aus meinen memoiren: mein spielzeug

flammarion

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Mein Spielzeug

Als ich noch sehr klein war, besaß ich eine große Menge von kleinem Spielzeug. Ich erinnere mich daran, daß ich gelangweilt am Daumen lutschend auf dem Küchenfußboden inmitten meines gesamten Spielzeugs lag und nicht mehr wußte, wonach ich jetzt wohl noch greifen sollte. Da erstand mein gesamter Bauernhof (er war aus Preßpappe, bunt bemalt und lackiert, jedes Tier und jeder Baum oder Zaun festgemacht auf Pappe), Kuh an Kuh, Pferd an Pferd, Schwein an Schwein, vor meinem inneren Auge an der Decke der Küche, und ich begann mit ihnen ein Gespräch, d.h. ich resümierte die Gespräche der Erwachsenen: "Ach, hallo, Frau Dings, ist ihr Mann endlich aus der Kriegsgefangen-schaft gekommen? Wie schön für Sie und ihre Kinder! Ich gratuliere Ihnen!" - "Guten Tag, Frau Dings, ja, es ist schrecklich in dieser Zeit! Nichts, buchstäblich nichts bekommt man für sein gutes Geld! Man kann sich anstellen wie man will, es ist alles nur zum Argen, nur zum Argen, Frau Dings, ja, dann bis auf Weiteres, Frau Dings, bis auf Weiteres!" Ich hörte derartige Gespräche so oft, daß ich mir die Namen der Ansprechpartner nicht merken konnte. Aus der Auswechselbarkeit der Namen hatte ich ersehen, daß es der Ida nicht allzu ernst war mit ihren Bemerkungen. Aber ich setzte ihre Dialoge fort: "Jetzt, wo der Herr des Hauses wieder da ist, wird Wohlstand einziehen. Die Kinder werden nicht mehr nach Brot und Liebe schreien, das wird alles da sein mit der Rückkunft des Hausherrn. Der Krieg ist zu Ende, alle trachten nach Harmonie und Wohlstand, auch der Heimkehrer, der vor allen Dingen." Onkel Bruno war so ein Heimkehrer, auf ihn setzte ich all meine Hoffnungen in Bezug auf Harmonie, ich glaubte allen Ernstes, daß er mein Leben zum Besseren wenden könnte.
Ich hatte wirklich viel Spielzeug, viele kleine Dinge; Ida war der Meinung, daß kleine Kinder auch nur kleines Spielzeug haben müssen. Da waren Bilderbücher aus Pappe, besagter Bauernhof mit Häusern, Zäunen und allem, was sonst noch zu einem Dorf gehört. Auch alle Tiere, die man auf einem Bauernhof hält, waren vertreten. Diese Teile waren zwischen einem und zehn Zentimetern groß. Durch unsachgemäße Lagerung gingen sie der Reihe nach entzwei, worüber ich sehr traurig war, denn ich spielte sehr gern mit ihnen. Manch-mal reparierte Irma mir die zerbrochenen Teile.
Zu meinem Spielzeug gehörte auch eine Unzahl von Spielkarten aller Art und Größe, u.a. zwei komplette Skatblätter, ein deutsches und ein französisches. Ich gab den Buben, Damen und Königen Namen und ließ sie sich miteinander unterhalten. Die Asse waren Generale, die Luschen waren Bauern und Soldaten. Ich dachte mir viele Geschichten aus, die ich mit den Karten nachspielte. Dennoch gab ich ohne zu murren die Skatblät-ter ab, als zuerst Alfred und dann auch Herr L. mich darum baten. Alfred benötigte die Karten zum Spielen, Walter L. hoffte auf einen Nebenverdienst.
Desweiteren besaß ich sehr viele glitzernde Perlen, aus denen ich Ketten zusammenlegte (Ida gab mir keinen Faden zum Auffädeln, das hielt sie für Verschwendung). Auch legte ich die Perlen zu hübschen Mustern auf einem unserer Stubenstühle aus. Dieser Stuhl hatte nämlich eine aus dünnem Rohr geflochtene Sitzfläche, wobei sich ein symmetrisches Lochmuster ergab. Ida betrachtete meine Werke mit verächtlichem Kopfschütteln. Für sie war das kein Spiel, son-dern der pure Blödsinn. Als meine Tochter später ganz von allein ebenfalls ihre Murmeln auf einem Stuhl zu bunten Mustern auslegte, dachte ich voller Glück: "Also war ich DOCH ein ganz normales Kind!"
Unter meinem Spielzeug befanden sich auch viele aus Illustrierten ausgeschnittene Damen und Herren und Kinder und Häuser und Autos. Logischerweise waren sie bald arg zerknittert, was mich aber nicht im geringsten störte. Ich spielte immer wieder gern mit ihnen, indem ich ihnen diverse Dialoge unterlegte.
Auch einen Pferdewagen besaß ich, ein etwa 15cm langes Gefährt aus dünnem Holz, wo man zwei kleine Pferdchen anschirren konnte. Das Zaumzeug war sehr fein, und ich mußte gut aufpassen, daß es sich nicht verhedderte. Das geschah jedoch immer wieder, so wurde der Pfer-dewagen samt allem Zubehör in den Ofen gesteckt.
Ich hatte noch anderes Spielzeug auf Rädern - ein Entenpärchen, das beim Fahren abwech-selnd mit dem Kopf nickte. Aber da war ich schon zu alt, um diesen "Nachläufer" als Spielge-fährten zu akzeptieren.
Ein weiteres geliebtes Spielzeug war ein aus sehr dünnem, buntem Papier zusam-men-geklebter Fächer, bestehend aus drei unterschiedlich breiten, girlandenförmigen Teilen. Sie wa-ren zwischen zwei feste Pappen geklebt, und wenn man diese Pappen gegeneinander legte, dann verdrehte sich der Fächer zu farbenfrohen Ornamenten.
Fast ebensoviel Spaß hatte ich an einem etwa 30cm großen Hampelmann. Ich zog ganz vor-sichtig an seiner Schnur, ich wollte nicht, daß er die Arme über dem Kopf zusammenschlug, aber Waltraud und die L.-Kinder ließen ihn so arg tanzen, daß seine Schnur riß. Dreimal hat Irma mir die Schnur geflickt, dann wurde der Hampelmann in den Ofen gesteckt. Ein ähnliches Schicksal erlitt der metallene Kletteraffe. Wenn man an seiner Schnur zog, dann kletterte er jeweils etwa 30cm hoch, bis er am oberen Ende der Schnur angekommen war. Ließ man die Schnur los, rutschte er lustig zappelnd zum unteren Schnurende. Als ihm die Schnur riß, kam er in den Mülleimer. Diese beiden Spielzeuge waren damals an der Küchenwand befestigt, neben meinem Sitzplatz. Alles andere wurde in einer großen Spielzeugkiste aufbewahrt (ein Persilkar-ton). Im Winter 1950 beschloß Ida, die Spielzeugkiste abzuschaffen. Sie sagte: "Du kommst jetz bald in ne Schule, da brauchst de det Beebischpielzeuch nich mehr!" Ich freute mich auf die Schule und betrachtete die Vernichtung meines Spielzeugs als ersten Schritt zur Klugheit. Ich hieb selber kräftig mit dem Feuerhaken auf den großen Karton ein, um ihn zu zerstören. Dabei holte ich leider auch einen Kochtopf vom Herd. Ich fürchtete, daß ich Dresche bekommen würde, aber der Kochtopf war leer und er war auch heil geblieben, so lachte Ida nur und schimpfte mich einen entsetzlichen Trampel, eben "janz die Elli".
Für ein paar Monate besaß ich - dreijährig - ein Schaukelpferd. Es machte mir sehr großen Spaß, darauf zu reiten. Es ging mir kaum wild genug, häufig schaukelte ich so heftig, daß das Pferd fast senkrecht stand. Ida schimpfte dann, auch, weil das Pferd bei seinen Be-wegungen knarrte. Letztendlich verschenkte sie es an die L.-Kinder, wo ich dann beobachten konnte, daß ihm so nach und nach der Schwanz, die Ohren und das Zaumzeug abgerissen wur-de.
Kurzzeitig besaß ich - ebenfalls Dreijährig - auch ein Dreirad. Mein Vater hatte es zum Ver-schrotten bekommen. Ida sagte: "Dreirad is Jungsschpielzeuch, det brauchst de nich!" und ver-schenkte es an die L.-Kinder. In Wahrheit stand es ihr im Weg. Unsere Wohnung war nicht so groß, daß man ein Dreirad im Flur zu stehen haben konnte. Ganz anders verhielt es sich mit den Puppenwagen. Die waren zwar größer als das Dreirad, hatten aber bequem Platz im Flur. Zu jedem Mädchen gehörte nach Idas Meinung ein Puppenwagen. Der eine Wagen war aus Holz und Pappmache zusammengefügt und hatte ein Verdeck aus Wachstuch, welches sich sehr schwer bewegen ließ, man hätte drei Hände gebraucht, um es zusammen- bzw. auseinander-zufalten, denn die Falten ergaben sich nicht von selbst, man mußte sie mit den Händen formen. Der Wagen war pastellrosa gefärbt und trug weiße Verzierungen. Der andere war ein so-genannter "Sportwagen" mit kleiner Rückenlehne und sehr hohem Lenker. Ich weiß nicht mehr genau, welcher davon mir gehörte und welcher Waltraud, das war völlig unwichtig für mich, denn wir tauschten unser Spielzeug nach Bedarf hin und her. Der Sportwagen war genauso schwer wie der andere, ließ sich aber noch viel schwerer lenken, seine Räder waren starr, im Ganzen wirkte der Wagen recht klobig.
Ebenso kurzzeitig wie das Dreirad besaß ich einen kleinen Rummel. Auch ihn hatte mein Vater zum Verschrotten bekommen. Da war eine etwa 20cm große Losbude, ein etwa 50cm hohes Kettenkarussell und eine zweischiffige Luftschaukel, beides der Realität getreu nachgebildet. Nur zweimal durfte ich damit spielen, dann wurde alles an einen mir unbekannten Nachbarsjungen verkauft. Ida stoppte meine Tränen mit einigen Bonbons, die sie - nach ihrer Darstellung - nicht hätte kaufen können, wenn sie den Rummel nicht verkauft hätte. Die Bonbons haben mir nicht geschmeckt. Ich hätte lieber mit dem Rummel gespielt. Aber ich war ja nur ein Kind und hatte zu gehorchen.
Ein weiteres Spielzeug, mit dem ich nur ein einzigesmal (unter strenger Aufsicht) spielen durfte, war ein Puppenkochherd. Man konnte ihn mit Petroleum oder mit kleinen Kerzen betreiben. Da ich nicht alleine mit dem Herd spielen durfte (Messer, Gabel, Schere, Licht dürfen kleine Kinder nicht! - so bekam ich es zu hören, andernorts hieß es "ist für"), verlor ich jegliches Interesse an ihm. Es war mir gleichgültig, als er eines Tages - ich weiß nicht, an wen - verschenkt oder verkauft wurde.
Ebensowenig kümmerte es mich, daß die kleine Lokomotive - sie war etwa 50cm lang und ebenfalls von meinem Vater als "Müll" mitgebracht worden - nur einen Tag lang in meinem Besitz war. Sie hatte einen naturgetreu nachgebildeten Antriebsmotor, konnte also wie eine richtige Dampflok fahren, benötigte dazu aber keine Schienen. Sie konnte sogar wie eine Dampflok pfeifen, wie Walter L. uns begeistert demonstrierte. Sie wurde auf dem Schwarzmarkt verkauft. Ich war stolz, durch den Verzicht auf Spielzeug zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen zu haben, zumal ich mit diesem Jungsspielzeug "naturgemäß" ohnehin nicht RICHTIG hätte spielen können.
Bei all diesem Metallspielzeug sagte Ida: "Wat der Otto det allet hier herschleppt! Warum jibt er det denn nich seine Söhne? Naja, der Manfred und der Paul sin ja noch dußlicha als die Christa . . ."
Als ich im Winter 48 mit einer leichten Lungenentzündung tagelang das Bett hüten mußte, bettelte ich mit aller Inbrunst um Bausteine. Ida tobte: "Det is Jungsschpielzeuch! Wat willst DU damit?!" Aber ich weinte und bat, bis sie sich erweichen ließ. Sie brachte mir einen Kasten mit bedruckten Würfeln mit, aus denen sich Märchenbilder zusammensetzen ließen. Zuerst plärrte ich in großer Enttäuschung, daß das keine Bausteine seien, dann machte Irma mir die hübschen Märchenbilder schmackhaft und sagte abschließend: "Wenn de die Bilda nachher üba hast, kannste imma noch Türme aus die Steine baun!" Ich setzte also die Märchenbilder zusammen und hatte sogar viel Freude daran. Ich war beschäftigt und mußte nicht mehr daumenlutschend an die Zimmerdecke starren. Als Waltraud aus der Schule kam, beschäftigte sie sich fünf Minuten mit dem Mosaik und sagte dann: "Mensch, is det piepeleinfach! Kiek ma, wenn de die Reihe umdrehst, denn haste schon den Anfang von t neechste Bild, un denn drehste die neechste Reihe um un imma so weita, denn is det Bild fertich! Un wenn de die lange Reihe nimmst, denn brauchste die ooch bloß umzudrehn, un schon fängt det neechste Bild an!" Nun brauchte ich nicht mehr nach den passenden Steinen zu suchen, ich brauchte nur noch die Steine reihenweise umzudrehen. Was mich den ganzen Vormittag erfreut hatte, langweilte mich jetzt schon nach fünf Minuten. Nun baute ich Türme aus den Würfeln.
Zu Weihnachten bekam ich einen richtigen Baukasten. Ein sauber gearbeitetes kleines Kästchen mit Schiebedeckel, in welchem etwa 50 zierliche Holzbausteine verstaut waren. Da gab es rot bzw. grün gemusterte Ziersteine, größere und kleinere Dreiecksteine für Ziergiebel, Fenster mit roten Kunststoffscheiben und sogar vier gedrechselte Säulen von paarweise unterschiedlicher Größe. Natürlich gab es auch unterschiedlich lange einfache Vierkantsteine, aber aus alledem ließen sich zwar fantastische Schloßfronten errichten, doch keine Häuser. Dennoch spielte ich fast täglich mit den Bausteinen, bis sie im nächsten Winter den üblichen Weg all meines Spielzeugs nahmen.
Irgendwoher bekam ich einen Kaufmannsladen. Die Verkaufstheke reichte mir bis an die Brust. Sie hatte vorn und hinten viele Fächer, wo man das Verkaufsgut lagern konnte. Zu diesem Kaufmannsladen gehörten allerlei Nachbildungen von Lebensmitteln, und man konnte auch bereits vorhandenes Spielzeug in die Auslagen tun. Ich dekorierte den Kaufmannsladen, so schön ich konnte, und das war es dann auch schon, denn niemand spielte mit mir. Unberührt lag das Spielgeld in der Ladenkasse. Es war mir streng verboten, fremde Kinder in unsere Wohnung mitzubringen. Eines Tages klingelte es wiederholt an der Wohnungstür. Ich glaubte, Ida hätte vielleicht den Schlüssel nicht dabei und öffnete die Tür. Da stand eine Frau, von der ich wußte, daß sie meine Mutter war, aber mir war eingeschärft woren, sie wie jede andere Frau "Tante" zu nennen, Tante Elly in diesem Fall. Ich jubelte: "Tante Elly, schön, det du kommst, Oma is nich da, aba vielleicht spielst de n bißchen mit mir?" Unschlüssig trat meine Mutter ein und spielte dann doch mit mir zusammen mit dem Kaufmannsladen. Es wurde einer der schönsten Tage in meinem Leben. Erstmals durfte auch ich meine Spielwünsche äußern! Mama ging auf alles ein und wir amüsierten uns köstlich über die vielen nicht vorhandenen Artikel, die ich an sie verkaufen wollte oder von ihr zu kaufen wünschte. Was für herrliche Ausreden hatte sie parat, um mir zu erklären, daß der geforderte Artikel nicht zu haben war! Z.B. sagte sie: "Der Könich von Latifundien hat wat dajejen, daß in einem Krämerladen Goldbarren verkauft werden!" Ich bat sie inständig, bald wiederzukommen, als sie dann doch gehen mußte.
Natürlich erzählte ich Ida von unserem lieben Besuch. Sie tobte: "Wat, du läßt fremde Leute in de Wohnung? Hab ick dir nich dausendmal jesaacht, det de die Düre nich uffzumachn hast, wenn ick nich da bin?"
Zum Weihnachtsfest 1950 hatte Irma mir einen Satz Kasperlepuppen geschenkt. Da war der Kaspar, seine Grete, der Teufel, ein König, eine Prinzessin und ein Prinz. Das Krokodil besaß ich schon länger, Waltraud hatte es oft in der Hand und drohte mir: "Wenn de nich aatich bist, beißt dir det Krokodil die Neese ab!"
Nun konnte ich meine selbst erdachten Märchen mit den Puppen nachspielen. Aber bald war es mir zu mühselig, ständig die Puppen für die einzelnen Rollen mitten im spannendsten Text wechseln zu müssen. Ich sehnte mich nach einem Spielpartner und sprach - da Waltraud nicht greifbar war - als erstes Ida an. Sie lachte mich aus: "Mit so n Blödkram schpiel ick nich!" Dann kam Waltraud vom Weihnachtsurlaub bei ihren Eltern zurück und ich offerierte ihr eine Hauptrolle in meinem Kaspertheater. Sie hörte sich meine Texte an und sagte dann: "Det schdimmt ja allet nich! So wat doowet schpiel ick nich mit dir!" Als ob Märchen je dem wahren Leben entsprochen hätten! Bei Gerda hatte ich ebenfalls Pech, sie gab vor, keine Zeit zu haben. Nun wandte ich mich nochmals an Ida, bettelte und bat. Sie lief aufgebracht zu Irma: "Du hast die Jöre die blödn Puppn jeschenkt, nu schpiel ooch mit se!" Aber Irma hatte eine Verabredung, die sie nicht verpassen wollte. So wurden die Puppen letztendlich an die "Moabiter" verschenkt.
Zu meinem siebenten Geburtstag schenkte Gerda mir eine Kinder-Post. Ida lachte: "Wat soll denn die blöde Jöre damit?" Gerda meinte: "Na, die jeht doch jetz in ne Schule, da kann se denn denn doch ooch ma Briefe schreim." Ida lachte: "An wem denn?" und verbot mir, irgendwelche Briefe zu schreiben. Das Briefpapier und die Umschläge wurden weiterverschenkt, ebenso Stempel und Stempelkissen. Ich hätte ja Tintenflecke damit machen können, wie Ida fürchtete. Nur die Briefmarken waren mir geblieben. Aus Zorn darüber, daß Ida schon so viel von meinem Spielzeug verschenkt bzw. verkauft hatte, klebte ich die unnützen Briefmarken an unseren Kleiderschrank. Als Ida das ein paar Tage später sah, verpaßte sie mir eine saftige Tracht Prügel. Die Marken ließen sich zwar mit Wasser und Seife entfernen, aber es blieben häßliche Flecke zurück. Da bekam ich die zweite Tracht Prügel für ein und dieselbe Aufsässigkeit.
Nachdem die Spielzeugkiste verheizt war, besaß ich nur noch die Puppen. Sie saßen tagsüber auf meinem Bett. Die Art, wie Ida mit ihnen umging, gab mir das Gefühl, daß ihr diese Puppen lieber waren als ich, so zärtlich behandelte sie sie. Wenn ich mit den Puppen spielte, überwachte sie mich gewöhnlich streng, damit ihnen ja nichts zustieß.
Da war als erstes die Bettpuppe, ein unaussprechlich häßliches, etwa 30cm langes Monstrum aus Stoff. Sie war dunkelblau gekleidet und hatte Hände und Füße aus rosa Plüsch. Ihr Gesicht war mit bunter Wolle aufgestickt. Ich fand das Ding zum Fürchten, bekam es aber lange Zeit zum Schlafen ins Bett. Wo ich nun nicht mehr so viel Spielzeug hatte, begann ich, dieses verhaßte Ding zu zerstören. Unauffällig löste ich Tag für Tag einige Fäden aus dem Gesicht, bis Ida sagte: "Na, die is ja nu so häßlich jewordn, du hast sicha nischt dajejen, wenn ick se in n Ofn stecke." Endlich war ich sie los! Übrigens war dies das einzige mal, daß sie fragte, bevor sie ein Spielzeug verschwinden ließ.
Der bunte Harlekin gefiel mir viel besser. Er hatte ein lustiges Gesicht, war rot-weiß gekleidet und ebenso groß wie die Bettpuppe. Aber nach ein paar Tagen verlor er die Schelle von der Zipfelmütze. Das war für Ida ein Grund, ihn in den Ofen zu stecken. Oder tat sie es, weil er mir von meiner Mutter geschenkt worden war? Ich weiß es nicht.
Dann waren da die Lotte-Puppen. Es waren sogenannte Schildkrot-Puppen, aus einem empfindlichen Material gearbeitet. Sie hatten zarte, sehr hübsche Gesichter, ihre Haare waren nur aufgemalt, aber erhaben aus dem selben Material gepreßt wie der ganze Puppenkopf. Genaugenommen war der Puppenkopf - ebenso wie der Körper und die Extremitäten - nur eine Kunststoffblase. Diese Puppen hatten herrlich blaue Augen, einen hübschen Mund und einen engelsgleichen Gesichtsausdruck. Das waren meine Lieblingspuppen. Zuerst gehörte Waltraud die kleinere der beiden Puppen, weil sie ein klein wenig hübscher war als die größere, vor allem aber hatte sie ein hübscheres Kleid an als die große. Sie nannte ihre Puppe Liese und ich nannte meine Puppe der Moabiter-Tante Lotte zu Ehren Lotte (genaugenommen Onkel Bruno zu Ehren, Lotte war ja seine Frau). Auf die Namen Liese und Lotte war Waltraud durch das Buch "Das doppelte Lottchen" von Erich Kästner gekommen, wie ich später erfuhr. Ich hatte meine Puppe nach ihrem Willen "Lotte" zu nennen und dachte mir meine eigene Begründung aus.
Nachdem Waltraud und Doris ein Jahr lang mit diesen Puppen gespielt hatten ("Du hast ja noch n pa andre Puppn, Krille, borch uns ma die Lotte-Puppe!"), bekam die kleine Puppe anläßlich eines Streites ein kleines Loch in den Kopf. Es wurde mit einem Pflaster überklebt. Die Puppe war nun nicht mehr so niedlich wie vorher, darum überredete Waltraud mich, die Puppen zu tauschen. Mir war es gleich, ob mir nun die große oder die kleine Puppe gehörte. Die hübschen Kleider waren längst zerschlissen, beide trugen nun das gleiche von Gerda genähte Kleid. Auch das Loch im Kopf machte mir nichts aus. Ich hatte "den Invaliden" (so bezeichnete Waltraud sie) dafür um so lieber. Nun hieß die kleine Puppe Lotte. Waltraud taufte die große um. Ich habe mir den neuen Namen nicht gemerkt. Wieder spielten Waltraud und Doris mit den Puppen, bis auch die große bei einem Streit ein Loch in den Kopf bekam, an der selben Stelle! Es stellte sich heraus, daß die Mädchen sich gegenseitig mit den Puppen geschlagen hatten, daher die Löcher. Nun gehörten mir beide Puppen, und sie hießen beide Lotte.
Des weiteren hatte ich eine Puppe mit echten schwarzen Haaren. Sie waren in 20 cm lange Zöpfe geflochten, und es war mir verboten, die Zöpfe zu lösen. Ihre Gelenke waren sehr starr, es kostete einige Kraftanstrengung, sie zu bewegen. Aber sie hatte hübsche braune Schlafaugen. Diese Puppe saß mit ausgestreckten Armen immer nur herum. Zu einem Weihnachtsfest bekam ich ein "Rotkäppchen", damit konnte ich noch weniger anfangen. Das rote Käppchen war auf den superfeinen strohblonden Haaren festgeklebt und löste sich schon nach kurzer Zeit ab, wobei sichtbar wurde, daß nicht der gesamte Puppenkopf mit Haaren bedeckt war. Auch die schwarzen Lackschuhe lösten sich auf, das Körbchen ebenfalls. Aber diese Puppe wurde sonderbarerweise nicht von Ida weggeworfen, ebensowenig wie die glotzäugige Babypuppe, zu der mir überhaupt keine Spielidee kam. Der Strampelanzug war auf ihrem Körper festgenäht, ebenso die Zipfelmütze auf dem Kopf. So konnte man sie weder an- noch ausziehen, oder Trockenlegen, von waschen oder frisieren ganz zu schweigen. Einzig ihr quäkendes "Mama" war für mich von Bedeutung. Man hatte mich auf "Puppenmutti" getrimmt, und nun hatte ich eine Puppe, die "Mama" zu mir sagte. Doch schon nach kurzer Zeit ertrug man es nicht, daß ich die Puppe ständig plärren ließ. Es war meine einzige Möglichkeit, mit meinem neuen Puppenkind zu spielen, und es wurde mir verboten. So montierte ich die Stimme heraus. Das war natürlich sehr ungezogen von mir, ich hatte die teure Puppe kaputt gemacht. Da sie nun keine Stimme mehr hatte, wurde sie weggeworfen.
Als ich neun Jahre alt war, hatte ich eine sehr hübsche und auch preiswerte Negerpuppe in einem Spielzeugladen gesehen, das war die einzige Puppe, die ich mir jemals wirklich wünschte. Sie sah aus wie ein ganz normales einjähriges Kind und war auch so gekleidet. Ich hätte mir denken können, daß ich sie nicht bekommen würde. Ich bekam stattdessen eine lediglich mit einer grellroten kurzen Hose bekleideten Negerpuppe aus Stoff, ein häßliches Ding mit breitem roten Mund, riesigen Händen, schwarzen, krausen, strohigen Haaren und angeklebten großen goldenen Papp-Ohrringen. Na, das war ein Weihnachten! Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten und wurde wieder einmal für äußerst undankbar gehalten, weil ich es wagte, zu sagen, daß die Puppe nicht meinen Erwartungen entsprach. Da hatte man mir nun schon eine Negerpuppe geschenkt - "Wie kann man sich nur eine Negerpuppe zu Weihnachten wünschen!" - und es war obendrein nicht die Rechte! Ida schimpfte mit mir und Gerda lachte sie aus: “Wat hörste uff die Jöre!“
Da ich nur die Puppen zum Spielen hatte, mußte ich mir auch einfallen lassen, was ich denn nun überhaupt mit ihnen spielen konnte. An- und ausziehen durfte ich sie nicht, geschweige denn waschen oder kämmen. Also setzte ich sie eines Tages hoch oben auf die Schränke. Ida kam ins Zimmer und fragte erschrocken: "Wat machn denn die Puppn da uff n Schrank?" Ich antwortete wahrheitsgemäß: "Die machn ne Feerjenreise int Jebirje." Kopfschütelnd meinte sie: "Du hast aba ooch wirklich nur Blödsinn im Kopp! Je älta det du wirst, desto dußlicha wirste!"
Dann kam die Zeit der Anzieh-Puppen. Sie waren aus sehr dünnem Karton ge-schnitten, und zu jeder gehörten mehrere unterschiedliche Kleidungsstücke aus demselben Material. Man konnte die Puppen je nach Geschmack und Laune einkleiden. Waltraud und Doris bastelten ihnen zu meinem großen Vergnügen noch zusätzliche Kleider und andere Assessoires aus Papier, um noch weitere, nicht vorgegebene Situationen nachempfinden zu können. Auch diese Puppen überließ ich auf Verlangen der Doris. Glücklicherweise machte sie sich nicht allzuviel aus diesem Spiel, so blieben meine Puppen heil und Waltraud schenkte mir obendrein auch noch die ihrigen. Bis zur nächsten Heizperiode konnte ich mich ungestört an ihnen erfreuen. Ging etwas an ihnen entzwei (was ja bei so dünnem Karton sehr leicht geschehen konnte), bat ich Irma, es mir zu flicken, denn nur sie besaß Klebstoff.
Von meinem zehnten Geburtstag an wünschte ich mir nur noch Bücher zu Weihnachten und zum Geburtstag und bekam auch welche. Anfangs sogenannte "Mädchenbücher", deren Titel ich heute nicht mehr weiß und deren Inhalte mich nicht fesselten, dann aber auch "Die Kinder des Kapitän Grant" von Jules Verne und eine von Afrika handelnde Reisebeschreibung von Hans Schomburgk. Die "Mädchenbücher" benutzte ich als Preßmaterial für Trockenblumen.
Einiges von Waltrauds Spielzeug war bei Ida geblieben, als sie - inzwischen dreizehnjährig - endlich wieder bei ihrer Mutter leben durfte. So z.B. ein Spielemagazin, bestehend aus Dame, Mühle, Halma und Puff. Letzteres hatte sie oft und gern mit Doris gespielt. So, wie die beiden mir die Spielregeln erklärten, waren sie mir unbegreiflich. Aber Dame und Mühle hat Waltraud oft mit mir gespielt. Wenn sie gewann, lachte sie mich aus: "Hast valoorn, Valiiiera! Valiiiera!", bis ich weinte. Dann warf sie mir vor, ein schlechter Verlierer zu sein. Entgegnete ich: "Un du bist n olla Schdenka!", wies sie mich zurecht: "Zieh nich imma von dir uff andre!" Ich war mir zwar keiner Schuld bewußt und habe auch nie einen Spielgefährten zum Weinen gebracht, aber durch ihre Zurechtweisung - wenn auch ungerechtfertigt - lernte ich, für andere mitzudenken. Da ich allerorts abgelehnt wurde, wußte ich, daß ich anders bin als andere, und versuchte, mich nicht nur anzupassen, sondern auch die Handlungen der anderen voraus zu sehen (was mir häufig nur schlecht gelang).
Nun waren diese Spiele mein, und ich spielte stundenlang mit wachsender Begei-sterung Halma zu sechst mit mir alleine. Ich ordnete die einzelnen Farben nicht existierenden Personen zu. Der blaue war der Unglücksrabe, ich sorgte dafür, daß er fast immer verlor. Er war ich.
Kam Onkel Erich im Winter zu Besuch, brachte er sein Schachspiel mit. Ich hatte größtes Vergnügen an diesem Spiel. Irma besaß auch ein Schachspiel, so forderte ich sie einmal zu einer Partie heraus. Sie fragte mitleidig: "Und wenn de valierst?" (sie hatte oft genug meine Streitereien mit Waltraud durch die Wand hindurch angehört). Ich versicherte: "Beim Schach jibt et keene Valiera. Wenn die Partie zu Ende is, hahm beede Spiela wat jelernt, un von dir kann ick janz beschdimmt ne Menge lern!" Nun setzten wir uns an das Brett, und Irma freute sich, daß ich schon mehrere Eröffnungen kannte und auch das Schäfer-Matt beherrschte. Dennoch gewann sie jede Partie, sie war entschieden der stärkere Spieler. Nun wußte wenigstens sie, daß ich es durchaus ertragen konnte, ein Spiel zu verlieren und daß Waltraud mich absichtlich zum Weinen brachte.
Zum nächsten Weihnachten schenkte Irma mir ein eigenes Schachspiel. Nun konnte ich auch mit meinem großen Bruder Schach spielen, wenn er mich besuchen kam. Er gab anfangs die Dame vor, wenn wir ein Spiel begannen, damit ich eine Chance hatte, zu siegen. Ich hatte nie zuvor und niemals wieder einen so geduldigen, liebenswerten, humorvollen und freundlichen Spielgefährten wie meinen Bruder Manfred.
Manchmal spielte ich mit den Figuren auch ohne Brett. Dann dachte ich mir Geschichten aus, gab den Figuren Namen wie seinerzeit den Spielkarten und spielte Bauernkrieg und anderes.
Als ich dreizehn Jahre alt war, fühlte ich mich oft sehr einsam und verlassen. Da nahm ich - zu Idas großem Gelächter - manchmal die kleine Lotte-Puppe mit ins Bett. Ich rieb ihr den Saft aus meiner Scheide zwischen die Beine und stellte mir vor, sie würde dadurch ein richtiges kleines Mädchen werden, an dem ich dann den Leuten in meiner nächsten Umgebung demonstrieren könnte, wie man mit einem Kind umgeht. Eines nachts hatte ich mich im Schlaf auf sie gelegt und sie dabei zerdrückt. Das tat mir sehr leid, und ich nahm nie wieder eine Puppe mit ins Bett. Puppen sind ohnehin hartkantig. Ida kannte den Begriff "Kuscheltier" noch nicht, er erstand erst viele Jahre nach ihrem Tod. Zu ihrer Zeit hieß das noch "Bettpuppe" für Mädchen und "Teddy" für Jungs. Es war mein Fehler, daß ich mich vor der Bettpupppe fürchtete und sie überhaupt nicht kuschelig fand. Außerdem ist eine Puppe kein Ersatz für mütterliche Fürsorge. Ida gab mir eine Puppe und nahm mir die Mutter. Sie war ja so stark! Was hatte sie nicht alles vollbracht! Sie hatte Bruno aufgezogen, Gerda vom nahen Tode befreit, Irma aus dem Waisenhaus erlöst . . . Das erkenne ich alles an. Aber an mir hat sie gesündigt!
 
Hallo oldicke

wieder ein gut geschriebenes Kapitel aus deinen Memoiren. An viele der erwähnten Spielsachen erinnere ich mich noch, weil ich entweder selbst damit spielte, oder sie für meine jüngere Schwester repariert habe.
Der letzte Satz klingt mir ein wenig zu bitter. Ich kenne deine Ehrlichkeit, kann auch gut verstehen, wie dir heute noch zumute ist. Und dennoch! Vielleicht schaffst du es eines Tages, als versöhnlichen Ausklang zu schreiben: ...- vielleicht war sie ja auch nur überfordert.
Hört sich einfach schöner an, finde ich.
Es grüßt dich lieb
Willi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

lieber willi! vielen dank für deine netten worte. was den letzten satz betrifft - sie hätte sich mit mir nicht überfordern müssen, sie hätte mich bei meinen eltern lassen können, die wohnten 2 querstraßen weiter, und das erfuhr ich erst, als ich schon 3 oder 4 jahre alt war. sie hat sich mir aufgehalst aus der dummen überzeugung heraus, daß sie ihre enkeltochter leichter erziehen könnte, wenn da noch n kleineres kind ist. so war es, als sie ihre geschwister zu erziehen hatte, so war es, als sie ihren neffen bzw. ihre adoptivtochter zu erziehen hatte. sie hätte mich überhaupt nicht dieser waltraud vorzusetzen brauchen, ich hatte zwei brüder, die mir wahrscheinlich weniger zugesetzt hätten. aber is lieb gemeint von dir. man liest sich. lg
 

urte

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Hallo, Flammarion -
wieder habe ich einen Teil Deiner Autobiographie gelesen, mit Interesse und, wie Willi, mit vielen eigenen Erinnerungen dabei (Baukasten, rot hinterklebte Fenster, Kaufladen, Schildkrötpuppe, Babypuppe usw.). Wieder mußte ich das kleine Kind bedauern, dem aber auch immer alles wieder weggenommen wurde. Das ist ein Motiv, das sich bis zu dem Zeitpunkt hindurchzieht, an dem es - mit dem Schachspielen - endlich die Initiative ergreifen konnte.
Du hast vielleicht gesehen, daß in der Allg. Diskussion jemand ein Thema "Autobiographisches Schreiben" eröffnet hat. Das wäre doch etwas für Dich zum Mitdiskutieren. Ich werde da immer mal vorbeigucken, weil mich Biographien sehr interessieren, obwohl ich nie Memoiren schreiben werde. Ich habe eine zeitlang massenhaft (auch Auto-)Biographien gelesen und kann Dir das auch sehr empfehlen, wenn du mal ein Ganzes aus Deinen vorliegenden Teilen machen möchtest. Und kommt denn erstmal eine "Gebrauchsanweisung" ;)?
Viele Grüße, Urte
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

liebe urte, vielen dank für dein interesse und den hinweis auf das diskussionsforum. da laß ich mich selten blicken, weil die zeit zu knapp ist.
eine gebrauchsanweisung für meine memoiren - nun ja, das einfachste wäre, erst die kapitel zu lesen, die einen namen in der überschrift haben wie waltraud oder gerda und danach alle anderen, ich glaube, so kann man der sache am besten folgen. ganz lieb grüßt
 



 
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