aus meinen memoiren: onkel alfred

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flammarion

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Onkel Alfred

1948 heiratete Gerda einen gewissen Alfred G.. Nun hieß sie nicht mehr Gerda S., sondern Gerda G.. Er versprach, Waltraud zu adoptieren, aber das kostete Geld und die Mühe, die Adoption bei den Ämtern zu beantragen und durchzusetzen. Das waren die tatsächlichen Gründe für die Nichteinhaltung des vor der Hochzeit gegebenen Versprechens. Alfred schob die Unstimmigkeiten zwischen ihm und dem Mädchen vor.
Waltraud durchschaute mit dem raschen Verstand des Kindes das Wesen dieses Mannes. Ihr Widerstand gegen ihn resultierte nicht nur daraus, daß sie mit ihm die Mutter teilen mußte, die ohnehin kaum Zeit für sie hatte. Sie hat ihn zeitlebens nie als Vater angesehen. Er gab das Bemühen, die Kleine für sich zu gewinnen, bald auf und sie bekam schon nach kurzer Zeit nur böse Worte und harte Strafen. Sie blieb bei ihrer Oma, obwohl die Familie G. längst eine schöne große Wohnung in Pankow hatte. Erst, als sie schon zwölf Jahre alt war, gestattete Alfred, daß sie zur Mutter zurückkehrte. Weil Waltraud nun nämlich weibliche Rundungen annahm, an denen er sich gern erfreut hätte. Da Wal-traud ihm keine Annäherung gestattete, mußte sie zwei Jahre später wieder zu Ida zurück.
Ich sah Alfred bei unserer ersten Begegnung ebenfalls sehr skeptisch an. Er erschien mir irgendwie düster, irgendwie schleimig, etwa so wie der negative Held eines Märchenfilms. Er lächelte mich an, d.h., er setzte eine freundlich scheinende Miene auf, kniff mir in die Wange (was ich noch nie leiden konnte; ich halte diese Form des Umgangs mit einem Kind für eine Mißachtung der kindlichen Persönlichkeit) und hob mich auf seinen Arm. Dafür verzieh ich ihm das Kneifen; ich liebte es sehr, wenn mich jemand auf seinen Arm hob, ganz gleich, wer es war.
Nachdem der Bräutigam der Familie - einschließlich Grete L. - vorgestellt worden war, fragte anderntags Ida: "Wo haste denn deen kennjelernt?"
Gerda (glücklich lächelnd): "Uff n Danzbohn."
Ida und Grete L. (empört): "Wat, uff n Danzbohn?! Aba sowat heirat man doch nich!"
Gerda (verteidigend): "Der is nich so eena, der schpielt in die Danzkapelle!"
Ida (heftig gestikulierend): "Na, det is ja noch schlimma! Eena von de brotlose Kunst! Von wat soll der dir denn aneean, Mensch? Wißte denn dein Leehm lang drockne Brotrindn futtan?"
Gerda (weinerlich): "Der schpielt doch man bloß aahms un am Wochnende in die Kapelle, der aabeit doch in ne Zijarettnfabrik int Büro!"
Ida: (vollkommen besänftigt) "Ach sooo . . ."
Grete L. (gierig): "Denn kricht a doch beschdimmt ooch ma n paa Zijarettn umsonst, wa?"
Gerda (erfreut): "Det is mööchlich. Danach ha ick noch ja nich jefraacht. Na, sowat fraacht man ja ooch nich jleich uff n erstn Tach, wat soll n der Mensch sonst von mir denkn!"
Trotz der Aussicht auf kostenlose Zigaretten redeten alle auf Gerda ein: "Meechen, übaleech dir det, ob de deen heiratst, det scheint jetz allet eitel Sonnnschein, aba in n paa Jahre sieht det allet andas aus, denn wißte det villeicht be-reun, det de ausjerechnet deen jeheirat hast!" Gerda verteidigte ihre Eroberung mit der Blindheit der Frischverliebten. Ida sagte letztendlich mit einem tiefen Seufzer: "N Reisndn soll man nich uffhaltn. Jerda, det is dein Leem. Mach, wat de willst, aba komm mir nich nachher an un saare, det wir dir nich jewarnt hättn!" Ich hörte bei alldem zu und war ge-spannt, was dabei herauskommen würde.
Ich dachte so bei mir: "Wat, der komische kleene dünne Mann soll meine hübsche Tante Jerda heiratn? Der - mit seinn unanjenehm birnförmijen Kopp un die ölijen, dünnn kurzn Haare dadruff? Der - mit seine dünnn schiefn Lippn un den dünnn kurzn Hals mit den schpitzn Kehlkopp? Der - mit die niedrije Schtirn un die Haknneese? Der - mit seine dürren Spinnnfinga? Mensch, der sieht ja eem Tier eehnlicha als eem Menschen! Der is janz beschdimmt nich so lieb wie Onkl Bruno!"
Ich wunderte mich, daß die Eheschließung nicht untersagt wurde, nachdem alle dagegen waren. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach, mir war eingeprägt worden, daß alles seine Richtigkeit hat, was Erwachsene tun, und wenn es noch so sehr der Logik widerspricht.
Kurz nachdem Alfred der Ida vorgestellt worden war, hatte er Gerda noch einmal zu einem Tanzvergnügen mitgenommen. Spät in der Nacht kamen sie mit großem Trara in unsere Wohnung. Gerda war so betrunken, daß sie ihm nicht die Adresse ihrer kleinen Wohnung angeben konnte. Er brachte sie also zu uns nach Hause. Da Gerda einen Schlüssel hatte, mußten sie nicht klingeln. Aber dann begannen die Schwierigkeiten - Alfed sah, daß alle Betten belegt waren und wußte nicht, wohin mit Gerda. Da er von ihr nur ein trunkenes Kichern zur Antwort bekam, zog er die Pa-piertute und die Knarre aus der Tasche, die für uns Kinder als Geschenke mitgebracht worden waren und weckte uns alle auf mit den disharmonischen Tönen. Ida schimpfte, ich weinte überlaut, und Waltraud hockte verängstigt auf dem Bett. Endlich kam Irma - die ebenfalls von dem mitternächtlichen Lärm aufgeweckt worden war - aus ihrem Zimmer, nahm Waltraud und mich in ihre Arme, tröstete uns, und Ida ging mit Alfred in die Küche (nachdem er uns die Lärminstrumente zugesteckt hatte), wo sie ihn ob der Ruhestörung harsch zurechtwies und ihm erklärte, daß Gerda eine eigene Wohnung hat und wo sich selbige befindet. Gerda bekam unterdessen den zu einem Besäufnis gehörenden "Moralischen" und Irma bemühte sich nun um sie. Ich betrachtete das alles mit großem Staunen und hoffte, daß der "böse Onkel" sich nie wieder bei uns blicken lassen würde. Meine diesbezügliche Bemerkung am anderen Tag wurde von Ida empört abgewiesen: "Der Alfred wird die Jerda HEIRATEN, du dummet Jör, der WIRD wiedakomm, un du wirst jefällichst janz lieb un nett un freundlich zu ihm sein, merk dir det een for allemal!"
Er kam wieder, und er stellte sich weiterhin freundlich. Da ich freundlich, lieb und nett zu ihm sein sollte, kletterte ich auf seinen Schoß. Er machte mit mir "Hoppe Reiter", was ich sehr genoß. So sehr, daß ich nicht genug bekommen konnte, denn nie zuvor hatte mich jemand so hoch hüpfen lassen und danach so tief hinuntergebeugt. Er hatte bald genug von diesem Spiel, war aber nicht fähig, mir das klarzumachen. So verfiel er auf ein neues Spiel. Es ging genauso wie "Hoppe Reiter", hatte aber einen anderen Text: "Eine kleine Dickmadam fuhr mit der Eisenbahn, Eisenbahne krachte, Dickmadame lachte, lachte, bis der Schaffner kam und se mit zur Wache nahm. Uff de Wache war se frech, batsch, da hat se eene wech!" Und bei "batsch" verpaßte er mir eine derartige Ohrfeige, daß ich von seinen Knien ab-stürzte. Auf mein empörtes Heulen sagte er kühl: "So is det, wenn man nich jenuch kriejen kann!" Von nun an war ich nicht mehr freiwillig bereit, lieb und nett und freundlich zu Alfred zu sein. Das kam erst Jahre später wieder in Frage, als es niemanden mehr gab, der zu mir lieb und nett und freundlich war, also in meinem sechsten Lebensjahr.
Nach einem seiner Besuche bei uns, der so lange dauerte, daß ich schon längst im Bett lag, zog ich ihn beim Abschiedsküßchen fest an mich. Er steckte seine Hand unter meine Zudecke und streichlte mich auf nie gekannte Art. Staunend ließ ich es mir gefallen und das Abschiedsküßchen wurde immer länger. Gerda fragte aus dem Korridor: "Wat machste denn da so lange, Coco?" Alfred antwortete begeistert: "Det Kind hier braucht Vataliebe!" Ich verachtete ihn dafür, denn ich wußte sehr wohl, daß das, was er mit mir tat, nicht das Geringste mit Vaterliebe zu tun hatte, obwohl ich nie Vaterliebe empfangen hatte. Ich begehrte seine Zärtlichkeit jedoch immer wieder, bis zu jenem Tag, wo er es mit mir wie mit einer richtigen Frau tun wollte. Erst von da an suchte nicht ich seine Nähe, sondern er die meine, und ich wußte nicht, wie ich mich dem entziehen könnte. Ich war in der größten Verlegenheit und wagte nicht, mit ir-gendjemandem darüber zu reden, denn den Intimbereich zu berühren oder gar berühren zu lassen, galt als die größte Sauerei auf Erden.
Doch zurück zu 1948. Alfred hatte sich bald in Idas Herz geschmeichelt durch Geschenke und gutes Benehmen. Auch lud er uns mitunter zu einem Ausflug ein. Ich erinnere mich u.a. an eine "Herrentagsfahrt" auf einem mit Birkengrün und Wiesenblumen geschmückten Kremser, der von zwei auf Hochglanz gestriegelten Reitpferden gezogen worden war. Mir fiel sofort auf, daß sie viel ansehnlicher waren als die Brauerei-Pferde. Walter L. sagte mißbilligend: "So-wat macht nur n Kriech möchlich - der Kremsa wird von zwee Reitpferde jezooren!" In der Zeit, wo wir auf die Nachzügler warteten, streichelte er die majestätischen Tiere und flüsterte ihnen Koseworte zu. Alfred sagte obenhin: "Na und? Die bring uns ooch hin, wo wir wolln!" Walter L. brummte: "Jaja, Kunst jeht nach Brot!" und vergewisserte sich beim Gespannlenker, ob die Rassepferde noch Rennen liefen. Der Zügelhalter erwiderte: "Wo denn, Männeken? Die jroßen Rennplätze sin kaputt, die Mänätscha hat der Kriech jefressn, ick kann jetz mit die Pferde nur noch Kremsa fahn, bin schon froh, det se den Kriech übalebt ham so wie ick. Aba . . ." Er trat näher zu Walter L. und senkte die Stimme zu einem geheim-nisvollen Flüstern. Ich wußte, daß ich mich aus den Geheimnissen der Erwachsenen herauszuhalten hatte, weil ich kleines Kind sie ja nicht verstehen kann. Ich ging ein paar Schritte zur Seite, um nicht den Anschein des Horchens zu erwecken, vernahm aber doch, daß die Stute ein Fohlen geworfen hatte, das durchaus Chancen auf einen Sieg hätte, wenn nur ein Rennen stattfinden würde.
Ich weiß nicht, wohin die Fahrt ging, aber ich weiß, daß sie sehr lange dauerte, daß außer uns und der Familie L. noch andere Leute auf dem Wagen saßen, daß alle sehr fröhlich waren und das Bier und den Schnaps gleich aus der Flasche tranken. Das einzige für mich Erfreuliche auf diesem total überfüllten Fahr-zeug war, daß die Leute (die sich zumeist hier erst kennenlernten) alle die selben Lieder sangen. Am Zielort angekommen (ein Ausflugslokal am Stadtrand), machten wir es uns an einem der wackeligen Gartentische bequem und aßen unsere Bouletten und Würstchen; das war billiger, als wenn wir dort etwas zu Essen be-stellt hätten. Der Kellner monierte unser mitgebrachtes Essen, Alfred verwies auf das Schild am Eingang: "Hier können Familien Kaffee kochen" und gab unsere Getränkebestellung auf. Es dauerte eine Weile, ehe der Kellner wieder an unseren Tisch trat. Das Lokal war sehr gut besucht, die drei Kellner hatten alle Hände voll zu tun. Nachdem Alfred "Prosit!" gesagt hatte, setzte jeder an unserem Tisch das vor ihm stehende Glas an die Lippen. Ich lernte: In einer Gaststätte wird kein Tischgebet gesprochen, "Prosit" genügt. Irma trank ihr Bierglas in einem Zuge leer. Ida sprach tadelnd: "Ej, ej, vajiß deinn Nahm nich!" Irma wischte den Schaum von den Lippen und fragte heiter (in der Annahme, daß es jetzt einen Witz zu hören gibt): "Wieso? Wie heiß ick denn?" Ida wiegte bedenklich den Kopf: "Haste also schon vajessn. Haste denn wenichstns dein Außweiß mit?" Irma fragte aufsässig: "Zu wat brauch ick hier n Ausweis?" Ida nun: "Haste nich mit? Na, denn bleib ma jetze schön bei uns, wir bring dir denn zu Hause, da kannste dein Nahm denn an de Woh-nungsdüre lesn." Irma begriff endlich, daß der Witz auf ihre Kosten ging. Sie stand auf und sagte obenhin: "Ick jeh jetz in n Wald, Pilze schießn." Man machte sie darauf aufmerksam, daß es so früh im Jahr noch kei-ne Pilze gibt, daß sie auch kein "Gewehr" bei sich hat u.v.a.m. Sie winkte lächelnd ab und entschwand.
Für Waltraud und mich war je ein riesiges Glas "Berliner Weiße mit Schuß" bestellt worden. Ich konnte das schwere Glas kaum zu Munde führen. Waltraud sagte nach dem Kosten: "Ih, is det bitta!" darauf ließ Alfred den Kellner noch einmal mit dem Himbeersaft kommen. Auch ich meldete lautstark meinen Anspruch an, trank das Glas aber nur zur Hälfte leer, dann wurde mir schwummrig. Ich ging mir die nähere Umgebung anschauen, während die Erwachsenen heiter plauderten. Ich blieb in Sichtweite, damit ich nicht etwa den Abmarsch verpasse. Gerda hatte vor Fahrtantritt gesagt: "Wenn de nich aatich bist, lassn wa dir im Wald, denn fressn dir die Hexn uff!" Endlich fuhren wir heim. Es war so spät geworden, daß ich auf dem Wagen einschlief. Dafür wurde ich natürlich ausgelacht. Damals war ich vier Jahre alt.
Ein andermal fuhren wir an einen großen See (wahrscheinlich an den Müggelsee), wobei wir auch eine Dampferfahrt unternahmen, die bei einem Gartenlokal endete. Wieder bekam ich ein großes Glas "Weiße mit Schuß". Diesmal trank ich vorsichtiger; ich wußte, daß mein Glas stehenbleiben würde, bis ich es leergetrunken hatte, auch wenn noch so viele Wespen darin ertrunken waren. Ich erinnerte mich an Irmas Freiheit (sie war diesmal nicht dabei) und sagte, daß ich in dem zum Lokal gehörigen Buddelkasten spielen gehe. Man sagte gönnerhaft zu mir: "Ja, jeh du man buddeln!" Ich kehrte in regelmäßigen Abständen an den Tisch zurück und beobachtete, daß die Stimmung dort immer höher stieg, daß also noch lange nicht an die Heimfahrt gedacht wurde. Nach Einbruch der Dunkelheit stand nach meiner Rückkehr vom Tisch ein Junge im Buddelkasten, der zu mir sagte: "Den Spielplatz hat mein Vata für die Urlauber uffjebaut, aba ick möchte ooch mal hier spieln. Ihr fahrt sowieso mit dem neechstn Dampfa ab, det is neemlich der Letzte." Ich war tief beeindruckt von der Tatsache, daß ein Junge, der mich um mehr als Haupteslänge überragte, im Buddelkasten spielen wollte und stellte mir die Wunderwerke vor, die er errichten könnte: Eine Burg von Meterhöhe oder eine Stadt mit vielen Brücken und Tunneln, den ganzen Buddelkasten ausfüllend. Ich beneidete ihn und bot meine Dienste an. Aber er sagte, daß seine Freunde jeden Moment kommen und sich sehr wundern würden, ein kleines Mädchen vorzufinden. So entschloß ich mich, ans Ufer zu gehen, wo vorher die Kinder von den anderen Tischen standen. Ich sah den Wellen zu, wie sie an den Strand leckten, wie sie die Schwebstoffe im Wasser bewegten sowie Blätter und andere Pflanzenteile. Ich fand diese Bewegungen faszinierend. Ich hätte stundenlang auf die Wellen schauen können. Sie regten meine Phantasie an und ich erdachte mir flugs mehre-re herrliche Seeabenteuer, vertiefte mich in meine Phantasiewelt und vergaß die Realität. Der Einbruch der Dunkelheit verschärfte meine Phantasie noch. Ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen, spielten die großen Jungs im Buddelkasten auch eine Rolle in meinen Seeabenteuern. Sie errichteten keine phantastischen Bauwerke, sondern bewarfen sich mit Sand. Ihre Schreie waren die meiner tapferen Matrosen.
Unter dem Dampferanlegesteg war ein langes Stück fester Boden, hier konnte man praktisch in den See hineinlaufen. Schritt für Schritt ging ich langsam diese Landzunge entlang, und versank immer mehr ins Träumen. Plötzlich fühlte ich mich heftig an den Haaren gepackt. Es war Alfred, der mich anbrüllte: "Du blödet Kamel, wat fällt dir ein, so weit weg zu loofn, det wir dir nich mehr sehn? Wir dachtn schon, du bist asoffn!" Ich war zu erschrocken, um zu weinen, und ich fühlte mich unendlich schuldig. An den Tisch zu-rückgekehrt, wurde er als der strahlende Held gefeiert, der das "verlorene Kalb" zurückbrachte und ich wur-de von allen Seiten beschimpft. Es wurde eine neue Runde bestellt. Wir verpaßten den letzten Dampfer. Da noch einige Wanderer unser Schicksal teilten, telefonierte der Gastwirt nach einer Fähre. Auf dem Weg machte ich mich so klein und unauffällig wie irgend möglich. Ich sagte erst wieder am Anlegesteg etwas, und das kam so: Unter den Fahrgästen war ein Buckliger, der eine "Teufelsgeige" (ein Krückstock war mit einer Saite bespannt und mit vielen Klingeln und Hupen bestückt) mit sich führte und zu unser aller Unterhaltung darauf spielte. Herzhaft wurde über seine Grimassen und über die schrillen Töne gelacht, und immer wieder verlangte man neue Melodien zu hören und steckte ihm Geldscheine zu. Beim Absteigen vom Dampfer ließ er das sonderbare Instrument in den See fallen. Erschrocken rief ich aus: "Nu is et wech!" Es tat mir sehr leid, daß der Mann das Gerät seines Broterwerbs verloren hatte. Alfred tröstete mich: "Det macht der jedet Jaah. Neechstet Jaah bastelt a sich n neuet." Nun sah auch ich die Sache heiter. Am nächsten Tag noch tobte Ida: "Dir nehm wa det neechstema nich mit uff de Dampfafaat!" Aber diese war die letzte.
In der nächsten Zeit erwies sich Alfred als sehr tüchtig. Er bot an, unsere Wohnung zu renovieren, wir könnten solange bei Gerda schlafen, so hätte er freie Hand und wäre schneller fertig. Die Küche bekam ein flaschengrünes Paneel, darüber strahlendes Weiß (Ida verlangte „schneeweiß“, der Schnee war in Berlin nicht mehr so weiß wie in ihrer Erinnerung. Gerda erläuterte: „Oma meint „blütenweiß“ und endlich verstand Alfred. Im Jahr 2000 sind selbst die Blütenfarben umweltgeschädigt, daher rede ich von „strahlendweiß“. In Kürze wird es wohl „unvorstellbares Weiß“ heißen.) auch die Decke erhielt dieses Weiß, es war nun viel heller in der Küche. Der Flur bekam den billigsten Anstrich, der möglich war in der damals modernen Wickeltechnik. Hierzu wurde ein Lappen in Farbe getaucht und zusammengeknüllt. Rollte man den Lappen über die Wand, entstand ein skuriles Muster, das auf mich sehr phantasieanregend wirkte. Wenn ich mich einsam fühlte, brauchte mich jetzt nur in den Flur zu stellen und auf die Flecken zu starren, bis ich Gesichter und Gestalten erblickte, mit denen ich mich unterhalten konnte. Die Stube war mit einer gräßlichen Tapete beklebt worden - große, bunte Blumensträuße, von einem goldenen Rautenmuster eingefaßt. Einen dieser Sträuße hätte ich schön gefunden, aber vier Wände voll? Das war mir zuviel. Ich schüttelte den Kopf. Niemand bemerkte es, also wurde ich nicht befragt und mußte nicht sagen, wie überladen die Stube mir erschien. Alfred sagte nach Idas Befallensbekundung, daß es gar nicht so leicht war, die Tapete "auf Muster" zu kleben, und daß er sehr viel wegwerfen mußte. Er mußte sogar noch zwei Rollen Tapete nachkaufen und war froh, gleich im ersten Geschäft das gesuchte Muster zu bekommen, sonst hätten wir noch einen Tag länger bei Gerda schlafen müssen. Die kupfernen Gardinenstangen hatte er durch moderne Holzleisten ersetzt, die Übergardine aus schwerem Samt durch einen Deko-Stoff, so wirkte auch die Stube heller als zuvor. Aber ich trauerte um den romantischen Samt mit seiner Jugendstil-Verzierung, wenn er auch an einigen Stellen abgeschabt war. Die Kupferstangen brachten beim Altstoffhandel noch ein paar Markstücke ein, so war Ida überaus zufrieden mit der Renovierung.
Zur Verschönerung des Schlafzimmers kaufte Alfred 1950 ein Gemälde, das Gerdas "Engelsreigen" ersetzte. Auf dem "Engelsreigen" waren acht blumenbekränzte Mädchen in losen, luftigen, pastellfarbenen Gewändern zu sehen, die auf einer blühenden Wiese im Sonnenlicht tanzten. Er wurde verheizt. Das neue Gemälde zeigte eine Waldlichtung, auf der Räuber beim Schmaus saßen. Am rechten Bildrand waren die ausgeraubten Leute abgebildet: Zwei ermordete Edelmänner unterschiedlichen Alters und zwei geschändete Frauen mit entblößten Unterleibern. Eine wandte ihren Blick klagend gen Himmel, die andere hatte den Kopf tief gesenkt. Dieses Bild gefiel allen, nur Waltraud und mir nicht. Wir waren ja auch nur "dumme Jörn".
Alfred besaß ein altes Grammophon mit Trichter und Kurbel. Wenn man eine Platte aufgelegt hatte, mußte man tüchtig die Kurbel drehen, damit sich der Teller in Bewegung setzt. Dieses fabelhafte Gerät zog mich magisch an. Doch kaum war ich in seiner Nähe, wurde ich auch schon angeherrscht, daß meine Pfoten an dem Apparat nichts zu suchen haben. Oft wurde das Grammophon bei Familienfeiern in Gang gesetzt. Da konnte ich, wenn der Alkoholspiegel eine gewisse Höhe erreichte, ganz aus der Nähe zusehen, wie die Scheibe sich drehte, wie die Platten gewechselt wurden und wie die Nadel in der Rille sprang. Ich fand es aufregend, daß die Töne in der Rille saßen. Die Melodien rauschten an mir vorüber, ich habe mir nur wenige gemerkt ("Caprifischer" z.B.), ich weiß nur noch, daß die Texte durch das Laufgeräusch der Platten kaum zu verstehen waren.
Als ich lesen konnte, habe ich mir heimlich alle Platten angesehen und bemerkt, daß auf vielen ein heulender Hund abgebildet war. Das war mir völlig unverständlich, aber ich fand es lustig. Ich fragte nicht mehr: "Warum?", ich war zu oft abgewiesen worden. Ich las die Aufschriften auf den Platten. Ein Titel erschien mir äußerst sonderbar: "Chattanooga Choo Choo". Es war gerade zu der Zeit, als wir in der Schule über die Worte mit den doppelten Vokalen sprachen, daher blieb dieses fremdartige Wortgebilde bei mir haften. Ich bat Alfred, mir die Platte vorzuspielen, aber er sagte: "Der Apparat is schon zu alt." Da bat ich ein paar Tage später Gerda, und sie antwortete: "Wozu willst de denn die olle Neejamusik hörn?" Kurz darauf kauften sie sich einen modernen Plattenspieler, wo nicht mehr eine ca. 2cm lange Nadel durch die Rille sprang, sondern auf einer sehr dünnen und flachen Rille ein Saphir dahinglitt. Es mußten neue Platten angeschafft werden, die alten waren unbrauchbar. Auf den neuen Platten war auch einer der ältesten Titel von Peter Kraus zu hören: "Auf der Insel Phillallilla, dort im Märchenland, am weißen Palmenstrand, ein junges Mädchen stand, sie wollte den einen, aber sonst keinen, in der blauen Mondnacht wiedersehn, und nicht mehr von ihm gehn, er sang so schöhön. Er sang sein akhula, khula, khula Liebe, die schenk ich dir, mai Daahling heut Nacht, wenn der Mond uns bewahacht! Akhula, khula, khula Beeebi, du weißt ja ga nich wie klücklich khula Liebe macht, kja, kja, kja!" Was habe ich mich über dieses Lied geärgert! Es klang, als würde der Sänger jeden Moment kotzen. Und das sollte ein Liebeslied sein? Alfred konnte kaum genug bekommen von diesem "kja, kja, kja". Ich war enttäuscht. Grenzenlos enttäuscht. Den "Chattanooga Choo Choo" hörte ich fünfundzwanzig Jahre später im Radio. Ich erkannte ihn an der Übersetzung ins Deutsche: "Verzeihen Sie, mein Freund, ist das der Chattanuga Chu Chu . . ." (von der Freundin meiner Mutter hatte ich gelernt, daß im englischen das doppel "o" wie "u" gesprochen wird) und ich erinnerte mich, daß zu diesem Lied bei unseren Familienfeiern die unglaublichsten Verrenkungen gemacht wurden.
1953 hatte Alfred endlich das Geld für ein Auto zusammen. Die Familie hatte es sich buchstäblich vom Munde abgespart. Ich weiß nicht, um welchen Typ es sich handelte, ob es ein "Trabant" oder gar ein "Wartburg" war. Autos sind für mich Luxusgegenstände. Alfred und Gerda besuchten uns eines Tages, und aus ihren strahlenden Gesichtern war zu ersehen, daß sie eine freudige Mitteilung zu machen hatten. Ida sollte raten, worum es sich handelte. Sie tippte entzückt zuerst auf eine Schwangerschaft, denn sie hätte sehr gern ein weiteres Enkelkind - diesmal sogar aus einer rechtskräftigen Ehe! gehabt, dann wich das Entzücken und sie vermutete eine besser bezahlte Arbeitsstelle und zuletzt einen Lottogewinn (Alfred spielte jede Woche Fußballtoto). Es war alles falsch geraten. Alfred führte uns auf den Balkon, wo er uns mit großem Stolz sein funkelnagelneues Auto zeigte. Nun lud er uns ein, mit hinunter zu kommen und das Prachtstück aus der Nähe zu sehen. Ich lief allen voraus, ich wollte die erste sein, die das Glück mit Alfred teilte. Ich stürzte auf das Auto zu, streichelte es und jubelte: "Du schönet neuet Auto, du!" Im Nu war Alfred mit langen Sätzen auf mich zugesprungen, riß mich am Oberarm zur Seite und brüllte: "Wirßte woll deine Mistpfoten von det Auto nehm, du Trampel!" Es nützte mir nichts, zu sagen, daß ich die Hände vorhin erst gewaschen hatte. In den folgenden Tagen verhöhnten mich meine Schulkameraden ob der blauen Flecke, die ich durch Alfreds hartem Griff davongetragen hatte. Ich erinnere mich nicht daran, jemals in dem Auto gesessen zu haben. Die "Testfahrt" fand mit Ida, Gerda und Waltraud statt. Wenn ich etwa doch dabeigewesen war, so ist mir jegliche Erinnerung daran entschwunden. Ich weiß nur noch, daß ich das Auto nicht hätte anfassen dürfen. Autos sind nicht für Kinder. Und schon lange nicht für Mädchen. Autos waren in Zukunft für mich "Tabu". Ich kann mir bis zum heutigen Tag bestenfalls die Farbe, sehr selten aber die Marke eines Autos merken.
Im Sommer 1952 durfte ich mit Alfred und Gerda eine Urlaubsreise nach Buckow, Märkische Schweiz, unternehmen. Die Reise war schon im Vorjahr von Alfred geplant und bezahlt worden. Er hatte Gerdas Einverständnis vorausgesetzt und das Ganze für eine nette Überraschung gehalten. Aber Gerda hatte für ihn auch eine nette Überraschung, nämlich eine Erholungskur für Waltraud, ebenfalls gleich bezahlt. Daß sie ausgerechnet zur selben Zeit stattfand, konnte Gerda nicht ahnen, so kam ich in den Genuß. Wochen vor Fahrtantritt wurde ich dazu angehalten, ganz besonders artig zu sein, weil sie mich sonst nicht mitnehmen würden. Ich durfte mir auch nicht das allergeringste zuschulden kommen lassen; das war der reine Streß und kostete mich große Selbstbeherrschung. Ich unterdrückte meinen Spieltrieb, folgte jeder Anweisung und bemühte mich, niemals ungefragt den Mund aufzumachen. Einmal war ich aber doch auf die Straße gegangen, um zu sehen, ob die "Knallerbsen" schon reif waren. Beim Griff in die Sträucher stach mich eine Wespe in die Hand. Natürlich wuchs mir eine dicke Beule. Gerda sagte: "Na, wenn det nich heile is, bevor wir faan, denn kannste nich mitkomm!" Ich freute mich riesig auf die Fahrt, sie war eine herrliche Abwechslung. Ich tat alles, um die Schwellung abklingen zu lassen. Ich wußte, daß dies meine letzte Ferienreise sein wird. Waltraud hatte kürzlich zu ihrer Mutter gesagt, daß sie nicht mehr mit mir zusammen ins Kinderferienlager geschickt werden möchte, und Gerda hatte ihr geantwortet (meiner Gegenwart nicht achtend, denn kleine Kinder verstehen ja nichts), daß sie derartiges nicht mehr zu befürchten habe, sie wird ja nun vierzehn, da ist sie für ein Kinderferienlager zu alt.
Das Schönste in Buckow waren die Spaziergänge. Ich genoß die Natur und die reine Luft. Ich hielt mich fern von Alfred, weil er fast immer rauchte beim Spazierengehen. Nach meinem Empfinden verbreitete er Gestank. Gewöhnlich führten die Spaziergänge zu einem Lokal, wo wir zu Mittag aßen. Zu Hause hatte Gerda sich vergewissert, daß ich mit Messer und Gabel essen konnte. Hier achtete sie nun streng darauf, daß ich diese Werkzeuge wirklich ordnungsgemäß benutzte, wodurch die Mahlzeit länger ausfiel als nötig. Ich aß, weil ich sollte, und nichts schmeckte mir; erst recht nicht das Sonntagsessen: Es gab Aal grün, das Teuerste, was das Lokal zu bieten hatte. Mir war der Fisch zu schlangenähnlich, zu tranig und zu fett, die Haut zu hart, die Soße zu scharf, und ich konnte nicht verstehen, daß das etwas "Gutes zu Essen" sein sollte. Auch ekelte ich mich heftig vor seiner grünen Gräte. Schimpfend aß Alfred meinen Aal auf. Wieder einmal war ich "das blöde Gör".
Auf einem der schönen Spaziergänge bemerkten wir etliche Waldvögel. Ich lauschte verzückt ihrem Zwitschern und bewunderte ihre Flugkünste. Versonnen sagte ich letztendlich: "Ach ja, Vooorel müßte man sein!" Gerda prustete: "Reicht det nich, det du een HAST?"
Alfred hatte einen Fotoapparat mit auf die Reise genommen. Eines der auf den Spaziergängen geschosse-nen Fotos besitze ich noch. Ich freute mich damals darüber, daß wir uns auf einer Treppe befanden, da konn-te ich mich ein paar Stufen höher stellen als Alfred. Nach seinen intimen Zärtlichkeiten betrachtete ich mich als seine Nebenfrau und wollte ebenso groß scheinen wie er . . .
Wir wohnten in einer Privatpension bei einer Familie mit zwei Kindern, Tochter und Sohn, sie waren zwei bzw. vier Jahre älter als ich. Als wir dort ankamen, wurden die Kinder von ihrer Mutter beauftragt, mit mir zu spielen und mir die Umgebung zu zeigen. Ich war nur zweimal mit ihnen zusammen, am ersten Tag, wo sie mich tatsächlich durch den Ort führten, und an einem Regentag, wo sie keine Lust zum Stromern hatten. Sie fragten mich über Berlin aus, und es stellte sich heraus, daß sie aus Erzählungen anderer Urlauber mehr über meine Heimatstadt wußten als ich. Aber ich war ja erst sechs Jahre alt, da verziehen sie mir gnädig die Unkenntnis. Wir verbrachten fast den ganzen Tag miteinander, Gerda und Alfred waren nämlich zu einem "Erwachsenenvergnügen" in einen Nachbarort gefahren. Irgendwann mußte ich meine Blase entleeren. Ich wußte nicht, wie man aus diesem Teil des Hauses zum WC kommt. Die Kinder antworteten: "Det is n janz schön langer Weech bis zum Klo. Wenn wir mal müssen, jehn wa uff de Wassaleitung." Das kannte ich auch von den Kindern der Familie L.. Damit meine Hose trocken blieb, ließ ich mir von ihnen auf den Ausguß helfen. Am Abend stellte Gerda fest: "Mensch, du hast ja n janz schwarzn Aasch!" Ich dachte, daß sie mich wieder einmal veräppeln wollte und lachte sie aus. Sie wurde zornig: "Hör uff zu kichan, azeehl ma lieba, wo de dir so mißtich jemacht hast, du altet Ferkel!" Nun besah ich mein Hinterteil und stellte fest, daß sich tatsächlich ein breiter schwarzer Streifen darauf befand. Er konnte nur vom Ausguß stammen. Ich berichtete wahrheitsgemäß über den Vorfall. Gerda wusch mich und Alfred warf am anderen Tag der Wirtin vor, einen furchtbar dreckigen Haushalt zu haben und auch sehr schlecht erzogene Kinder. Die Kinder beka-men Hiebe dafür, daß sie mir nicht den Weg zur Toilette gezeigt hatten und ich begegnete ihnen nie wieder.
Ein paar Tage später fuhren Gerda und Alfred wieder zu einem "Erwachsenenvergnügen". Sie setzten voraus, daß ich meinen Tag auch alleine gestalten könnte. Ich nickte heftig: "Ja, ick weeß, wat ick dürf, ick paß uff mir uff, ick mach keene Deemlichkeitn!" Aber ich fühlte mich dann doch sehr allein und wußte nicht, was ich tun sollte. Ins Zimmer konnte ich nicht, Alfred hatte den Schlüssel bei der Wirtin abgegeben, damit sie das Zimmer nach unserem Fortgehen reinigen konnte. Ich kannte den Weg zum Spielplatz doch nicht so ganz genau und fürchtete auch, dort Kindern zu begegnen, die "angestammtes Recht" auf den Spielplatz hatten und schloß mich letztendlich - nachdem ich eine Weile verloren auf der Treppe saß - dem Opa der Wirtsfamilie an, der zum Heuen ging. Er war etwas jünger als Ida, ich hoffte, viel von ihm lernen zu können. Ich lief munter neben ihm her und fragte ihn über alles aus, was es zu sehen gab. Er konnte sehr gut erzählen von der Geschichte des Ortes und von seinen Einwohnern. Ich lernte an jenem Tag sehr vieles. Meine Fragen wurden ihm nicht über, oder er beherrschte sich, mir das zu sagen. Wir lachten viel miteinander über Wortspiele und erzählten uns Witze. Es machte mich glücklich, ihn zum Lachen zu bringen, noch glücklicher aber war ich darüber, daß er sich Mühe gab, mich zum Lachen zu bringen. Auf der Wiese angekommen, sagte er mir, wieweit ich mich dort bewegen darf und ich hielt mich an diese Grenzen. Ich setzte mich ins Gras, spielte mit den Halmen und mit den kleinen blaßlila Blümchen, die dort blühten. Ich beobachtete auch hier die kleinen Tierchen, die auf jeder beliebigen Wiese leben und freute mich des Sonnenscheins.
Die Wiese war von einer Seite von Häusern begrenzt, links und rechts von Wald, und an der den Häusern gegenüberliegenden Seite von einem kleinen See. Ich fragte den Opa, ob ich mir den See ansehen darf. Er vergewisserte sich, daß ich ganz bestimmt nicht in das Wasser hineingehen wollte und gestattete mir dann, an den See zu gehen. Er war von dunkler Färbung und lag ganz ruhig. Nur in der Mitte kräuselte der Wind das Wasser ein wenig. Der See erschien mir wie ein düsterer Schlund. Einen Meter vom Ufer entfernt schaukelte ein rostiger Nachen. Ich wollte wissen, wem er gehört und warum er nicht instandgesetzt wird. Der Opa beantwortete abermals alle meine Fragen geduldig und ausführlich. Ich war sehr begeistert von ihm und sagte ihm, daß ich ihn sehr, sehr lieb hätte. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er sich mir nun sexuell genähert hätte; ich hätte ihn gewähren lassen, das ist der Gang der Welt: "Die Mädchen sind zum Lieben da". Ich war ein Mädchen und wollte geliebt werden. Aber er lächelte: "Ick habe eine umfangreiche Familie. Meine Töchter und meine Söhne haben mir soviele Enkel bescheert, daß ick damit alle Hände voll zu tun habe. Ick kann dich nich in mein Herz uffnehm, du bleibst für mich ein Urlauberkind, ein liebet, nettet Urlauberkind."
Abends berichtete ich begeistert von dem "lieben Opa". Gerda und Alfred sagten entsetzt: "Mensch, du kannst doch n fremdn Mann nich bis ufft Hemde ausfraren! Wat denkst du dir bloß in dein blödn Jeist! Un denn ooch noch "Opa" saaren! Det is doch nich DEIN Opa!" Ich suchte mich wenigstens in dem letzten Punkt zu verteidigen: "Aba zu Oma saaren doch ooch alle Oma!" - "Det is wat janz wat andret!" hieß es nun, und: "Jenade dir Jott, wenn de noch mal zu den Altn jehst!" Ich begegnete ihm nur einmal noch im Hausflur, wo er mir einen Gruß zuwinkte, und ich war froh, als der Tag der Abreise da war. Auch Gerda und Alfred sagten: "Na, Jottseidank jeht et nu wieda nach Hause! Zu Hause is et doch am schönstn!" Ich fragte mich, wozu wir verreist waren.
Ich war sieben Jahre alt, als Alfred mich zu einem Fußballspiel seiner Lieblingsmannschaft "Herta BFC" mitnahm. Ich freute mich riesig, denn wir fuhren quer durch die Stadt zu einem Ort, den ich sonst nie ken-nengelernt hätte. Da gab es mit Sicherheit viel Neues zu sehen! Wir mußten mehrmals umsteigen. Während der Fahrt machte ich ihn auf jedes auffällige Bauwerk aufmerksam und fragte: "Wat is n det for n Haus?" Anfangs versuchte er noch, logische Antworten zu finden, dann aber sagte er unwirsch: "Jeh mir doch nich so schrecklich uff de Nerven, Mensch!" Übrigens erhielt ich von ihm generell die abweisendsten Antworten in meinem Leben. Von diesem Erwachsenen lernte ich entschieden weniger als von der von ihm verachteten Waltraud. Beim Umsteigen hüpfte ich ausgelassen neben ihm her, bis er mich anherrschte: "Mein Jott, kannst de dir denn übahaupt nich benehm?" Ich wußte nicht, inwiefern ich mich danebenbenahm. Aber vielleicht hüpfte man nicht auf der Straße, wenn man an der Hand eines Mannes ging, der einen begehrte? Ich nahm die Lehre an und hüpfte nie wieder in seiner Gegenwart.
Das Fußballspiel interessierte mich schon nach wenigen Minuten nicht mehr. Es war Alfred nicht gelungen, mir die Spielregeln zu erklären. Fußball stellte sich mir so als eine Männerdomäne dar, wo Frauen nichts zu suchen haben, bestenfalls als schmückendes Beiwerk, und auch das nur unter Vorbehalt. Ich begriff nur, daß es ein sehr wichtiges Spiel war, so nahm ich mich zusammen und versuchte, dem Geschehen zu folgen. Das war nicht leicht, denn die Spieler trugen alle weiße Trikots. Sie waren nur an den Hosen zu unterscheiden; die eine Mannschaft trug schwarze und die andere blaue. Da es ein sehr dunkles Blau war, mußte man schon sehr genau hinsehen. Es war für mich unfaßbar, daß sich dort auf dem gepflegten Rasen so viele erwachsene Männer um einen Ball rauften! Alfred und alle anderen Besucher verfolgten das Spiel sehr aufmerksam und spendeten Beifall, wenn ein Schuß besonders gut gelungen war. Was ein guter Schuß ist, wußte ich somit, und klatschte dann auch, als ein Spieler den Ball über den ganzen Platz schoß. Aber es war ein Spieler der gegnerischen Mannschaft, und ich wurde nun von dem Fanclub der "Blau-weißen Herta" angefeindet. Einer der Fans sagte tadelnd zu Alfred: "Is ja janz niedlich, die Kleene, aba ob se wirklich hier herjehört?" Nun verbot Onkel Alfred mir jegliche Reaktion: "Wenn de nischt von det Schpiel vaschtehst, denn kannst de ooch nich klatschen, klar?!" Ich blickte nun nicht mehr auf den Rasen, sondern sah mir die Zuschauer an. Es waren fast ausschließlich Männer, zumeist unangenehme Typen mit rohen Gesichtszügen. Ich hatte das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein. Ich sehnte das Ende des Spieles herbei. Aber nach einer mir endlos scheinenden Zeit war erstmal nur Pause. Da ich großen Durst hatte, bat ich Onkel Alfred, mir eine Brause zu kaufen. Ich sah ein leichtgeschürztes Mädchen mit einem Bauchladen herumlaufen und Getränke feilbieten. Er antwortete mir in einem Tonfall, als wäre ich völlig blöd: "Wat denkst du denn, wo wir hier sind?! Ick hab doch keen Westjeld!" Ich hatte nicht vergessen, daß wir uns im Westteil der Stadt befanden. Am Eingang des Fußballstadions hatte er mir einen Lutscher mit Lakritzgeschmack gekauft, den ich gar nicht haben wollte; ich mag keine Lakritze, ich finde ihren Geschmack ekelerregend, und ich ließ den Lutscher nach wenigen Metern fallen. Da er mir den Lutscher aufgedrängt hatte, obwohl ich deutlich zu verstehen gab, daß ich so etwas nicht esse, dachte ich, daß er viel Geld mitgenommen habe. Nun winkte er aber doch die Verkäuferin herbei, kaufte sich eine Coca Cola und gab mir einen Schluck ab. Das warme, süße Zeug verursachte mir noch größeren Durst. So ergab ich mich in mein Schicksal. Ich verdrängte den Durst und setzte mich für die zweite Halbzeit auf die Erde, wo ich mit Sand und Steinchen spielte, die Zigarettenkippen warf ich eine Stufe tiefer. Ich blickte nur dann kurz auf das Spielfeld, wenn die Fans enthusiastisch sangen: "Blau-weiße Herta . . ." und andere Fußballslogans, bis Alfred sagte: "Komm, wir jehn jetz, det Schpiel is jleich zu Ende, un wenn jetz noch n Wunda jeschieht, denn schteht det morjen in ne Zeitung, los, wir beeiln uns, det wa zum Ausjang komm, wenn se alle jehn, denn wern wa dotjetrampelt!" Die Idee, früher zu gehen, hatten noch einige andere; es herrschte ein heilloses Gedränge am Ausgang, wir kamen mit Mühe und Not hinaus. Auf der Heimfahrt stauchte Alfred mich noch einmal dafür zusammen, daß ich für die falsche Mann-schaft geklatscht hatte; nun sagte ich ihm meine Meinung, daß Leistung Leistung ist und also honoriert wer-den sollte. Er nannte mich dafür einen unverbesserlichen Phantasten, einen von jener Sorte, die der Welt mehr schaden als nützen.
Seine Unfreundlichkeit kränkte mich zutiefst. Und mir wurde erst sehr spät klar, daß er mich nicht auf den Fußballplatz mitgenommen hatte, um mir eine Freude zu machen oder um mich etwas zu lehren, sondern nur, um sein ungehöriges Interesse an mir zu vertuschen. Ida und Gerda glaubten nun nämlich, daß er mich wirklich gern hat und mir die Welt zeigt. Sie hatten nichts dagegen, daß er mit mir allein war. Sie kamen nicht auf die Idee, daß er mir an die Wäsche gehen könnte.
Jedenfalls war Alfred der Meinung, daß jeder, der Kinder in die Welt setzt, verantwortungslos handelt. Weil diese Kinder nur leiden würden. Sie würden leiden an der Gesellschaft, an diversen Krankheiten, an ih-ren eigenen Vorstellungen. Deshalb hätte er jedem Manne gern empfohlen: "Zeuge nicht!" Und jeder Frau: "Gebäre nicht!" Mit dieser Einstellung blieb ihm nur Sex mit Minderjährigen. Hätte er sich fortgepflanzt, was wäre seinen Nachkommem geblieben? Alfred war kein Vatertyp, Gerda nicht die geborene Mutter. Wenn sie von Alfred schwanger wurde, hat sie von Grete L. abtreiben lassen. Ich weiß nicht, wie oft und will es auch nicht wissen. Der Sexualtrieb ist natürlich, wenn er auch noch so sehr von der Religion verdammt wird. Alfred wollte den Niedergang der Menschheit, aber nicht auf seinen Trieb verzichten. Er war der dritte Mann, den ich Nachkriegskind in voller Lebensgröße kennenlernte. Ich belächelte seine Ideologie, aber er streichelte mich. Und ich genoß es. Und ich wußte, daß es ungehörig war. Aber es streichelte mich doch sonst niemand, nicht einmal mit Worten.
Nach Onkel Brunos Tod waren Männer für mich ein Wunderwerk der Natur. Ich wußte, daß sie für die Fortpflanzung unbedingt notwendig sind, damit Frauen Kinder zur Welt bringen. Die Männer verfügen dann darüber. Es dauert nicht mehr lange, dann werden Kinderpornos salonreif. Es verlangt den Männern danach, also werden sie es erreichen. Den Nachwuchs sichern all jene Mädchen, die an menschliche Werte glauben. Und auch die, welche nur leben wollen und einem Mann vertrauen.
 



 
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