aus meinen memoiren: essen und trinken

flammarion

Foren-Redakteur
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Essen und Trinken

1944 war es schwierig, einen Säugling aufzuziehen. Um so unverständlicher ist es mir, daß Ida mich von der Mutterbrust trennte, die noch lange für mich gefüllt gewesen wäre. Ida lästerte, als ich (elfjährig) danach fragte: "Deine Mutta hatte Milch wie ne Kuh!" Mein Fläschchen bestand aus Wasser, Zucker und Mehl. Ich gedieh dann doch. In den nächsten Jahren erwies Ida sich als perfekte Hausfrau: Zur Mittagszeit stand immer ein warmes Essen auf dem Tisch, es gab immer ein Frühstück (von 1947-54 bestand es aus "Kaffeesuppe" (hier wurden zwei Schwarzbrotscheiben in einen Suppenteller gebrockt und warmer Kaffee-Ersatz darüber gegossen. Mit zwei Eßlöffeln Zucker angereichert schmeckte es gut) und auch immer ein Abendbrot, ein jegliches mit Tischgebet.
Ich weiß nicht mehr genau, was wir in den ersten Nachkriegsjahren aßen, aber von 1950 bis 58 ist mir erinnerlich, daß sich selten ein Gericht innerhalb eines Monats wiederholte, es sei denn, daß seine Reste aufgewärmt wurden. Das kam oft vor. Ich hatte eine Aversion gegen Grünkohl, Wirsingkohl, Weißkohl-eintopf (gekocht und dann geschmort aß ich Weißkohl gern!) sowie gegen Graupen und Brühreis. Nur Prügel konnten mich dazu bringen, dieses zu essen. Ida fügte sich nach mehreren Versuchen und servierte mir Kartoffelbrei, während sie den Kohleintopf aß. Damit war ich zufrieden. Es waren zwar nicht gebratene Zwiebeln und Speckwürfel hineingegeben worden, wie es bei "Speckkartoffeln und dicke Milch" üblich war. Das gab es im Sommer, wo die Milch schnell geronn. Ich konnte kaum genug bekommen. Erst die herrlich fetten Speckkartoffeln und dann noch die große Schüssel (ein halber Liter) dicke Milch, die ich ganz vorsichtig leerschaufelte, um zu verhindern, daß die Molke das Festgewordene umstürzte. Für mich war diese Mahlzeit gleichzeitig ein Märchenland.
Also, was aßen wir in jenen Jahren? Erbsen (grüne oder gelbe), Bohnen (grüne oder weiße), Heringe, Schollen, Flundern, Rotzungen, Rotbarschfilet, Kabeljaufilet, Haferflocken, Grießbrei, Milchreis, Rinderherzen, Lungen, Lebern, Nieren, Kaninchen (aus eigener Zucht!), Hähnchen, Bouletten (Frikadellen), Linsen, Nudeleintopf mit Suppengrün und Knochenmark (Waltraud ekelte sich vor dem fetten Mark, Ida aber sagte: "Det jibt Kraft!" Ich wollte groß und stark werden, also aß ich es mit Begeisterung), Blumenkohl als Beilage oder als Hauptgericht, Kartoffelsuppe, Kohlrouladen, Kartoffelbrei mit Spiegelei, Spinat mit Ei (sie legte die gekochten Eier neben die Kartoffeln; 1957 schenkte ihr die Freundin meiner Mutter einen Eierschneider, so konnte sie das Ei scheibenweise über den Spinat legen, das sah hübsch aus), Koteletts, Sauerkraut mit Bratwurst, Blutwurst, Eisbein, Spitzbein, Dickbein (die drei letztgenannten mit Kartoffel- oder Erbspürre); Milchnudeln, Eierkuchen, "Arme Ritter" (hier wurden alte Brötchen in Scheiben geschnitten, in Milch geweicht und in gequirltem Ei paniert), Rindsgoulasch, Schweinegoulasch, Mischgoulasch (Rind- und Schweinefleisch sowie Kaßler, und zwar an Feiertagen, wo sicher war, daß der Aufwand lohnte), Rippchen, gebratener Schweinebauch, Zwiebelsuppe, Bollenfleisch (Schafsgoulasch), Kohlrabieintopf, Kohlrüben, Möhren, "Falscher Hase" (eine Riesenfrikadelle), Karpfen, Pellkartoffeln mit Weißkäse (Quark - er wurde mit Leinöl und Zwiebeln angereichert und mit Pfeffer und Salz gewürzt, in den späten 50ern gab es noch ein Stückchen Butter dazu), Pellkartoffeln mit Delikatess-Hering, der in Öl eingelegt war, Bratkartoffeln mit Sülze (selbstgemacht!), Bratkartoffeln mit saurem Hering (selbst eingelegt! und wenn Rogen und Milchen in den grünen Heringen war, dann wurden sie gebraten und als Delikatesse verspeist), saure (russische) Eier, Bratkartoffeln mit Rührei, Rinderrouladen, Kartoffelklöße mit Birnenkompott, selten Pilze, aber oft die unvergleichlichen Kartoffelpuffer. Waltraud mochte bei gekochtem Ei das Gelbe nicht (sie wollte kein ungeborenes Küken essen), so tauschten wir. Sie bekam mein Eiweiß und ich ihr Eigelb.
Solange Waltraud bei uns wohnte, gab es zum Sonntagsessen auch Kompott oder einen Pudding. Ida kannte mehrere Arten von Pudding - den normalen aus Puddingpulver und Milch, Götterspeise mit Vanillesoße und Grießflammerie - einer so lecker wie der andere. Und solange Waltraud bei uns wohnte, gab es am Sonntag auch Kaffee und Kuchen. Danach gab es am Sonntag zum Frühstück "Schnecken" oder "Plunderstücke", je nachdem, was ich am Sonnabend vom Bäcker holen sollte.
Fisch gab es freitags. Steckte Ida sich einen Packen Zeitungspapier ein, wußte ich, daß wir zum Fischgeschäft gehen. Die Verkäuferin freute sich über das schöne Einwickelpapier. 1952 wurde Ida der Gang zum Fischgeschäft zu beschwerlich. Mich Achtjährige schickte sie nicht mehr hin, nachdem ich mir beim ersten Versuch von der Händlerin statt der geforderten Schollen (sie waren an jenem Tag nicht vorrätig) Flundern verkaufen ließ, wobei sie mir die kleinsten aussuchte, weil ich gestand, daß mir die Gräten nichts ausmachen. Aber auf den Sylvesterkarpfen wollte Ida nicht verzichten. Sie schickte mich mit einem Deckeleimer los, um einen lebenden Karpfen zu kaufen, so war es Brauch. Der Sylvesterkarpfen wurde Sylvester geschlachtet. Oft schwamm er tagelang in unserer ansonsten funktionslosen Badewanne herum. Ich sagte auftragsgemäß zur Verkäuferin, daß ich einen Karpfen nicht unter fünf Pfund zu kaufen wünsche, hielt den Eimer hin und ließ mir das Tier samt Wasser einfüllen. Schon beim Betreten des Ladens hatte ich den Geldschein aus der Tasche geholt, um ihn zur rechten Zeit parat zu haben. So sah die Verkäuferin, daß es seine Richtigkeit hatte. Sie gab mir das Wechselgeld (wenige Münzen) und bemitleidete mich, daß ich nun so schwer zu tragen habe. Ich aber war guten Mutes und meiner Sache sicher: Es war ein Deckel auf dem Eimer, was konnte schon geschehen? Der Eimer war so schwer, daß ich ihn nur mit beiden Händen tragen konnte. Ein kurzes Stück half mir ein mir unbekannter Mann, der sich sehr darüber wunderte, daß ein so kleines Kind einen derartigen Einkauf zu tätigen hatte. In dieser Zeit lag der Fisch betäubt in seiner Falle. Als ich ihn dann wieder schaukelnd trug, erwachte er zu neuem Leben. Mit einem kurzen Schwanzhieb entdeckelte er das Gefäß (wobei ich pitschnaß wurde) und begab sich auf das vereiste Straßenpflaster. Glücklicherweise war auch hier ein Mann mit zupackenden Händen zur Stelle, der mir das Tier wieder in den Eimer tat. Da der Fisch nun nicht mehr genügend Wasser vorfand, verhielt er sich ruhig, bis er in die Badewanne gesetzt wurde. Ich war sehr froh, daß ich nicht mit einer Leiche nach Hause kam. So hatte ich verstanden, daß ich nicht nur das Mindestgewicht, sondern auch das Höchstgewicht anzugeben hatte. Im nächsten Jahr brachte ich nicht nur mehr Wechselgeld, sondern auch einen putzmunteren Karpfen nach Hause. Ida hatte es direkt schwer, ihn zu töten. Nach dem dritten Betäu-bungshieb sprang er noch vom Küchentisch und suchte unter der Anrichte Schutz, wo Irma ihn hervor-holte. Endlich konnte Ida die Kehle durchschneiden und das Blut in einer Schüssel auffangen, denn sie benötigte es für die Soße. Karpfen sind dazu da, gegessen zu werden. Und Fischblut ist kein richtiges Blut, es ist kalt. Ich freute mich auf die Mahlzeit. Ich bekam, wenn Waltraud mit uns aß, das Schwanzende, sie das Mittelstück und Ida das Kopfstück. Das empfand ich als gerecht. Ida war die Klügste von uns, ihr stand der Kopf zu, Waltraud mochte keine Gräten, also bekam sie das Stück mit den wenigsten Gräten, ich genoß es, Fisch zu essen, also nahm ich die Gräten in Kauf. Ich beobachtete, wie Ida sorgfältig das Fleisch vom Fischkopf verspeiste, wie sie jeder genießbaren Faser nachspürte, wie sie letztendlich den Kopf auseinanderbrach und das Gehirn schlürfte. Ich hätte das später gern nachvollzogen, aber um 1960 wurden Karpfen nur noch ohne Kopf verkauft. Und ich wußte auch gar nicht, wie man "Karpfen Blau" kocht. Ich durfte nicht zusehen, und die Kochbücher waren mir unverständlich. Gut, ich wußte, was "eine Prise" ist, auch "ein Teel." bzw. "ein Eßl." sind mir geläufig, doch bei "eine Tasse" komme ich in Verlegenheit. Wie voll darf die Tasse sein? Bis zum Stehkragen oder zwei Zentimeter unter der Oberkante? Und dann noch die vielen mir unbekannten Gewürze!
Damals jedenfalls blieben von unseren Fischmahlzeiten nur die Gräten übrig. Die Haut wurde mitverspeist. Auch auf der zähen Haut der Bücklinge knautschten wir herum, bis sie mürbe war.
Es mochte 1948 gewesen sein, als Ida mit mir zur "Freibank" ging. Sie hatte eine Postkarte bekommen, auf der ihr Anspruch auf Freibankware bescheinigt wurde und an welchem Tage sie abzuholen sei. Ich staunte über die große Anzahl von Menschen, die sich in einer langen Viererschlange angestellt hatten, um ihre Ware in Empfang zu nehmen. Viele brachen zusammen, bevor sie an der Reihe waren, denn es war ein schreckliches Gedränge. Die meisten schimpften und stritten miteinander und mit den Verkäuferinnen, die nach kurzem Blick auf die Postkarte wahllos irgendwelches Fleisch und Wurst in Zeitungspapier schlugen und über die Theke reichten. Selten war jemand mit dem, was er erhielt, einverstanden. Ida war eine der wenigen, die "Dankeschön" sagten. Ihr war es einerlei, was sie erhielt; was wir nicht verbrauchten, reichte sie an Familie L. weiter, die dafür sehr dankbar war. Mehrmals ging Ida mit mir zu dem preisgünstigen Einkauf. Mir war entsetzlich langweilig dabei. Es gab nicht die geringste Spielmöglichkeit. Schön, ich konnte mich mit den drei Blumen am Eingang unterhalten, aber das war auch schon alles. Ida verbot mir, auf die Straße zu gehen, ich durfte mich nur da aufhalten, wo sie mich sah. So sah sie einmal, daß ich mich mit einem Mann unterhielt, der für einen Moment auf der Bank auf dem Hof saß. Sie verließ ihren Platz in der Reihe, um mich zurechtzuweisen. Da ich diskutierte, ging ihr Platz in der Reihe verloren, mit Müh und Not verhinderte sie das Neuanstellen. Zum nächsten Gang zur Freibank bevollmächtigte sie Grete L., den Einkauf zu tätigen. Das klappte einige Monate zur Zufriedenheit beider Parteien, doch bald erschien Grete L. der Anteil, den sie dabei erringen konnte, als zu gering. Und das, was sie an Ida ablieferte, entsprach nicht unseren Bedürfnissen. Nun warf Ida die Ankündigungen der Freibankbezüge in den Müll. Niemals hätte ich mir träumen lassen, daß ich als Erwachsene selbst dort Schlange stehen würde!
Kurz vor meinem sechsten Geburtstag bat Grete L.: "Oma, jib mir doch mal det Rezept for deine schöne Kohlrolaan." Ich wußte, was ein Rezept ist, nämlich ein kleines Stück Papier, wo der Onkel Doktor aufgeschrieben hat, was Oma sich aus der Apotheke holen sollte. Ich kicherte nun also: "Seit wann jibt det denn in de Appoteeke Mittach?" Grete L. runzelte die Stirn: "Wir ham jetz keene Zeit for deine blödn Witze." und Ida wies mich aus der Küche. Erst, als ich Irma mein Leid klagte, erfuhr ich den Unterschied zwischen einem Rezept vom Arzt und einem Kochrezept.
Zwischen 1948 und 52 wurde im "RIAS" behauptet, daß die Ostdeutschen hungern müssen, und es wurde eine Hilfsaktion ins Leben gerufen, wonach sich jeder Ostler ein Paket mit Lebensmitteln abholen konnte. Ich weiß nicht, von wo diese Pakete abzuholen waren. Grete L. stürzte sofort mit der ganzen Familie los, denn sie konnte sich ein solches Geschenk unmöglich entgehen lassen. Ida war der Weg zu weit, Irma sagte: "Ick bin nich so arm, det ick betteln jehn muß!" und Gerda hatte nicht einmal für ihre Tochter etwas bekommen, weil sie nicht in ihrem Ausweis eingetragen war. Grete L. ging dann noch einmal los, um mit gefälschten Papieren etwas zu ergattern, dann schickte sie - aus Angst, erkannt zu werden - ihre älteste Tochter, um für Ida, Waltraud und mich etwas zu erbeuten. Gitta kam dann auch mit drei Paketen, in denen sich zwei Büch-sen Schmalzfleisch, zwei Päckchen Bouillon-Würfel, ein Pfund Zucker, ein Pfund Mehl und ein Brocken Trockenmilch befanden. Das waren die Standard-Päckchen. Man konnte auch Glück haben und in seinem Päckchen ein Pfund Kaffee, ein Päckchen Kakao, eine Büchse Ölsardinen, Fleisch- oder Wurstkonserven finden. Grete L. hatte dieses Glück. Ida bemängelte die liederliche Verpackung unserer Päckchen - sie waren halb aufgerissen. Auch hatte sie sich einen anderen Inhalt vorgestellt, nachdem ihr erzählt worden war, was alles in den Päckchen enthalten sein konnte. Vielleicht mutmaßte sie, daß Grete L. den Inhalt manipuliert hatte, aber sie konnte ihr nichts nachweisen. Nun, Mehl und Zucker konnte man immer gebrauchen, das Schmalzfleisch kam auf die Stullen bzw. in den Eintopf, die Bouillon-Würfel waren dem Eintopf ebenfalls sehr zuträglich oder wurden von Ida als abendliche Stärkung aufgebrüht und die Trockenmilch lutschten wir Kinder mit Begeisterung auf.
Wochentags gab es Eintopf, die Fleischmahlzeiten an Sonn- und Feiertagen. Der Sparsamkeit verpflichtet (ob der geringen Rente), kochte Ida häufig den Eintopf auf Vorrat, sodaß er mitunter sogar für vier Tage reichte. Da mokierte ich mich 1956: "Wat denn, schon wieda die Erbsn von vorjestan?!!" und Ida reagierte: "Bei dir soll det woll imma nur Jesottnet un Jebratnet jeehm, wat? Dafor ham wa keen Jeld nich, du Dussel!" Da ich inzwischen seit einiger Zeit für uns einkaufen ging, kannte ich in etwa die Preise und beschwichtigte: "Bratwurscht is billich, Schweinebauch, Speckkatoffiln Blutwurscht, - un Kohlrühm! Wenn schon Eintopp, denn koch doch ma wieda Kohlrühm!" Sie erkannte, daß es mir nicht darum ging, etwas Kostenaufwendiges zu genießen und ge-staltete den Speisenplan dementsprechend. Es freute sie, zu sehen, daß mir die "Wruken" schmeckten, von denen sie in der Nachkriegszeit mehr als genug essen mußte. Sie kochte später sogar "Gefüllte Paprikaschoten", etwas für sie "Neumodisches", nach einem Rezept der Freundin meiner Mutter. Sie schmeckten uns allen. Ebenso die "Jägerschnitzel" - in Scheiben geschnittene und wie Kotelett behandelte Jagdwurst.
Als Vorschulkind habe ich ihr oft in der Küche helfen wollen, aber sie wies mich zurück: "Det kannst de nich, dafor bist de zu kleene!" Als ich älter wurde, sagte sie: "Dazu bist de zu deemlich!" So hatte ich nur selten Gelegenheit, einen Blick auf die Küchenarbeit zu werfen. Einmal sah ich zu, wie sie Koteletts panierte. Erst klopfte sie sie mit einem Fleischklopfer weich, dann wurden sie gepfeffert und gesalzen, danach in gequirlten Eiern und zuletzt noch in Paniermehl gewälzt. Das tat sie alles mit den Fingern, die sie zuletzt ableckte, damit nichts verlorenging. Einige Jahre später sah ich bei der Mutter meiner Freundin, daß man das Fleisch auch panieren kann, wenn man es mit der Gabel bewegt. Auch auf diese Weise geht nichts verloren. In dieser Familie kamen auch diverse Milchmixgetränke auf den Tisch, auch Zuckereier (steif geschlagenes Eiweiß, mit unterschiedlichen Obstsäften versetzt). Das bezeichnete Ida als ekliges Gemansche, mir aber hatte es sehr gut geschmeckt.
Selbst, als es uns in den späten 50ern wirtschaftlich besser ging, knabberten wir auch die letzte Fleischfaser von Kotelett- und anderen Knochen. Wenn Manfred gefragt wurde: "Wo is n Paul?" oder: "Wo is n Christa?", dann antwortete er grinsend: "Uff n Friedhof, Knochen knabbern!"
Als ich zwölf Jahre alt war, hatte Ida Grete L. gebeten, ihr vom Marktgang 5kg grüne Bohnen mitzubringen. Diese große Menge konnte sie nicht mehr alleine an einem Tag putzen und kochen. Ich durfte ihr dabei helfen. Sie zeigte mir, wie es zu machen war und ich hatte sogar Spaß daran. Die Arbeit ging gut voran und ich begann, mit Ida zu plaudern. Doch sie interessierte sich nicht im geringsten für das, was ich von meinen Erlebnissen in der Schule und auf meinen Spaziergängen erzählte. Sie sagte bald: "Halt die Klappe!" So schwieg ich eine Weile. Dann sah ich, daß die Arbeit noch sehr lange dauern wird. So schlug ich vor, daß wir zusammen singen, um die Zeit zu verkürzen. Ich nahm an, daß Ida außer den Kleinkinderliedern, die sie früher mit mir sang, auch andere kannte. Gern hätte ich neue Lieder von ihr gelernt. Sie aber sagte: "Mir is nich nach sing zumute." Da sang ich alleine Volkslieder. Ich hoffte, ihr eine Freude zu machen. Als ich das vierte Lied anstimmte, wies sie mich aus der Küche, weil mit mir "blödem Jör" überhaupt nichts zu anzufangen war.
Ida hatte es zwar nicht verstanden, mich zur Hausfrau auszubilden, aber sie war noch immer empfänglich für neue Rezepte. "Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen." Ich wurde ein guter Esser - d.h. in meinem Fall, daß ich gerne esse, was mir vorgesetzt wird. Selber kochen ist mir ein Graus. Für meine Kinder mußte ich kochen, als sie der Brust entwachsen waren. Ich war da leider nicht wie meine Mutter gesegnet wie eine Kuh. Aber es gab nun abgepackte Kindernahrung: Milasan für das Fläschchen und für die nachfolgenden Monate Babybrei-Gläser, viele unterschiedliche für jeden Lebensmonat. Ich habe sie alle gekostet und als schmackhaft empfunden. Namentlich Spinat mit Leber, das wärmte ich mir selber gern als Mahlzeit auf.
Später habe ich mich daran zu erinnern versucht, auf welche Weise Ida ihre wohl-schmeckenden Mahlzeiten zustande brachte. Der erste Braten, den ich für mich garte, war mir so gründlich daneben geraten, daß ich nie wieder ein Pfund Fleisch ungeschnitten kaufte. Auch die ersten Kuchen, die ich 25jährig buk, wurden ausnahmslos "Brandenburger", d.h., ich mußte eine gewisse Schicht Kohle von ihnen herunterkratzen, bis das Genießbare zum Vorschein kam. Meine Eintöpfe waren gewöhnlich zu schwach gewürzt, nachdem ich den ersten tüchtig versalzen hatte. Nachsalzen kann man immer, aber etwas Versalzenes kann man nur noch wegschütten.
Doch zurück zu 1948. Wenn wir Kinder auf der Straße spielten, erblickten wir so manches Kraut. Eines nannten wir "Käseblume", denn seine Früchte sahen aus wie eine Schachtel mit Käseecken. Diese Früchte - ca. 4 mm im Durchmesser - waren genießbar, wenn man die äußeren Blätter entfernte. Dann gab es noch eine Pflanze, deren dreieckige Blätter wir aßen. Sie hatte eine weiße Doldenblüte, hielt sich in der Vase aber nur einen Tag. Auf den Sauerampfer stürzten wir uns wie die Ziegen! Und wenn im Frühsommer die Linden blühten, brachen wir ganze Äste ab, um uns an den süßen Blüten gütlich zu tun. Sehr erfreut waren wir, wenn wir Kirsch-, Pflaumen- oder Pfirsichkerne auf der Straße fanden. Sie wurden geknackt und das Innere gegessen, wenn es auch noch so bitter schmeckte. Aber niemals aßen wir Brot, das jemand weggeworfen hatte. Wenn Ida erfuhr, was wir auf der Straße gegessen hatten, wurde sie fuchsteufelswild und schimpfte: "Ihr werdt eich noch vajiftn, ihr Dreckfressa!"
Ida schnitt mir meine Stullen in kleine Stücke, die sie "Schäfchen" nannte. Sie fütterte mich mit den "Schäfchen", bis Irma sagte: "Wie lange willste denn det noch machen, die Christa is doch längst alt jenuch, um alleene zu essen!" Ida antwortete: "Is se nich, die krümelt ja wie varückt!" Aber dann meinte auch Gerda, daß ich nie vernünftig essen lernen würde, wenn ich weiterhin gefüttert werde, so durfte ich endlich mein Brot selber in die Hand nehmen. Aber ich krümelte wirklich "wie verrückt", ich weiß nicht, wie das zustande kam. Vielleicht war mein Spieltrieb stärker als mein Hunger.
Mein Pausenbrot in der Schule aß ich - oh Wunder! - ohne zu krümeln. Nach einigen unguten Erfahrungen zog ich mich mit meiner Klappstulle in einen Winkel zurück, aus welchem ich meine Klassenkameraden beobachten konnte, um sicherzustellen, daß sie mir nicht die Hälfte stahlen. Das hatten sie getan, aber nicht, weil sie meine Stullen essen wollten, sondern nur, um sie zu zertreten. Daß sie mein Brot zertraten, wertete ich als feindliche Aktion. Essen war für mich Leben.
 
Liebe oldicke

ich freue mich jedes Mal, wenn etwas Neues von dir in der LL steht.
Die Erinnerungen sind richtig gut geschrieben und viel zu schade für die Schublade daheim.
Bitte schicke mir – wenn du möchtest – deine Mailadresse an
willicorsten@comundo.de.
Ich kann dir einen Verlag nennen, der ??vielleicht?? an diese Art Texte interessiert ist.
Freundliche Grüße sendet Dir
Willi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
es

wäre sehr schade, wenn du das schreiben aufgibst. beiß dich durch! du hast was zu sagen, du hast was zu erzählen und es sind nicht alles hohlköpfe hier. wir kennen dein problem und können über kleine schwächen hinwegsehen. mein lieblingsbruder ist auch legastheniker. er wurde als kind immer "der doofe" genannt. in wahrheit hatte und hat er mehr wissen im kopf als ein durchschnittsmensch. es kommt - mir jedenfalls - beim schreiben mehr auf inhalt und ausdruck an, als auf orthografie und grammatik.
übrigens - an den madenkäse kann ich mich auch erinnern. die meisten speisen die ich aufzählte, gab es erst in den fünfzigern. ganz lieb grüßt
 



 
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