nicht mehr allein, und hat ihr Ei noch immer nicht gegessen. Mein Name ist Doktor Witzigmann - Advocatus Angeli. Ich sehe, Sie haben vor, ihre Teppiche zu reinigen. Ich nehme dies an - in Ihrem Sinne. Dies müssen Sie ein wenig verschieben, denn ich bin beauftragt worden, Marnie vor Ihnen zu verteidigen. Sind Sie damit einverstanden?"
Die Tante machte ein komisches Geräusch.
„Nun ..." Doktor Witzigmann fing an, auf dem Tisch hin und her zu laufen, immer noch die Hände auf dem Rücken.
„Ich denke, dass der Fall recht eindeutig ist, (Komma zuviel) und es nicht sehr lange dauern wird, Sie zu überzeugen. Sie wollen Marnie zwingen ein weiches Ei zu essen, obwohl sie sich davor ekelt. Ist das richtig so?"
Er drehte sich mit Schwung herum, so dass die Robe und seine weißen Haare wirbelten, (Komma zuviel) und schaute die Tante sehr streng an. Die Tante sagte noch immer nichts.
„Ich habe Sie gefragt, ob das so richtig ist!" Der kleine Anwalt wurde richtig böse.
Endlich nickte die Tante.
„Ja, das hab ich. Denn Eier sind gesund." flüsterte sie.
„Danach hab ich Sie nicht gefragt. Aber nun gut. Ich nehme das zur Kenntnis. Es ist vieles gesund, nicht wahr. Auch vieles, was Marnie gerne isst. Wie gesagt, die Beweisführung wird nicht lange dauern. Ich weise Sie auf eines unserer Gesetze hin, ein Gesetz, welches Sie auch gut kennen. Das da lautet:
Was du nicht willst was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!
Ich werde nun etwas vorführen und damit, wie ich meine, eindeutig belegen, dass sie dieses Gesetz aufs Gröbste missachtet haben."
Doktor Witzigmann schnippte mit den Fingern. Auf einmal stand ein Teller mit einer dampfenden, eklig aussehenden, schwarzroten Masse auf dem Tisch.
„Blutsuppe!" flüsterte die Tante und ging einen Schritt rückwärts.
Blutsuppe, dachte Marnie. Sie kannte nur Blutwurst. Die mochte sie eigentlich ganz gern, obwohl ihr ganz anders wurde, als Mama ihr erzählt hat, dass die tatsächlich aus Tierblut gemacht ist. Aber Blutsuppe! Igitt!
„Ich fordere Sie hiermit auf, diese köstliche und gesunde Suppe zu essen."
Tante Käthe schüttelte den Kopf.
„Setzen Sie sich bitte an den Tisch, und essen Sie die Suppe. Sie wollen nicht?"
Die Tante setzte sich an den Tisch, aber (Marnie ahnte, weglassen, sonst schwerer zu verstehen) nur deshalb, weil ihre Beine nicht mehr stehen wollten.
„Ich kann die Suppe nicht essen."
Doktor Witzigmann klopfte sich auf die Brust, und wurde mit einem Mal so groß, dass er sich den Kopf an der Decke stieß. Schließlich stand er ja noch auf dem Tisch.
„Autsch. Mist. Entschuldigung." Seine Stimme war plötzlich sehr tief und laut.
Marnie blieb das Kichern im Hals stecken, denn der Anwalt stand jetzt auf dem Boden, und war bestimmt drei Meter groß. Er stand vor der Tante, riesig wie er war, und sagte immer wieder mit dröhnender Stimme:
„SIE ESSEN JETZT DIESE SUPPE!"
So laut war das, dass alle Möbel und die Lampe klapperten.
Marnie wusste genau, wie die Tante sich jetzt fühlte. Das war jetzt nicht mehr komisch. Sie wollte gerade rufen:
„Lass doch meine Tante in Ruhe!" als Doktor Witzigmann immer kleiner wurde und, während er rosa anlief, sagte: „Ja, ist ja gut, ich bin etwas zu weit gegangen. Aber sie soll es doch wirklich verstehen..." Dabei schaute er an Marnie vorbei. Sie spürte einen leichten Luftzug, als würde etwas Großes vorbeiwehen und plötzlich war der Anwalt verschwunden. Auch der Teller mit Suppe war fort. Nur die Tante saß am Tisch, blass und ganz still, und Marnie, noch immer mit dem Ei vor sich.
Marnie wusste nicht, was sie tun sollte. Die Beiden saßen einfach nur da und schwiegen. Dann schaute die Tante auf, und lächelte. Sie sah plötzlich so freundlich und lieb aus.
„Es ist gut, Marnie. Du musst das Ei nicht essen. Geh zu deinen Cousinen und spiel mit ihnen. Es ist so ein schöner Tag. Und heute Abend gibt es Spaghetti Bolognese."
Das war Marnies Lieblingsessen. Woher wusste die Tante das? Aber das war ja ganz egal. Marnie war sich auf einmal sehr sicher, dass die Tante gar nicht böse und gemein war. Sie hatte einfach nur etwas vergessen: nämlich, dass sie selber mal ein kleines Mädchen war. Und das Schönste und Wichtigste war: Tante Käthe glaubte an Engel. Denn sonst hätte sie Doktor Witzigmann gar nicht sehen können. Sie und Tante Käthe hatten nun ein gemeinsames, großes Geheimnis.
Und Marnie würde es niemals jemandem erzählen.


Diese Probleme mit dem Essen kenne ich auch.
Ich musste einmal bei meiner Oma ein weiches Spiegelei aufessen, habe mich daraufhin übergeben und konnte jahrelang keine Spiegeleier mehr essen.
Das Problem gibt es tatsächlich auch heute noch: Ich kenne eine Familie, da bleibt der Teller solange stehen, bis aufgegessen ist. Das Kind bekommt sonst nichts anderes zu essen.
Ich habe die Geschichte mit viel Schmunzeln gelesen. Die Idee mit dem Anwalt der Schutzengel gefällt mir gut.
Wasserlinse
Marnie hatte ein Problem - ein gewaltiges Problem.
Sie verbrachte das Wochenende bei ihren Cousinen Tina, Luise und Katja, weil Mama und Papa zu irgendwelchen Spielen nach Salzburg gefahren sind.
Sie verstand überhaupt nicht, warum sie da nicht mit durfte. Mama hat gesagt, dafür wäre sie zu klein und das wäre alles ganz langweilig. Wenn das so langweilig ist, warum fahren sie denn dann (überflüssig) dahin? Erwachsene sind und bleiben komisch.
Aber das war jetzt gar nicht ihr Problem.
Gestern noch war es sehr lustig. Sie mochte ihre Cousinen gern, und sie haben zusammen Verstecken gespielt und Fangen. Abends gab`s eine Kissenschlacht - sie lachten so viel und so doll, bis dass ihre Bäuche weh taten (Leerzeichen fehlt). Und (besser weglassen) bis Tante Käthe hereinkam und mit Schlägen drohte, wenn sie nicht sofort still wären.
Tante Käthe. Marnie konnte die Tante nicht leiden. Sie war so streng und auch furchtbar hässlich und riesengroß.
Marnie hatte richtig Angst vor ihr.
Nun war Sonntag morgen, die Sonne schien - ein herrlicher Tag. Sie saßen alle am Frühstückstisch. Tante Käthe, Onkel Otto (der war ganz klein und lieb und witzig) Tina, Luise, Katja und Marnie. Alle waren gut gelaunt, redeten und lachten viel. Sogar Tante Käthe. Nur Marnie nicht. Denn vor ihr stand es. Das Problem:
Ein weichgekochtes Frühstücksei.
Brrr. Igitt. Sie ekelte sich furchtbar vor weichen Eiern. Das hier war sogar so weich, dass das Weiße noch durchsichtig war und über dem hellgelben Dotter glibberte.
„Marnie, was ist denn los?" fragte der Onkel. „Du sagst ja gar nichts? Hast du aus Versehen deine Zunge mitgegessen?"
Die Cousinen kicherten, und Marnie lächelte zaghaft.
„Du hast dein Ei noch nicht gegessen, Marnie."
Tante Käthe schaute sie streng an. Oje, was sollte sie nur tun?
„Mach mal voran, wir sind alle schon fertig und warten nur auf dich."
„Ich mag keine weichen Eier."
„Wie bitte?" Die Stimme der Tante war drohend. Marnie traute sich nicht hoch zu sehen. Doch sie wiederholte tapfer:
„Ich mag keine weichen Eier. Die sind eklig. Da muss ich brechen von."
Keiner sagte etwas. Es war so still, dass die Luft ganz schwer wurde, und Marnie fühlte sich ganz kalt. Nach einiger Zeit schaute sie hoch. Ihre Cousinen sahen erschrocken aus, und schielten ängstlich zu ihrer Mutter. Der Onkel grinste unsicher.
„Das Ei wird gegessen, mein Fräulein. Und zwar sofort!" Sehr leise sagte die Tante das, aber bestimmt.
„Aber zu Hause muss ich das auch nicht essen. Mama hat gesagt, ich muss nichts essen, was ich nicht mag."
Nun schauten ihre Cousinen sie ganz bewundernd an. Als hätte sie erzählt, dass sie ihr Lieblingspferd Nora vom Reiterhof, wo sie oft hingingen, auf ihren Armen von der Koppel in die Box getragen hat, weil es wieder nicht wollte. Wie Pippi Langstrumpf.
Unwillkürlich musste sie grinsen.
„DIR WIRD DAS LACHEN GLEICH VERGEHEN!! HIER WIRD GEGESSEN WAS AUF DEN TISCH KOMMT! DU BLEIBST SOLANGE HIER SITZEN, BIS DU AUFGEGESSEN HAST!"
Tante Käthe brüllte so laut, dass das Frühstücksgeschirr leise klirrte. Sie stand jetzt, die Hände in die Seiten gestützt, vor Marnie. Das breite Gesicht mit der dicken Nase war rot angelaufen, einige Strähnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst. Ihr riesiger Busen unter dem Kittel ging auf und ab. Das sah aus, als versuchte ein Buckelwal aus dem Kittel auszubrechen.
Aber Marnie war nun wirklich nicht mehr nach Grinsen zumute. Ihr Gesicht war heiß, ihr Bauch fühlte sich an wie eine glühende Murmel, und ihre Arme und Beine wie Kaugummi. Zudem war da noch ein dicker Klops im Hals.
„Nun lass sie doch, Käthe. Wenn Ingrid und Bernd sie nicht zw......"
„Du hälst dich da raus. Tina, Luise, Katja, ihr räumt die Spülmaschine ein und geht nach draußen spielen. Otto, bring bitte den Müll raus, und dann mach deinen Spaziergang. Ich geh jetzt nach oben und mach die Betten. Und wenn ich wiederkomme, hast du dieses Ei gegessen!!"
Schweigend taten ihre Cousinen, wie ihnen befohlen wurde. Onkel Otto nahm den Müll. Im Hinausgehen zwinkerte er Marnie zu und lächelte traurig.
Tante Käthe wischte den Tisch ab, warf den Lappen in die Spüle und ging auch aus der Küche.
Nun war es ganz still. Marnie konnte sich gar nicht bewegen und starrte in ihr Frühstücksei. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, doch sie liefen einfach ihr Gesicht herunter. Das war alles so gemein.
So unendlich ungerecht.
Plötzlich sah sie etwas im Ei. Was war das denn? Sie wischte die Tränen aus dem Gesicht, und zwinkerte fest mit den Augen, bis sie wieder klar sehen konnte. Da war ein winziger, schwarzer Punkt im Eidotter. Und der wurde immer größer. Ihr Herz fing an zu klopfen. Da war was in dem Ei! Das wuchs und wuchs, und dann war das Eidotter ganz schwarz, wölbte sich und - etwas schoss heraus und landete auf dem Tisch.
Marnie schrie auf und duckte sich weg, ihr Herz raste und sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ein Monster im Ei! Hilfe! Sie nahm die Hände nicht weg. Sie mochte nicht hinschauen. Wenn das jetzt beißt?
„Ich hab doch immer gesagt, dass das nicht lustig ist. Aber nein. Immer wissen sie es besser. Aufheitern. Ha! Verängstigt ist sie."
Marnie traute ihren Ohren nicht. Das konnte sprechen. Eine piepsige Stimme, die verärgert klang.
„Nun nimm schon die Hände vom Gesicht. Hallo, Marnie. Ich tu dir nichts!"
Vorsichtig lugte sie durch die Finger. Ihr Unterkiefer fiel nach unten und endlich auch ihre Hände.
Da stand ein winziges Männlein, mit Eidotter verklebt und schüttelte sich.
„Wäh, ist das eklig. Kannst du mir bitte einen sauberen Eierbecher mit Wasser bringen?"
Marnie starrte das Männlein an.
„Haaaallooo. Mach den Mund zu und hol mir einen Eierbecher. Bitte."
Marnie stand, wie von jemand anderem geführt auf, und holte dem Männchen das Gewünschte.
Dann setzte sie sich wieder hin und beobachtete fassungslos, wie das Männlein badete.
Dann sprang es hinaus, schüttelte sich erneut .
„Würdest du mich jetzt anpusten? Ich weiß ja, dass du verwirrt bist, aber tu mir den Gefallen. Hach, wie ich diese Aufträge hasse. Lustig. Ich weiß wirklich nicht, was daran lustig ist."
Marnie pustete, und das Männlein wirbelte herum.
„Das reicht jetzt. Hey es reicht, ich bin trocken."
Das Männlein hatte einen schwarzen Umhang an, ein kluges Gesicht mit vielen Falten, weiße dünne Haare und eine winzige Brille mit einem Goldrand.
Es lief mit wehendem Umhang zu der Serviette neben Marnies Ellenbogen, riss ein Stückchen ab, und begann die Brille zu putzen.
„Wer bist du?"
Marnie fand endlich ihre Stimme wieder. Dies Männlein war zu lustig, um Angst haben zu müssen. Es passieren manchmal komische Dinge, eigentlich war das doch ganz normal.
Der kleine Mann setzte die Brille auf, stellte sich so hin, dass sie gerade auf ihn schauen konnte, strich sich die Haare aus dem Gesichtchen, machte eine knappe Verbeugung.
„Gestatten. Advocatus Angeli. Ich bin geschickt worden, deine Interessen gegenüber der Tante wahrzunehmen. Das heißt, ich verteidige dich. Ich werde auf Freispruch plädieren, das heißt, ich werde versuchen zu erreichen, dass du das Ei nicht essen musst. Und vielleicht erreiche ich sogar, dass niemand mehr bei ihr irgendetwas essen muss, was er oder sie nicht mag."
„Advocatus Angeli. Das ist ein lustiger Name. Und du bist sehr mutig. Meine Tante ist furchtbar streng. Du wohnst in Eiern?"
Das Männlein machte ein wütendes Gesicht.
„Nein. Meine Auftraggeber finden das lustig. Die Kinder, die in diese Not geraten, und soviel Phantasie besitzen mich sehen zu können, sollen dadurch erst mal zum Lachen gebracht werden. Aber sie erschrecken eigentlich immer. Und ich muss ständig durch diese eklige Gülle tauchen. Eidotter geht ja noch. Ich find Haferschleim und Rahmspinat schlimmer. Ich kann daran nichts Witziges finden. Aber Schutzengel können verdammt stur sein. Sie sagen, hinterher sei das sehr lustig. Und es wäre viel bedrohlicher, wenn ich als normaler Anwalt in Robe plötzlich neben dir sitzen würde. Na ja, argumentieren können sie, das muss man ihnen lassen....... Robe ist der Name für meinen schwarzen Umhang. So was tragen alle Anwälte." fügte er hinzu, denn Marnie guckte völlig verdattert.
Doch das interessierte sie gar nicht.
„Schutzengel?? Du kommst von den Schutzengeln?"
„Ja, natürlich. Du weißt doch, dass du einen Schutzengel hast? Natürlich weißt du das, sonst könntest du mich ja gar nicht sehen. Mein Name ist auch nicht Advocatus Angeli. Das ist meine Berufsbezeichnung und heißt Anwalt der Engel. Mein Name ist Doktor Witzigmann. Und ich sag gleich, das ist nicht witzig!"
Das Männlein verschränkte die Arme vor seinen Bauch. Doch Marnie lachte gar nicht. Sie staunte, und dachte nach.
Ja, Papa hat oft gesagt, dass sie einen guten Schutzengel hat. Letztens erst, als sie vom Baum gefallen war, (Komma zuviel) und sich nichts gebrochen hatte. Sie hat ihn sich immer als großen, blonden Mann mit weißen Flügeln vorgestellt.
Und jetzt hat er ihr einen kleinen Mann in einem schwarzen Umhang geschickt, der sie vor der Tante beschützen soll. Marnie war glücklich.
„Ist mein Schutzengel ein großer, blonder Mann mit Flügeln?"
Dr. Witzigmann hob den Zeigefinger.
„Das darf ich dir nicht sagen. Meine Auftraggeber bleiben unsichtbar. Aber- " sagte er lächelnd, als er Marnies Enttäuschung merkte „eigentlich sehen sie immer so aus, wie man sie sich vorstellt."
Plötzlich hörten sie Schritte im Flur.
„Oh je. Meine Tante kommt. Schnell, verschwinde. Sie wird bestimmt furchtbar böse."
„Keine Angst. Ich verschwinde nicht. Im Gegenteil."
Er schlug sich mit der Hand auf die Brust, und war auf einmal viel größer. So groß wie eine Kaffeekanne.
Er stand mitten auf dem Tisch, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, und schaute streng und wichtig drein.
Tante Käthe betrat die Küche, in einer Hand einen Teppichklopfer.
„So, jetzt wollen wir doch mal....." Sie schwieg mitten im Satz, blieb wie angewurzelt stehen, und ihr Mund klappte auf. Sie starrte auf Doktor Witzigmann. Im Gesicht wurde sie auf einmal weiß, wie Mehl.
Der kleine Anwalt räusperte sich.
„Guten Morgen, Frau Wadenberg. Wie Sie sehen, ist Marnie nicht mehr allein, und hat ihr Ei noch immer nicht gegessen. Mein Name ist Doktor Witzigmann - Advocatus Angeli. Ich sehe, Sie haben vor, ihre Teppiche zu reinigen. Ich nehme dies an - in Ihrem Sinne. Dies müssen Sie ein wenig verschieben, denn ich bin beauftragt worden, Marnie vor Ihnen zu verteidigen. Sind Sie damit einverstanden?"
Die Tante machte ein komisches Geräusch.
„Nun ..." Doktor Witzigmann fing an, auf dem Tisch hin und her zu laufen, immer noch die Hände auf dem Rücken.
„Ich denke, dass der Fall recht eindeutig ist, (Komma zuviel) und es nicht sehr lange dauern wird, Sie zu überzeugen. Sie wollen Marnie zwingen ein weiches Ei zu essen, obwohl sie sich davor ekelt. Ist das richtig so?"
Er drehte sich mit Schwung herum, so dass die Robe und seine weißen Haare wirbelten, (Komma zuviel) und schaute die Tante sehr streng an. Die Tante sagte noch immer nichts.
„Ich habe Sie gefragt, ob das so richtig ist!" Der kleine Anwalt wurde richtig böse.
Endlich nickte die Tante.
„Ja, das hab ich. Denn Eier sind gesund." flüsterte sie.
„Danach hab ich Sie nicht gefragt. Aber nun gut. Ich nehme das zur Kenntnis. Es ist vieles gesund, nicht wahr. Auch vieles, was Marnie gerne isst. Wie gesagt, die Beweisführung wird nicht lange dauern. Ich weise Sie auf eines unserer Gesetze hin, ein Gesetz, welches Sie auch gut kennen. Das da lautet:
Was du nicht willst was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!
Ich werde nun etwas vorführen und damit, wie ich meine, eindeutig belegen, dass sie dieses Gesetz aufs Gröbste missachtet haben."
Doktor Witzigmann schnippte mit den Fingern. Auf einmal stand ein Teller mit einer dampfenden, eklig aussehenden, schwarzroten Masse auf dem Tisch.
„Blutsuppe!" flüsterte die Tante und ging einen Schritt rückwärts.
Blutsuppe, dachte Marnie. Sie kannte nur Blutwurst. Die mochte sie eigentlich ganz gern, obwohl ihr ganz anders wurde, als Mama ihr erzählt hat, dass die tatsächlich aus Tierblut gemacht ist. Aber Blutsuppe! Igitt!
„Ich fordere Sie hiermit auf, diese köstliche und gesunde Suppe zu essen."
Tante Käthe schüttelte den Kopf.
„Setzen Sie sich bitte an den Tisch, und essen Sie die Suppe. Sie wollen nicht?"
Die Tante setzte sich an den Tisch, aber (Marnie ahnte, weglassen, sonst schwerer zu verstehen) nur deshalb, weil ihre Beine nicht mehr stehen wollten.
„Ich kann die Suppe nicht essen."
Doktor Witzigmann klopfte sich auf die Brust, und wurde mit einem Mal so groß, dass er sich den Kopf an der Decke stieß. Schließlich stand er ja noch auf dem Tisch.
„Autsch. Mist. Entschuldigung." Seine Stimme war plötzlich sehr tief und laut.
Marnie blieb das Kichern im Hals stecken, denn der Anwalt stand jetzt auf dem Boden, und war bestimmt drei Meter groß. Er stand vor der Tante, riesig wie er war, und sagte immer wieder mit dröhnender Stimme:
„SIE ESSEN JETZT DIESE SUPPE!"
So laut war das, dass alle Möbel und die Lampe klapperten.
Marnie wusste genau, wie die Tante sich jetzt fühlte. Das war jetzt nicht mehr komisch. Sie wollte gerade rufen:
„Lass doch meine Tante in Ruhe!" als Doktor Witzigmann immer kleiner wurde und, während er rosa anlief, sagte: „Ja, ist ja gut, ich bin etwas zu weit gegangen. Aber sie soll es doch wirklich verstehen..." Dabei schaute er an Marnie vorbei. Sie spürte einen leichten Luftzug, als würde etwas Großes vorbeiwehen und plötzlich war der Anwalt verschwunden. Auch der Teller mit Suppe war fort. Nur die Tante saß am Tisch, blass und ganz still, und Marnie, noch immer mit dem Ei vor sich.
Marnie wusste nicht, was sie tun sollte. Die Beiden saßen einfach nur da und schwiegen. Dann schaute die Tante auf, und lächelte. Sie sah plötzlich so freundlich und lieb aus.
„Es ist gut, Marnie. Du musst das Ei nicht essen. Geh zu deinen Cousinen und spiel mit ihnen. Es ist so ein schöner Tag. Und heute Abend gibt es Spaghetti Bolognese."
Das war Marnies Lieblingsessen. Woher wusste die Tante das? Aber das war ja ganz egal. Marnie war sich auf einmal sehr sicher, dass die Tante gar nicht böse und gemein war. Sie hatte einfach nur etwas vergessen: nämlich, dass sie selber mal ein kleines Mädchen war. Und das Schönste und Wichtigste war: Tante Käthe glaubte an Engel. Denn sonst hätte sie Doktor Witzigmann gar nicht sehen können. Sie und Tante Käthe hatten nun ein gemeinsames, großes Geheimnis.
Und Marnie würde es niemals jemandem erzählen.


Diese Probleme mit dem Essen kenne ich auch.
Ich musste einmal bei meiner Oma ein weiches Spiegelei aufessen, habe mich daraufhin übergeben und konnte jahrelang keine Spiegeleier mehr essen.
Das Problem gibt es tatsächlich auch heute noch: Ich kenne eine Familie, da bleibt der Teller solange stehen, bis aufgegessen ist. Das Kind bekommt sonst nichts anderes zu essen.
Ich habe die Geschichte mit viel Schmunzeln gelesen. Die Idee mit dem Anwalt der Schutzengel gefällt mir gut.
Wasserlinse
Marnie hatte ein Problem - ein gewaltiges Problem.
Sie verbrachte das Wochenende bei ihren Cousinen Tina, Luise und Katja, weil Mama und Papa zu irgendwelchen Spielen nach Salzburg gefahren sind.
Sie verstand überhaupt nicht, warum sie da nicht mit durfte. Mama hat gesagt, dafür wäre sie zu klein und das wäre alles ganz langweilig. Wenn das so langweilig ist, warum fahren sie denn dann (überflüssig) dahin? Erwachsene sind und bleiben komisch.
Aber das war jetzt gar nicht ihr Problem.
Gestern noch war es sehr lustig. Sie mochte ihre Cousinen gern, und sie haben zusammen Verstecken gespielt und Fangen. Abends gab`s eine Kissenschlacht - sie lachten so viel und so doll, bis dass ihre Bäuche weh taten (Leerzeichen fehlt). Und (besser weglassen) bis Tante Käthe hereinkam und mit Schlägen drohte, wenn sie nicht sofort still wären.
Tante Käthe. Marnie konnte die Tante nicht leiden. Sie war so streng und auch furchtbar hässlich und riesengroß.
Marnie hatte richtig Angst vor ihr.
Nun war Sonntag morgen, die Sonne schien - ein herrlicher Tag. Sie saßen alle am Frühstückstisch. Tante Käthe, Onkel Otto (der war ganz klein und lieb und witzig) Tina, Luise, Katja und Marnie. Alle waren gut gelaunt, redeten und lachten viel. Sogar Tante Käthe. Nur Marnie nicht. Denn vor ihr stand es. Das Problem:
Ein weichgekochtes Frühstücksei.
Brrr. Igitt. Sie ekelte sich furchtbar vor weichen Eiern. Das hier war sogar so weich, dass das Weiße noch durchsichtig war und über dem hellgelben Dotter glibberte.
„Marnie, was ist denn los?" fragte der Onkel. „Du sagst ja gar nichts? Hast du aus Versehen deine Zunge mitgegessen?"
Die Cousinen kicherten, und Marnie lächelte zaghaft.
„Du hast dein Ei noch nicht gegessen, Marnie."
Tante Käthe schaute sie streng an. Oje, was sollte sie nur tun?
„Mach mal voran, wir sind alle schon fertig und warten nur auf dich."
„Ich mag keine weichen Eier."
„Wie bitte?" Die Stimme der Tante war drohend. Marnie traute sich nicht hoch zu sehen. Doch sie wiederholte tapfer:
„Ich mag keine weichen Eier. Die sind eklig. Da muss ich brechen von."
Keiner sagte etwas. Es war so still, dass die Luft ganz schwer wurde, und Marnie fühlte sich ganz kalt. Nach einiger Zeit schaute sie hoch. Ihre Cousinen sahen erschrocken aus, und schielten ängstlich zu ihrer Mutter. Der Onkel grinste unsicher.
„Das Ei wird gegessen, mein Fräulein. Und zwar sofort!" Sehr leise sagte die Tante das, aber bestimmt.
„Aber zu Hause muss ich das auch nicht essen. Mama hat gesagt, ich muss nichts essen, was ich nicht mag."
Nun schauten ihre Cousinen sie ganz bewundernd an. Als hätte sie erzählt, dass sie ihr Lieblingspferd Nora vom Reiterhof, wo sie oft hingingen, auf ihren Armen von der Koppel in die Box getragen hat, weil es wieder nicht wollte. Wie Pippi Langstrumpf.
Unwillkürlich musste sie grinsen.
„DIR WIRD DAS LACHEN GLEICH VERGEHEN!! HIER WIRD GEGESSEN WAS AUF DEN TISCH KOMMT! DU BLEIBST SOLANGE HIER SITZEN, BIS DU AUFGEGESSEN HAST!"
Tante Käthe brüllte so laut, dass das Frühstücksgeschirr leise klirrte. Sie stand jetzt, die Hände in die Seiten gestützt, vor Marnie. Das breite Gesicht mit der dicken Nase war rot angelaufen, einige Strähnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst. Ihr riesiger Busen unter dem Kittel ging auf und ab. Das sah aus, als versuchte ein Buckelwal aus dem Kittel auszubrechen.
Aber Marnie war nun wirklich nicht mehr nach Grinsen zumute. Ihr Gesicht war heiß, ihr Bauch fühlte sich an wie eine glühende Murmel, und ihre Arme und Beine wie Kaugummi. Zudem war da noch ein dicker Klops im Hals.
„Nun lass sie doch, Käthe. Wenn Ingrid und Bernd sie nicht zw......"
„Du hälst dich da raus. Tina, Luise, Katja, ihr räumt die Spülmaschine ein und geht nach draußen spielen. Otto, bring bitte den Müll raus, und dann mach deinen Spaziergang. Ich geh jetzt nach oben und mach die Betten. Und wenn ich wiederkomme, hast du dieses Ei gegessen!!"
Schweigend taten ihre Cousinen, wie ihnen befohlen wurde. Onkel Otto nahm den Müll. Im Hinausgehen zwinkerte er Marnie zu und lächelte traurig.
Tante Käthe wischte den Tisch ab, warf den Lappen in die Spüle und ging auch aus der Küche.
Nun war es ganz still. Marnie konnte sich gar nicht bewegen und starrte in ihr Frühstücksei. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, doch sie liefen einfach ihr Gesicht herunter. Das war alles so gemein.
So unendlich ungerecht.
Plötzlich sah sie etwas im Ei. Was war das denn? Sie wischte die Tränen aus dem Gesicht, und zwinkerte fest mit den Augen, bis sie wieder klar sehen konnte. Da war ein winziger, schwarzer Punkt im Eidotter. Und der wurde immer größer. Ihr Herz fing an zu klopfen. Da war was in dem Ei! Das wuchs und wuchs, und dann war das Eidotter ganz schwarz, wölbte sich und - etwas schoss heraus und landete auf dem Tisch.
Marnie schrie auf und duckte sich weg, ihr Herz raste und sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ein Monster im Ei! Hilfe! Sie nahm die Hände nicht weg. Sie mochte nicht hinschauen. Wenn das jetzt beißt?
„Ich hab doch immer gesagt, dass das nicht lustig ist. Aber nein. Immer wissen sie es besser. Aufheitern. Ha! Verängstigt ist sie."
Marnie traute ihren Ohren nicht. Das konnte sprechen. Eine piepsige Stimme, die verärgert klang.
„Nun nimm schon die Hände vom Gesicht. Hallo, Marnie. Ich tu dir nichts!"
Vorsichtig lugte sie durch die Finger. Ihr Unterkiefer fiel nach unten und endlich auch ihre Hände.
Da stand ein winziges Männlein, mit Eidotter verklebt und schüttelte sich.
„Wäh, ist das eklig. Kannst du mir bitte einen sauberen Eierbecher mit Wasser bringen?"
Marnie starrte das Männlein an.
„Haaaallooo. Mach den Mund zu und hol mir einen Eierbecher. Bitte."
Marnie stand, wie von jemand anderem geführt auf, und holte dem Männchen das Gewünschte.
Dann setzte sie sich wieder hin und beobachtete fassungslos, wie das Männlein badete.
Dann sprang es hinaus, schüttelte sich erneut .
„Würdest du mich jetzt anpusten? Ich weiß ja, dass du verwirrt bist, aber tu mir den Gefallen. Hach, wie ich diese Aufträge hasse. Lustig. Ich weiß wirklich nicht, was daran lustig ist."
Marnie pustete, und das Männlein wirbelte herum.
„Das reicht jetzt. Hey es reicht, ich bin trocken."
Das Männlein hatte einen schwarzen Umhang an, ein kluges Gesicht mit vielen Falten, weiße dünne Haare und eine winzige Brille mit einem Goldrand.
Es lief mit wehendem Umhang zu der Serviette neben Marnies Ellenbogen, riss ein Stückchen ab, und begann die Brille zu putzen.
„Wer bist du?"
Marnie fand endlich ihre Stimme wieder. Dies Männlein war zu lustig, um Angst haben zu müssen. Es passieren manchmal komische Dinge, eigentlich war das doch ganz normal.
Der kleine Mann setzte die Brille auf, stellte sich so hin, dass sie gerade auf ihn schauen konnte, strich sich die Haare aus dem Gesichtchen, machte eine knappe Verbeugung.
„Gestatten. Advocatus Angeli. Ich bin geschickt worden, deine Interessen gegenüber der Tante wahrzunehmen. Das heißt, ich verteidige dich. Ich werde auf Freispruch plädieren, das heißt, ich werde versuchen zu erreichen, dass du das Ei nicht essen musst. Und vielleicht erreiche ich sogar, dass niemand mehr bei ihr irgendetwas essen muss, was er oder sie nicht mag."
„Advocatus Angeli. Das ist ein lustiger Name. Und du bist sehr mutig. Meine Tante ist furchtbar streng. Du wohnst in Eiern?"
Das Männlein machte ein wütendes Gesicht.
„Nein. Meine Auftraggeber finden das lustig. Die Kinder, die in diese Not geraten, und soviel Phantasie besitzen mich sehen zu können, sollen dadurch erst mal zum Lachen gebracht werden. Aber sie erschrecken eigentlich immer. Und ich muss ständig durch diese eklige Gülle tauchen. Eidotter geht ja noch. Ich find Haferschleim und Rahmspinat schlimmer. Ich kann daran nichts Witziges finden. Aber Schutzengel können verdammt stur sein. Sie sagen, hinterher sei das sehr lustig. Und es wäre viel bedrohlicher, wenn ich als normaler Anwalt in Robe plötzlich neben dir sitzen würde. Na ja, argumentieren können sie, das muss man ihnen lassen....... Robe ist der Name für meinen schwarzen Umhang. So was tragen alle Anwälte." fügte er hinzu, denn Marnie guckte völlig verdattert.
Doch das interessierte sie gar nicht.
„Schutzengel?? Du kommst von den Schutzengeln?"
„Ja, natürlich. Du weißt doch, dass du einen Schutzengel hast? Natürlich weißt du das, sonst könntest du mich ja gar nicht sehen. Mein Name ist auch nicht Advocatus Angeli. Das ist meine Berufsbezeichnung und heißt Anwalt der Engel. Mein Name ist Doktor Witzigmann. Und ich sag gleich, das ist nicht witzig!"
Das Männlein verschränkte die Arme vor seinen Bauch. Doch Marnie lachte gar nicht. Sie staunte, und dachte nach.
Ja, Papa hat oft gesagt, dass sie einen guten Schutzengel hat. Letztens erst, als sie vom Baum gefallen war, (Komma zuviel) und sich nichts gebrochen hatte. Sie hat ihn sich immer als großen, blonden Mann mit weißen Flügeln vorgestellt.
Und jetzt hat er ihr einen kleinen Mann in einem schwarzen Umhang geschickt, der sie vor der Tante beschützen soll. Marnie war glücklich.
„Ist mein Schutzengel ein großer, blonder Mann mit Flügeln?"
Dr. Witzigmann hob den Zeigefinger.
„Das darf ich dir nicht sagen. Meine Auftraggeber bleiben unsichtbar. Aber- " sagte er lächelnd, als er Marnies Enttäuschung merkte „eigentlich sehen sie immer so aus, wie man sie sich vorstellt."
Plötzlich hörten sie Schritte im Flur.
„Oh je. Meine Tante kommt. Schnell, verschwinde. Sie wird bestimmt furchtbar böse."
„Keine Angst. Ich verschwinde nicht. Im Gegenteil."
Er schlug sich mit der Hand auf die Brust, und war auf einmal viel größer. So groß wie eine Kaffeekanne.
Er stand mitten auf dem Tisch, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, und schaute streng und wichtig drein.
Tante Käthe betrat die Küche, in einer Hand einen Teppichklopfer.
„So, jetzt wollen wir doch mal....." Sie schwieg mitten im Satz, blieb wie angewurzelt stehen, und ihr Mund klappte auf. Sie starrte auf Doktor Witzigmann. Im Gesicht wurde sie auf einmal weiß, wie Mehl.
Der kleine Anwalt räusperte sich.
„Guten Morgen, Frau Wadenberg. Wie Sie sehen, ist Marnie nicht mehr allein, und hat ihr Ei noch immer nicht gegessen. Mein Name ist Doktor Witzigmann - Advocatus Angeli. Ich sehe, Sie haben vor, ihre Teppiche zu reinigen. Ich nehme dies an - in Ihrem Sinne. Dies müssen Sie ein wenig verschieben, denn ich bin beauftragt worden, Marnie vor Ihnen zu verteidigen. Sind Sie damit einverstanden?"
Die Tante machte ein komisches Geräusch.
„Nun ..." Doktor Witzigmann fing an, auf dem Tisch hin und her zu laufen, immer noch die Hände auf dem Rücken.
„Ich denke, dass der Fall recht eindeutig ist, (Komma zuviel) und es nicht sehr lange dauern wird, Sie zu überzeugen. Sie wollen Marnie zwingen ein weiches Ei zu essen, obwohl sie sich davor ekelt. Ist das richtig so?"
Er drehte sich mit Schwung herum, so dass die Robe und seine weißen Haare wirbelten, (Komma zuviel) und schaute die Tante sehr streng an. Die Tante sagte noch immer nichts.
„Ich habe Sie gefragt, ob das so richtig ist!" Der kleine Anwalt wurde richtig böse.
Endlich nickte die Tante.
„Ja, das hab ich. Denn Eier sind gesund." flüsterte sie.
„Danach hab ich Sie nicht gefragt. Aber nun gut. Ich nehme das zur Kenntnis. Es ist vieles gesund, nicht wahr. Auch vieles, was Marnie gerne isst. Wie gesagt, die Beweisführung wird nicht lange dauern. Ich weise Sie auf eines unserer Gesetze hin, ein Gesetz, welches Sie auch gut kennen. Das da lautet:
Was du nicht willst was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!
Ich werde nun etwas vorführen und damit, wie ich meine, eindeutig belegen, dass sie dieses Gesetz aufs Gröbste missachtet haben."
Doktor Witzigmann schnippte mit den Fingern. Auf einmal stand ein Teller mit einer dampfenden, eklig aussehenden, schwarzroten Masse auf dem Tisch.
„Blutsuppe!" flüsterte die Tante und ging einen Schritt rückwärts.
Blutsuppe, dachte Marnie. Sie kannte nur Blutwurst. Die mochte sie eigentlich ganz gern, obwohl ihr ganz anders wurde, als Mama ihr erzählt hat, dass die tatsächlich aus Tierblut gemacht ist. Aber Blutsuppe! Igitt!
„Ich fordere Sie hiermit auf, diese köstliche und gesunde Suppe zu essen."
Tante Käthe schüttelte den Kopf.
„Setzen Sie sich bitte an den Tisch, und essen Sie die Suppe. Sie wollen nicht?"
Die Tante setzte sich an den Tisch, aber (Marnie ahnte, weglassen, sonst schwerer zu verstehen) nur deshalb, weil ihre Beine nicht mehr stehen wollten.
„Ich kann die Suppe nicht essen."
Doktor Witzigmann klopfte sich auf die Brust, und wurde mit einem Mal so groß, dass er sich den Kopf an der Decke stieß. Schließlich stand er ja noch auf dem Tisch.
„Autsch. Mist. Entschuldigung." Seine Stimme war plötzlich sehr tief und laut.
Marnie blieb das Kichern im Hals stecken, denn der Anwalt stand jetzt auf dem Boden, und war bestimmt drei Meter groß. Er stand vor der Tante, riesig wie er war, und sagte immer wieder mit dröhnender Stimme:
„SIE ESSEN JETZT DIESE SUPPE!"
So laut war das, dass alle Möbel und die Lampe klapperten.
Marnie wusste genau, wie die Tante sich jetzt fühlte. Das war jetzt nicht mehr komisch. Sie wollte gerade rufen:
„Lass doch meine Tante in Ruhe!" als Doktor Witzigmann immer kleiner wurde und, während er rosa anlief, sagte: „Ja, ist ja gut, ich bin etwas zu weit gegangen. Aber sie soll es doch wirklich verstehen..." Dabei schaute er an Marnie vorbei. Sie spürte einen leichten Luftzug, als würde etwas Großes vorbeiwehen und plötzlich war der Anwalt verschwunden. Auch der Teller mit Suppe war fort. Nur die Tante saß am Tisch, blass und ganz still, und Marnie, noch immer mit dem Ei vor sich.
Marnie wusste nicht, was sie tun sollte. Die Beiden saßen einfach nur da und schwiegen. Dann schaute die Tante auf, und lächelte. Sie sah plötzlich so freundlich und lieb aus.
„Es ist gut, Marnie. Du musst das Ei nicht essen. Geh zu deinen Cousinen und spiel mit ihnen. Es ist so ein schöner Tag. Und heute Abend gibt es Spaghetti Bolognese."
Das war Marnies Lieblingsessen. Woher wusste die Tante das? Aber das war ja ganz egal. Marnie war sich auf einmal sehr sicher, dass die Tante gar nicht böse und gemein war. Sie hatte einfach nur etwas vergessen: nämlich, dass sie selber mal ein kleines Mädchen war. Und das Schönste und Wichtigste war: Tante Käthe glaubte an Engel. Denn sonst hätte sie Doktor Witzigmann gar nicht sehen können. Sie und Tante Käthe hatten nun ein gemeinsames, großes Geheimnis.
Und Marnie würde es niemals jemandem erzählen.


Diese Probleme mit dem Essen kenne ich auch.
Ich musste einmal bei meiner Oma ein weiches Spiegelei aufessen, habe mich daraufhin übergeben und konnte jahrelang keine Spiegeleier mehr essen.
Das Problem gibt es tatsächlich auch heute noch: Ich kenne eine Familie, da bleibt der Teller solange stehen, bis aufgegessen ist. Das Kind bekommt sonst nichts anderes zu essen.
Ich habe die Geschichte mit viel Schmunzeln gelesen. Die Idee mit dem Anwalt der Schutzengel gefällt mir gut.
Wasserlinse
 



 
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