amnesie

M

margot

Gast
man hatte eine orientierungslose frau
in fürth aufgegriffen, die sichtlich
heruntergekommen vor der
tür des t-punkts lag
die schuhe musste man ihr von
den füßen schneiden
ihre fußsohlen waren enthäutet
zur selben zeit erschoß ein verrückter
drei menschen in einem erfurter gymnasium
und wartete auf seinen fall-down
durch ein spezialeinsatzkommando
nichts wird sein wie vorher, sagt
ein bürger und zerreißt
einen liebesbrief
im 3. stock des wohnblocks liegt ein
velassenes baby halbzugedeckt
in seiner wiege
und plärrt sich vor hunger die seele
aus dem leib
während unten ein penner auf einer
parkbank in seiner kotze liegt
die sonne schein heute nicht
sie leidet unter amnesie

sie hat ihr scheinen vergessen

ich gehe in die nächste runde
unter mir rumort der erdkern
und rülpst zur erdkruste hoch
natürlich stürzen dabei ein paar häuser
in venezuela ein
ein südafrikanischer multimillionär
schwebt indessen in der umlaufbahn
und erfreut sich an der göttlichen kulisse
des blauen planeten
in meinem zimmer wird es dunkel
an der tastatur greifen meine finger daneben
wenn ich die musik abdrehe, höre ich
das rauschen der autobahn
ich möchte mich mit einem plakat auf
die autobahnbrücke stellen mit
der aufschrift:
„der wahnsinn fährt weiter!“

kraftfahrer dämmern dahin hinter ihren
steuerrädern
ein sattelzug zerdrückt eine wagenkolonne
zu brei
und ein herumirrendes unfallopfer wird
von einem kotflügel geköpft
wir sammeln die leichen ein
jeder tag bringt den totalen
erinnerungsverlust
natürlich gehe ich wieder in den super-
markt und stelle meine abgestumpften
gefühle aufs laufband
die kassiererin schaut grimmig
als der oma vor mir ihre börse aus der hand gleitet
in zeitlupe sehe ich die münzen herabsegeln
während die kassiererin plötzlich einen
silbrig glänzenden smith and wesson colt
aus dem nichts hervorholt
und sich in den kopf schießt
hirn und blut spritzt
mir ins gesicht

wo bezahle ich jetzt mein bier? denke ich
 
S

Sansibar

Gast
Wohin?

Liebe Margot,
weiß Gott eine Frage die der Analyse bedarf. Du hast fleißig Nachrichten gehört - und das waren doch "nur" die Botschaften von heute. Was fängst du mit den anderen Berichten an? Also ich, ich würde das Bier auf jedem Fall bezahlen, ein bischen Anstand muß doch noch sein, oder?
Gruß und werde nicht ver rückt bei den vielen Botschaften,
die so ein Medium wie das Fernsehen rund um die Uhr ausspuckt.
Prost Sansibar
 
M

margot

Gast
nah am thema - trotzdem daneben

hallo sansibar, ich hörte nur radio, und die hälfte
meiner eingebauten aktionen erfand ich dazu.
es gab nie eine frau, deren fußsohlen enthäutet wurden
- zumindest heute, außerdem wurde keinem unfallopfer
heute von einem kotflügel der kopf abrassiert und
zudem schreit in meiner nähe kein kind verhungernd
in seinem bettchen, und ich sah auch keinen penner
in seiner kotze liegen etc. .
außerdem durfte ich mein bier bezahlen heute abend
an der kasse, wahrscheinlich aus dem grunde, weil
der oma vor mir nicht die geldbörse runterfiel ...

ich gratuliere für die sensible einschätzung meines gedichts.

noch gute träume
margot
 

nally

Mitglied
na gott sei dank, war das bier mit drin...

der text gefällt mir. vor allem deine umschreibung eines erdbebens. man sollte eine solche zusammenfassung jeden SO nach den nachrichten bringen.
 
M

margot

Gast
hi nally

ich wünsche mir die erdbeben in den köpfen der menschen,
die selbstgefällig und abgestumpft in dem wahnsinn leben.
deswegen "amnesie". wir leben nicht nur in einer polit-
verdrossenheit sondern in einer lethargie - herbeigeführt
durch medien- und informationsüberflutung.
die dabei stattfindende verflachung der menschlichen
gemüter ist thema meines gedichts. ich mittendrin -
will mich gar nicht ausnehmen. ich teile die unzufrieden-
heit mit, die ich spüre. wenn wir uns nicht mit bier zu-
ballern, ballern wir uns mit allem möglichen anderen
scheißdreck zu - bis hin zum gegenseitigen abballern ...

was soll`s. weiter, solange der vorrat reicht.

margot
 
M

margot

Gast
hi nally

mit dieser schei...einstellung bin ich harmloser
als jeder zb. autofahrer. meine einstellung ist
kein potentielles tötungsinstrument. meine ein-
stellung ist folge meiner sichtweise der welt
und meiner lebenserfahrung. immerhin habe ich
eine einstellung, die einigermaßen mit meinen
taten und meinem alltag konform läuft. denn wenn
ich was nicht mag, ist es doppelbödigkeit, opportunismus
und oberflächliche selbstreflexion.
dagegen kämpfe ich bei mir an und beschreibe, was mir
am meiner umwelt auffällt, gefällt und mißfällt.
was für eine einstellung hast du denn, nally?

margot
 

nally

Mitglied
mag die welt auch noch so viel leid haben, mag einem auch so viel schlechtes passieren... bin ich gesund, lebe ich nach guten werten und genieße jeden tag
 

Moonshine

Mitglied
Hi,
als ich deinen Text las, hatte ich das Gefühl, jemand hätte den Irrsinn, den Stumpfsinn dieser Welt ein klein wenig eingefangen.

genau das sind doch die Nachrichten: da gibt es die News von einem Erdbeben, Krieg, Gewaltverbrechen, neben der Scheidung von Star X, Trennung der Band y.

Überflutung von schlechten Nachrichten aus der Welt, Wetter und der Stumpfsinn mit dem wir das aufnehmen.

Ich fand deinen Text richtig gut, denn er hat irgendeinen Nerv in mir getroffen.
mfg
Moonshine
 

Pseudorinym

Mitglied
Hallo Margot,
der Text hat was!Gefällt mir wirklich sehr gut.
Wenn man sich in dein (lyrisches?) Ich hineinversetzt
kann man den postmodernen Wahnsinn beim Lesen hautnah
miterleben und spüren.
Dazu würde auch das Bild von der Nachrichtensprecherin passen,die im einen Moment den Selbstmord
einer jungen Frau verkündet im nächsten Moment mit einem Strahlelächeln auf den Lippenden Gewinner des Ratequizs vorliest.

xxx
 
M

margot

Gast
es geht immer weiter

danke für eure statements, so etwas ähnliches
wollte ich hervorrufen.

beste 1.mai-grüße
margot
 



 
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