aus meinen memoiren: kirche

flammarion

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Old Icke und die Kirche

Vor dem Krieg ging Ida in die Kirche am Mirbachplatz (der Mirbachplatz befindet sich in der Pistoriusstraße, etwa 400 m von unserem Wohnhaus entfernt). Aber diese Kirche wurde im Krieg so stark beschädigt, daß die Gläubigen sich ein anderes Gotteshaus suchen mußten. Ida ging nun in die Kapelle der Baptisten Gemeinde in der Friesickestraße. Sonntagvormittags gab es hier auch einen Kinder-Gottesdienst, den Waltraud und ich regelmäßig besuchten.
Ich ging sehr gern in die Kirche. Erstens, weil es ein besonderer Ort mit eigenen Regeln war, zweitens wegen der schönen Geschichten, drittens weil hier nur das von mir verlangt wurde, was ich schon gut konnte, nämlich stillsitzen, leise sein und nach Aufforderung mitsingen, und viertens wegen der Orgel und den harmonischen Gesängen, die so voller Menschenliebe waren. Es machte mich sehr glücklich, zu erfahren, daß es einen gütigen Gott gibt, der alle Menschen liebt und versteht und der die Menschen dazu anhält, es ihm gleich zu tun durch das Gebot: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!" Die Vorstellung, nach meinem Tode im Chor der Engel mitsingen zu dürfen, hielt mich eher als alle Strafen und Verbote dazu an, stets brav und gehorsam zu sein. "Der liebe Gott sieht alles!", dieser Spruch hielt mich viele Jahre lang davon ab, ein eigenes Leben zu führen. Ich wollte gehorsam und gottesfürchtig sein. Ich wußte: Die Christen fürchten Gott, jedenfalls seine Strafe. Ich wollte niemals gestraft werden, nachdem ich Idas Hiebe empfangen hatte!
Die Baptisten-Kirche ist ein fast quadratischer Bau, damals dunkelgrau verputzt. Der einzige Zierrat waren die hohen bunten Glasfenster, auf denen Szenen aus der biblischen Geschichte dargestellt waren. Durch diese Fenster drang wenig Licht in das Kircheninnere. Um 1960 wurden die bleigefaßten Fenster entfernt und weiße, geriffelte Glasscheiben eingesetzt.
Mir Dreijährige schien der Kirchenraum riesig, obwohl er nur 15 Sitzreihen hatte. Waltraud saß neben mir, aber wenn Doris mit uns kam, setzten sich die beiden Mädchen nach hinten zu den Jungs. Ich war sehr eifrig und lernte die Gesänge und Gebete rasch, obwohl ich häufig den Inhalt nicht völlig verstand.
Nach erstem Anhören der Bergpredigt sagte Waltraud zu mir: "Du bist eene von die Seelijen, du bist ja arm am Jeiste!" Ich freute mich riesig, selig zu sein und überhörte die Gemeinheit.
Zu Hause beteten wir stets vor den Mahlzeiten: "Lieber Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast." Vor dem Einschlafen beteten wir: "Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein." Oder: "Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Äuglein zu. Vater, laß die Augen Dein über meinem Bette sein." Als ich dieses Gebet lernen sollte, verstand ich es zuerst einmal falsch, ich meinte, der Vater soll es unterlassen, mir beim Schlafen zuzusehen, damit er selbst ruhen kann. Ich fragte Ida, ob vielleicht MEIN Vater gemeint sei? (Ich konnte nicht glauben, daß der Herrgott, dem doch soviel an Keuschheit gelegen war, ein Vater sein konnte.) Sie lachte verächtlich: "Nee, Mensch, dein Vata lebt doch noch!" Nachdem ich mir viele Tage den Kopf darüber zerbrochen hatte, warum mein Vater mich nicht besucht, richtete ich die Frage an Ida. Sie antwortete: Er ist zu alt. Da war ich zum zweitenmal geschockt - ich wußte, daß Ida viel älter als mein Vater war!
Als Waltraud und Doris ins Flegelalter kamen, erfanden sie neue Gebete: "Lieba Jott, ick bete, mein Arsch, der is aus Kneete, mein Kopp, der is aus Holz, und dadruff bin ick schtolz!" oder: "Vata unsa, der du bist, unsre janzen Schrippn frißt, meine hast de ooch jefressn, det werd ick dir nie vajessen!" Für mich war es ein Spaß, aber ich wußte, daß Doris einen Vater hatte, der tatsächlich ihre Schrippen fraß.
Eines der zehn Gebote hörte sich bei Doris so an: "Vata un Mutta sollst de ehrn, wenn se dir schlaaren, denn sollste dir wehrn, un wenn se sich denn noch mucken, denn sollst de se in de Fresse spucken!" Nie hätte sie derartiges auch nur andeutungsweise gewagt, aber es war eine leichte Art, sich den Unmut über ihre häuslichen Verhältnisse von der Seele zu reden. Ich wußte, daß das alles nicht gar so ernst gemeint war und konnte auch mit ihr darüber lachen; aber wenn Grete L. sagte: "Wer Jott vatraut un Bretta klaut, hat bald ne billje Laube!", hatte ich das Gefühl, daß sie das durchaus ernst meinte und auch befürwortete. Auch hielt sie es für einen guten Witz, bei Regenwetter zu sagen: "Die Engel pinkeln."
Als Dreijährige erlebte ich mit Ida einen Ostergottesdienst. Der Geistliche mußte entsetzlich lavieren, um nach der Trauer um Jesu Tod noch ein Halleluja anbringen zu können. Dann sagte er: „Laßt uns diesen Gottesdienst feiern. Innerlich dachte ich: „Prima, jetzt gibt es was zu trinken! und freute mich auf Limonade, während ich Ida gern den Genuß von Alkohol gönnte, der zu einer Feier gehört wie das Amen in der Kirche. Ich war völlig aus dem Wind, als ich sah, daß es für Ida nur einen winzigen Schluck Wein aus einem Pokal - aus welchem (Pfui!) alle tranken und einem trockenen, geschmacklosen Keks (den ich mir lieber selber in den Mund steckte, als ihn von den gnubbeligen Pfarrersfingern hineingesteckt zu bekommen) - nichts weiter gab. Auf dem Heimweg fragte ich Ida, warum der Pfarrer das eine Feier nannte? Die Antwort war unbefriedigend.
Wer während des Kindergottesdienstes brav war, bekam von der Aufsicht einen Zettel mit einem Bibelspruch. Ich sammelte meine Zettel und hatte bald einen ganzen Stapel. Da kam mir in den Sinn, ein gutes christliches Werk zu tun und verteilte die Sprüche an jene Kinder, von denen ich wußte, daß sie nicht zur Kirche gingen. Ich bekniete sie mit frommen Worten, wie ich sie in der Kirche gehört hatte und machte ihnen klar, daß sie nach ihrem Tode nicht in den Himmel kommen, sondern im Fegefeuer schmoren werden, wenn sie sich nicht bald besinnen, in die Kirche gehen und gute Diener Gottes werden. Es war ein tolles Gefühl, in einer Schar aufmerksamer Lauscher im Mittelpunkt zu stehen. Meine Wangen röteten sich vor Eifer. Doch beim Erläutern der zehn Gebote wurde mir bewußt, wie sehr mir diese Aufmerksamkeit schmeichelte. Das Wort Gottes ist nicht da zu da, daß sich eine dumme Göre schmeicheln läßt! Ich brach mit hochrotem Kopf meine Rede ab. Die von mir angesprochenen Kinder kamen auch weiterhin nicht zum Gottesdienst. Ich war damals sieben Jahre alt.
In der Sonntagsschule gab es eine kleine Hymne, die stets zu Beginn oder am Schluß des Gottesdien-stes gesungen wurde: "Sonntagsschule, du sollst leben, wachsen, blühen und gedeihn, steter Jubel, stetes Leben soll in deinen Mauern sein . . ." (nach der Melodie des Weihnachtsliedes "Morgen, Kinder, wird s was geben")
An einem Sonntag verlief der Kindergottesdienst ganz anders als sonst. Es war ein sehr heißer Som-mertag, wir gingen nach dem "Vaterunser" in den Kirchgarten, von dessen Existenz die meisten von uns bis dahin gar nichts wußten. Der Pfarrer und das Aufsichtspersonal spielten mit uns die Kreisspiele, die wir Kinder sonst auf der Straße spielten: "Laurentia", "25 Bauernjungfern", "Stolzer König, was suchst du hier", "Ziehet durch die goldne Brücke", "Der Plumpsack", "Rote Kirschen eß ich gern", "Der Sand-mann ist da", "Es geht ein Bi-ba-butzemann", "Brüderchen, tanz mit mir" usw. Es war wunderschön und wiederholte sich nie.
Kurz darauf erzählte uns der Pfarrer eine Geschichte, mit der ich nicht einverstanden war. Sie handelte vom "Jüngsten Tag", wo sich herausstellen sollte, wer in den Himmel kommt und wer der ewigen Ver-dammnis anheimfällt. Der Pfarrer sprach: "Und da sie wandelten in der Finsternis, ging einigen das Öl aus in ihrer Glaubenslampe, und sie baten diejenigen, die mit ihnen gingen, ihnen etwas abzugeben von ihrem Glaubensöl. Doch niemand gab ihnen Öl, denn sie hatten im Leben genug Zeit, Glaubensöl zu sammeln, da es bei ihnen nun nicht reichte, fielen sie der ewigen Verdammnis anheim. Viele Tränen flossen bei ihren Angehörigen, aber es war zu spät." Wo war denn in diesem Moment das Gebot geblieben "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst"? War dies nicht die höchste Stunde der Not, wo jeder ein Schuft war, der nicht half? Ich hätte von meinem Öl abgegeben. Sollte doch dann der Allwissende über mich richten! (Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, ist man dann auch handlungsfähig, so verstand ich es. Sollte man nicht handlungsfähig sein, ist ein Leben nach dem Tode völlig unnütz. Und solange man handeln kann, sollte man - gerade im Angesicht der endgültigen Entscheidung! - wie ein guter Christ handeln.und hel-fen, wo man kann.)
Ida hatte auch Grete L. dazu angeregt, in die Kirche zu gehen. Oft gingen sie beide untergehakt zum Gottesdienst, etwa ein halbes Jahr lang. Dann erfand Grete L. Ausreden, denn der Kirchgang war für sie nichts weiter als verlorene Zeit. Auch am Sonntag hatte sie für ihre vielköpfige Familie zu sorgen.
Um 1952 lernte sie eine Frau kennen, die den "Zeugen Jehovas" angehörte. Diese Rich-tung gefiel ihr besser, auch weil die Sekte in der DDR verboten war. Grete L. ließ auch Ida (meiner Gegenwart nicht achtend) an ihrem neuen Wissen teilhaben und erzählte z.B., daß in einem selten gedruckten Buch der Bibel steht, daß die gesamte Menschheit eines Tages unter den Schatten einer Eiche passen wird. Also haben wir noch mindestens einen schrecklichen Krieg zu gewärtigen oder (hier machte sie eine Kunstpause und ein sensationslüsternes Gesicht) der Herrgott schickt uns noch einmal eine "Sündflut" (sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, in der Bibel zu lesen und wußte nicht, daß es "Sintflut" heißt). Daß das Ende der Menschheit auch völlig gewaltlos durch die ständig zunehmende Umweltverschmut-zung oder in Form einer Krankheit wie AIDS auf uns zu kommen könnte, der Gedanke lag ihr fern. Denn Gott der Herr hat den Menschen die Erde übergeben, damit sie etwas daraus machen, und gegen Krankheiten gibt es Ärzte, auch wenn sie alle nur Kurpfuscher sind (sie hielt nicht viel von Ärzten und anderen Studierten. Solche Klugscheißer waren ihrer Gegenwart nicht würdig. Möglicherweise reagierte sie so ihren Frust darüber ab, daß ihr hochintelligenter Sohn Karlheinz nicht studiert hatte.).
Wenn ein Kind ungezogen war, schüttelte sie die Faust und keifte: "Dir werd ick schon noch Moses lern!" Durch die Freundin meiner Mutter erfuhr ich, daß hierbei nicht der Bibelmann gemeint war, son-dern "mores", das lateinische Wort für Benehmen.
Ida las oft in der Bibel und hatte etliche Begriffe aus der biblischen Geschichte im täglichen Sprachgebrauch. Wenn es z.B. irgendwo unordentlich war, sagte sie: "Det sieht hier aus wie Sodom und Jemorra!" Wenn jemand erschrak, dann wurde er "zur Salzsäule wie Lots Weib". Wenn jemand von einem Gang zu einem Amt unverrichteter Dinge heimkehrte, war er "von Pontius zu Pilatus geschickt worden" (dadurch war ich der festen Überzeugung, daß es sich um zwei Personen handelt). Wenn jemand sehr bekümmert oder schwer krank war, sah er aus wie "das Leiden Christi". Oft "wusch sie ihre Hände in Unschuld", und oft beschuldigte sie mich, wie "die sieben Plagen" zu sein.
Sehr gern hörte ich die Geschichte, wie aus dem Saulus ein Paulus wurde, die von Johannes dem Täufer und die von David und Goliath. Diese Geschichten lernten wir auch im Religionsunterricht in der Schule. Einmal im Monat sollten wir eine Mark mitbringen. Dafür bekamen wir eine schmale rote Marke, ähnlich einer Briefmarke. Die wurde auf eine Karte geklebt, auf welche eine brennende Kerze abgebildet war. Wenn man die Marken ordentlich untereinander klebte, bekam die Kerze einen roten Stamm und sah recht hübsch aus. Diese Mark hatte Ida immer übrig, um 25 Pfennig für eine Kinderfilmvorstellung bat ich meist vergeblich.
Einmal sagte der Pfarrer (ein bereits recht ergrauter Herr) beim Kindergottesdienst: "Das Gute ist oft langweilig und man hat keinen Spaß daran, aber das Böse schillert und ist interessant! Es ist nicht recht, am Vormittag in der Kirche zu Gott zu beten und am frühen Nachmittag im Kino Teufelswerk anzusehen!" Wenn die größeren Kinder nicht sofort gekichert hätten, hätte ich sicher auch das für bare Münze genommen und lange Zeit dem Kinospaß entsagt, denn das Wort des Pfarrers war für mich Gesetz. Aber wo gekichert wird, da ist eine Lücke im Gesetz! Und außerdem waren die meisten der damaligen Kinderfilme fast ebenso moralisierend wie ein Kirchgang.
Eines meiner schönsten Erlebnisse in der Kirche war das Erntedankfest. Hier sah ich erstmalig das Korn, woraus "unser täglich Brot" gebacken wurde (und ich war bereit, es anzubeten) und auch die schönen Blüten der Kornblume; ich akzeptierte sie als Schädling und hätte dennoch heftig gegen ihre endgültige Ausrottung protestiert.
In einem von Idas Gebeten war die Zeile enthalten: "Gebenedeiet seist du, Maria". Ich fragte, was das bedeutet? Sie antwortete: "Det is jenauso wie jesejenet." Nun wollte ich wissen, warum es dann durch gebenedeiet ersetzt wurde? Ida verzog das Gesicht und knurrte: "Woher soll ick denn det wissn, Mensch?" Ich hätte gern noch gewußt, ob die Formulierung etwas mit dem Heiligen Benedikt (er war mir achtjährigen in einem Roman begegnet) zu tun hatte, aber ich war mir nicht sicher, ob Ida ihn kennt und wollte auch nicht riskieren, daß sie ob meiner dämlichen Fragen in Rage geriet.
1951 wurde der Religionsunterricht an den DDR-Schulen abgeschafft. Das machte mir nichts aus, ich ging ja jeden Sonntag zum Kindergottesdienst. Doch am nächsten Reformationstag führte uns unsere Lehrerin (um den Heimatkunde-Unterricht anschaulicher zu gestalten) in die (leider) nächstgelegene Kirche der Baptisten-Gemeinde, wo ich den Fehler beging, meinen Mitschülern (mit einigem Stolz!) den Platz zu zeigen, wo ich sonntags immer saß. Ich ignorierte, daß Kirche "out" war, ich war in meinem Element. Wenn die Lehrerin uns hier herführte, wollte ich auch Leistung zeigen!
Spott und Schande gewöhnt, ertrug ich wochenlang die Behauptung meiner Klassenkameraden, daß es der größte Blödsinn sei, an Gott zu glauben und auch die Bezeichnung "doofe Betschwester".
Ich wüßte heute gern, in welche Kirche diejenigen meiner Klassenkameraden gegangen waren, die gleich mir den Religionsunterricht besucht hatten. Es war gewiß die Hälfte aller Schüler. Jedenfalls war keiner unter ihnen, der den Mut gehabt hätte, mir beizustehen. Ich ertrug Beschimpfungen und Schläge in der Gewißheit, daß auch all diese mir negativ gesinnten Kinder - Kinder Gottes sind und irgendwann zur Besinnung kommen werden. In dieser Meinung verharrte ich jahrzehntelang (niemand will Krieg, jeder will leben und niemandem Schaden zufügen! Niemandem! So hatte ich Erwachsene reden hören, und so wünschte ich mir die Welt).
Ida war nach meinem achten Geburtstag der Meinung, mich auf den rechten Weg gebracht zu haben und ließ in ihrer Aufsichtspflicht in jeder Beziehung nach. Da ich mit ihr nicht mehr reden konnte - sie wies alle meine Fragen ab - schloß ich mich der Schulmeinung an: "Kirche ist die Vergangenheit, Sozia-lismus ist die Gegenwart". Auch ohne den Spott meiner Klassenkameraden war ich gewillt, der Kirche "Lebewohl" zu sagen, denn mir kamen allmählich selber einige Zweifel. Wenn der Herrgott nämlich als erstes Adam und Eva erschuf (Eva aus Adams Rippe), und sie waren beide weiß, woher kamen dann die Neger und die Chinesen? Außerdem hatten Adam und Eva dann nur zwei SÖHNE, Kain und Abel. Kain erschlug Abel, zog in ein anderes Land und nahm dort eine Frau. Ja, woher kam DIE denn? Wenn sie von einem anderen Gott erschaffen wurde, dann war der doch wohl genauso mächtig wie der Christengott und also ebenso anbetungswürdig!
Außerdem sah ich bei Ida, daß man durchaus ein eifriger Kirchgänger und Bibelleser sein konnte, ohne sich stracks an die zehn Gebote halten zu müssen. Und dann noch das Unglaublichste - in den zehn Ge-boten steht: "Du sollst nicht töten", aber wenn ein Land mit einem anderen Krieg führt, werden auf beiden Seiten die Waffen gesegnet!
All diese Ungereimtheiten entfremdeten mich der Kirche. So war es leicht für mich, zu lachen, wenn die Freundin meiner Mutter den Stoßseufzer aussandte: "Jott sei s jedankt, jelobt, jetrommelt und jepfiffen!" oder: "Ach du jroßer Jott aus Holz!"
Sie lehrte uns Geschwister auch ein frommes Gebet, welches sie auf einem Grabstein gelesen hatte: "Ich bin ein rechtes Rabenaas, ein alter Sündenknüppel, der seine Sünden in sich fraß als wie der Russ die Zwibbel. O, Jesus, nimm mich Hund beim Ohr, wirf mir den Gnadenknochen vor und führ mich Sündenlümmel in deinen Gnadenhimmel."
Den Weihnachtsbaum nannte sie übrigens respektlos "Hallelujastaude". Doch als ich eines Tages - 14jährig - scherzhaft einen Zusammenhang zwischen "Monstranz" und "monströs" zu finden suchte, wies sie ihn empört zurück: "Da is jenausoviel Zusammenhang wie zwischen konkav und konkret, Komplex und Komplott oder Pettenkofer und Patentkoffer! Während einer unserer Unterhaltungen äußerte sie die Meinung: "Das Mittelalter ist noch lange nicht zu Ende, selbst hier in Europa nicht, das sich für so aufgeklärt hält. Solange es noch Menschen gibt, die einen Gott brauchen, um mit sich und der Natur in Frieden leben zu können, solange ist auch noch Raum in den Köpfen für Demagogie und Massenhysterie. Was die Nazis vollbracht haben, ist jederzeit wiederholbar, es werden sich immer genügend Glaubenswillige finden. Wie sagte Karl Marx? Ein Gedanke wird zur Macht, wenn er die Massen ergreift. Das wurde auf den Sozialismus gemünzt, ist aber auch im negativen Sinne wahr."
Ich konnte auch herzlich mit meinem Bruder lachen, wenn er sang: "Jott im Himmel hat keen Pimmel, dadrum ham wir jetz det Jebimmel. Da hilft nur - halt die Ohrn zu, Menschenskind, halt die Ohrn zu!" (nach der Melodie des Liedes "Weißt du, wieviel Sternlein stehen", welches ich übrigens sehr liebte.)
Als einziges Kind der Familie L. wurde Doris konfirmiert. Man mußte dazu regelmäßig am Konfirma-tionsunterricht teilnehmen. Einmal war Doris aber ausgerechnet an solch einem Unterrichtstag mit einem Jungen verabredet und bat mich, mir die Stunde anzuhören und ihr alles zu erzählen, damit sie keine Bildungslücke hat. Der Pfarrer sah sofort, daß ich nicht zur Gruppe gehörte - ich war ja viel jünger als die anderen Kinder - und fragte mich freundlich nach meinem Begehr. Ich war nicht imstande, in dieses abgeklärte Pfarrersgesicht hineinzulügen und gestand alles so, wie es war. Der Pfarrer schickte mich heim und nahm sich in der nächsten Woche die Doris vor. Er stauchte sie tüchtig zusammen, ohne sie bei ihren Eltern zu verraten, womit er sich ihre größte Hochachtung verdiente.
Obwohl Doris und Waltraud konfirmiert wurden, sangen sie doch auf der Straße: "Hallelulja" und glaubten mir nicht, daß das vierte "l" in diesem Wort überzählig ist.
Als ich vierzehn Jahre alt war, schickte Ida mich zur Pfarrei, damit ich mich zum Konfirmationsunter-richt anmelde. Der Pfarrer stammte aus Süddeutschland, bei ihm wurden die Kinder nicht eingesegnet, sondern "eingeseechnet". Ich wollte dem Spott meiner Klassenkameraden nicht noch mehr Nahrung bieten, sie sollten nicht sagen können: "Die Seechern wird einjeseechnet und wohnt in de Piß - toriusstraße!"
Ich ging also an jenem Tage zweimal um die Kirche am Mirbachplatz herum (gegenüber ihrem Ein-gangsportal steht das Wohnhaus des Pfarrers, eine kleine Villa von außergewöhnlichem Baustil), und überlegte hin und her, wie ich der Ida beibringen sollte, daß ich mich nicht einsegnen lassen wollte. Mir fiel das Dümmste ein: Ich sagte, daß der Pfarrer nicht zu Hause gewesen sei. Sie vergewisserte sich arg-wöhnisch, ob ich wirklich an der richtigen Tür geklingelt hatte und schickte mich am nächsten Tag wieder los. Nun sagte ich ihr auf den Kopf zu - die Chance eines Sonderspaziergangs vertuend - daß ich Ju-gendweihe haben möchte. Nach großem Gezeter und Geschimpfe gab sie dem statt. Auch, weil Grete L. bestätigte, daß es nur sehr wenige Kinder gab, die noch eingesegnet wurden.
Die Jugendweihestunden fand ich auch viel interessanter. Beim Konfirmationsunterricht wären wir doch bestimmt nicht mehrmals ins Theater gegangen oder hätten einer Gerichtsverhandlung beigewohnt oder eine Betriebsbesichtigung gemacht!
Ich wäre ganz gewiß nicht zum Konfirmationsunterricht gegangen, denn zu jenem Zeitpunkt hielt ich die Bibel für nichts weiter als ein schönes altes Märchenbuch. Aber ich hätte mir niemals angemaßt, einen Menschen wegen seines Glaubens zu verachten. Auch hätte ich niemals dem Abriß einer Kirche zugestimmt, denn Kirchen wurden nur von den hervorragendsten Baumeistern errichtet, sind also Kulturdenkmäler und als solche zu achten und zu schützen.
 

Rainer Heiß

Mitglied
wunderbar! Man ist sofort in die eigene Kindheit zurück versetzt, an den Willen, ein guter Christ zu sein, die zunehmenden Widersprüche und letztlich die Erkenntnis, dass die Kirche den Bezug zum Leben verloren hat.
Ich kam mir bei diesen Erinnerungen vor wie einer der Neffen von Käptn Blaubär, wie ich mit weit geöffneten Augen den Berichten lausche. Übrigens: die Sintflut kommt tatsächlich von "Sündflut" - auch hier also der strafende Gott, der im Widerspruch zu dem der Bergpredigt steht.

Grüße, Rainer
 

flammarion

Foren-Redakteur
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vielen

dank, rainer, daß dir meine geschichte gefällt. ich habe noch mehrere kapitel meiner memoiren hier gepostet, weil ich unsicher bin, ob das überhaupt jemanden interessiert. wenn ja, würde ich es einem verlag geben. leider muß ich beobachten, daß ich kaum gelesen werde und erhalte auch nur ganz wenig reaktion.
mir hat mal jemand erklärt, daß "sintflut" von "springflut" hergeleitet ist und nichts mit sünde zu tun hat. aber ja, in der bibel steht viel widersprüchliches. lg
 

Rainer Heiß

Mitglied
Das mit der "Springflut" stimmt auf keinen Fall; wenn man ganz genau ist, kommt Sintflut von der gemeingermanischen Vorsilbe "sin-", die "immerwährend, gewaltig" bedeutet. Aber auch die Herkunft "Sündflut" ist sprachgeschichtlich verbürgt; insgesamt gab es über 250 antike Flutlegenden, die alle die Auslöschung eines alten, schlechten Menschenschlages bedeuteten. Die Flut-Strafe ist also keine Erfindung der Christen; beruhigend? Naja...
Zurück zum Thema: Mir hat die Schilderung aus deiner Erinnerung sehr gefallen. Ich werde im Lauf der nächsten Stunden/Tage auch die anderen mal durchlesen. Vor allem auch, weil hier etwas berichtet wird, was mir teils unbekannt, teils auch wieder vertraut anmutet.

Grüße, Rainer
 

flammarion

Foren-Redakteur
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schön,

daß ich in dir einen intelligenten gesprächspartner über meine erinnerungen gefunden habe.
das mit der sündflut läßt mir keine ruhe - ich meine, wenn "Sündflut" richtig ist, dann hätte der Herr uns eine flut von sünde geschickt und kein wasser. ganz lieb grüßt
 

Rainer Heiß

Mitglied
Hallo flammarion, bibelfest

bin ich zwar nicht, aber es war wohl eine Flut, die die Sünde ausgetilgt hat, bzw sie austilgen sollte, denn gelungen ist es ja nicht.
Es ehrt mich, wenn Du mich für intelligent hältst, nur bin ich`s (leider) nicht. Neugierig ist wahrscheinlich treffender, und da sind Deine Geschichten genau das Richtige für mich.
Übrigens hat ein (ebenso) Neugieriger (Axel) unsere Konversation von neulich gelesen und meine Vermutung mit der neuen Rechtschreibung bestätigt: Man KANN die Anrede (Du, Dich, Dein etc) noch groß schreiben, MUSS aber nicht mehr.
Gestern oder Vorgestern habe ich mit "Skat" angegfangen, war dann aber zu faul, außerdem spielt man in meinen Gefilden Schafkopf (Vierervariante mit ähnlichen Regeln). Jetzt werd` ich`s dann wohl doch noch einmal angreifen...
Grüße, Rainer
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
aha.

vielen dank für die freundliche aufklärung. mein jott, wat hamt die jörn heut leicht! unsereinem wurde das fast eingeprügelt und die brauchen sich ja keen kopp mehr zu machen. im "Skat" kommt es im wesentlichen auf den dialog nebenbei an, zu welchem ich dir viel spaß wünsche. ich hab da schon leute zum lachen gebracht, die gar keine spielkarten in die hand nehmen würden. lg
 
Liebe oldicke

bin von Deinen Memoiren fasziniert. Lass Dich nicht entmutigen von dem – wie Du meinst – geringen Interesse. In unserer schnelllebigen Zeit sind längere Texte halt nicht jedermanns Sache.
(wie schrecklich, diese drei l hintereinander)
Viele Grüße sendet Dir
Willi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
danke,

lieber willi. ja, schnellebige zeit . . . da müssen wir durch. vielleicht trau ich mich ja doch mal, die 400 seiten einem verlag zu schicken . . . ganz lieb grüßt
 



 
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