aus meinen memoiren: schulzeit

flammarion

Foren-Redakteur
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Old Icke geht zur Schule

Nach meinem fünften Geburtstag hörte ich oft: "Na, waate, wenn de erscht ma in de Schuhle jeehst, denn wird dir der Leehra schon die Dußlichkeitn austreihm!" Dann wandte ich mich ab, damit Ida mein Lachen nicht sieht. Ich lachte sie nicht aus, oh nein, ich wußte nur ganz genau, daß ich in der Schule kei-ne Dußlichkeiten machen werde, ich freute mich aufs Lernen! Ich war sehr begierig darauf, viel zu lernen, damit man mich nicht mehr "blödet Jör" schimpfen konnte. Ich freute mich riesig auf die Schu-le. Auch Waltrauds Warnung: "Det is ja nich so einfach in de Schule!" konnte meine Freude nicht ein-dämmen.
Auf Idas Geburtstagsfeier 1950 fragte ich ebenso neugierig wie ungeduldig: "In welche Schule wer ick denn komm?" Alfred antwortete grinsend: "In ne Baumschule, hähähä!"
Ida erkundigte sich bei Grete L., "welche Schule denn jetz in die neue Zeit ewentuell for so n blödet Jör zuständich is". Grete L. sagte abfällig: "Die jehn jetz alle in die selbe Schule, Jungs un Meechn durchnnanda. Schulkleidung is nich nötich un Schulbücha kriejen die Jörn ooch alle von de Schule, ooch Hefte. Du brauchst nur ne Schultüte koofn, ne Schulmappe, Schiefatafl un Jriffl." Ida atmete auf. Die Einschulung würde viel billiger sein, als befürchtet. Nun fragte Grete L.: "Waaste denn schon zu n Schu-lazt mit se?" Ida wunderte sich: "Zu n Schuulaazt? Warum det denn?" - "Damit der die Schulfeehichkeit festschdelln kann, ob se übahaupt schon in de Schule jehn kann." - "Na, janz blöd isse ja nu ooch wieda nich." Tage später ging Gerda mit mir zum Schularzt. Ich war schrecklich aufgeregt. Zu Hause hatte man noch einmal nachgemessen, ob ich schulfähig sei. Das läßt sich nämlich ganz leicht feststellen - wenn das Kind den rechten Arm über den Kopf legt und die Hand bedeckt das linke Ohr, ist das Kind schulfähig. Leider war es mir auch unter größter Anstrengung nicht möglich, das Ohr mit der Hand zu bedecken, ich erreichte es nur mit den Fingerspitzen. Alle hofften, daß ich bis zur Einschulung noch wachse.
Das Wartezimmer war fast leer, so freute sich Gerda: "Hier sin wa bald wieda raus!" Aber es dauerte einige Zeit, ehe wir aufgerufen wurden. Eine freundliche ältere Frau reichte mir ihre gepflegte Hand und strich mir übers Haar: "Du brauchst keine Angst zu haben, meine Kleine, von mir bekommst du keine Impfung, ich möchte nur sehen, wie groß du bist - dazu stellst du dich hier an die Meßlatte, so - schon fertig. Nun schaun wir mal, wie schwer du bist, dazu stellst du dich ohne Schuhe hier auf die Waage - nein, nicht an der Waage festhalten! Jetzt möchte ich wissen, ob du gut siehst. Ich sagte: „Wie ick heute aussehe, seh ick nich imma aus, heute hab ick neemlich det jute Kleid an.“ Ich hatte „siehst“ bisher nur gehört, wenn Ida, Gerda oder Waltraud tadelten: „Kieck bloß ma, wie du wieder aussiehst!“ Die andere Form: „Siehste, siehste!“(bei meinen Mißgeschicken) hielt ich für eine andere Form von „Ätsch, ätsch, ausgelacht!“ Die Schulärztin erläuterte, daß „siehst“ eine gebeugte Form von „sehen“ ist und führte an: „Ich sehe, du siehst.“ Ich war baff. Der Test ging weiter: „Schau her zur Tafel. Auf welches Bild zeige ich?" Ich antwortete spon-tan: "Na, uff ditte da." und wies mit ausgestrecktem Arm auf das Bild, welches sie mit dem Zeigestock berührte. Die Ärztin verzog keine Miene und fragte geduldig weiter: "Und was siehst du auf dem Bild?" Ich antwortete zu ihrer Zufriedenheit, bis sie feststellte: "Die Au-gen sind in Ordnug. Nun zum Gehör." Ich krähte: "Hörn kann ick ooch jut, Oma saacht imma, det ick aatich bin!" Die Ärztin erklärte mir, daß "hören" und "gehorchen" zweierlei sind, setzte mir Kopfhörer auf und ließ mich ein unangenehmes Geräusch hören, mit der Anweisung, ihr zu sagen, wann ich es nicht mehr höre. "So, das ist auch erledigt. Jetzt un-terhalten wir uns ein wenig. Freust du dich auf die Schule?" - "Jaaa!" schrie ich begeistert. "Ist ja gut, nicht so laut! Kannst du denn schon zählen?" Nun kam ich in Verlegenheit. Ich plapperte rasch alle Zahlen heraus, die je an mein Ohr gedrungen waren. Man kann sich das Durcheinander vorstellen. Die Ärztin lachte und legte mir einige bunte Täfelchen vor: "Wieviele siehst du?" Ich strahlte sie an und wußte keine Antwort. Sie nahm ein paar Täfel-chen weg und stellte die Frage erneut. Ich wußte nicht, wieviele Kärtchen für die Zahl 3 stehen! Nun fragte sie nach den Farben. Ich erkannte nur rot und grün. Sie fand das sehr ungenügend. Ich rief: "Aba ick kenne doch noch schwaaz un weiß!", denn ich hatte große Angst, nicht eingeschult zu werden. Sie klärte mich auf, daß schwarz und weiß keine Far-ben sind und ich war todtraurig.
Da Gerda versucht hatte, mir bei den Farben vorzusagen, wurde sie hinausgeschickt. Die Ärztin legte mir mehrere Abbildungen geometrischer Figuren vor und ich sollte sie be-nennen. Das Quadrat war bei mir eine Schachtel, das Rechteck eine Kiste, der Kreis ein Ball, das Dreieck erkannte ich einwandfrei als ein Verkehrszeichen, bei der Raute kicherte ich vertraulich: "Da fehlt der Schdrich in ne Mitte!" und das Trapez deklarierte ich mit Be-schimpfungen für den Zeichner als falsch gemalt. Sie erklärte mir auf angenehm ruhige Art, was die Figuren darstellten und legte mir danach drei Zeichnungen vor, zu denen ich eine Geschichte erzählen sollte, die den Zusammenhang der Bilder erläutern. Da ich bisher so viele Fehler gemacht hatte, war meine Angst, die Prüfung nicht zu bestehen, ins Unermeßli-che gestiegen. Ich glaubte, es sei das beste, gar nichts mehr zu sagen. Es dauerte eine Wei-le, ehe die Ärztin mich wieder zum Reden bringen konnte. Die Geschichte, die ich dann zu den Bildern erzählte, gefiel ihr. Sie rief Gerda wieder herein und sagte ihr, was alles mit mir geübt werden muß, wenn ich in diesem Jahr noch eingeschult werden soll. Wir bekamen einen neuen Termin und wurden entlassen.
Auf dem Heimweg schimpfte Gerda: "Mein Jott, det du doof bist, det wissn wa ja nu alle. Aba det du sooo doof bist, det hätt ick nie jedacht! Du weeßt ja buchschdeeblich nischt! Jar nischt! Blamierst een bis uff de Knochn! Wie kann een einzelnet Kind bloß sooo doof sein!" Tja, liebe Tante, von Necken und Veräppeln lernt ein Kind nicht viel!
Daheim gab sie mich dem allgemeinen Gelächter preis. Ich schlug die Augen nieder und hielt mühelos die Tränen zurück. Ich kannte ja den Satz: "Dummheit muß bestraft wer-den!" und nahm geduldig meine Strafe hin. Gerda zählte auf, was ich alles schnellstens ler-nen muß. Dann stotterte sie: "Die Doktasche hat jesaacht, Christa kann nich abscha . . . abschahiean. Weeßt du, wat det is, Oma?" Ida zog die Stirn kraus und machte eine Schnute. Ich warf ein: "Det heißt "abschdrahiern", so hat die Doktasche jesaacht." Gerda sagte verwundert: "Jenau! Mensch, det du dir det merkn konnst, wo de doch sonst so blöd bist!" Ida vermutete, daß es das neue Wort für "Weniger" beim Rechnen sei.
Als Irma von der Arbeit kam, wurde sie nach der Bedeutung des Wortes gefragt, das Ida schon vergessen hatte. Ich durfte es noch einmal nennen. Irma sagte: "Det kommt von "abstrakt" und bedeutet, daß Christa nich abstrakt denken kann." Ida schüttelte den Kopf: "So n Blödsinn brauchn die Jörn heutzudaare? Na, Christa hat sich det Wort jemerkt, da is et jut mööchlich, det se denn ooch den Rest kapiert." (In der Schule gab es soviel zu lernen und zu sehen, daß ich nie nach dem „abstrahieren“ fragte.) Waltraud wurde beauftragt, mir alles Erforderliche beizubringen. Mit aller Härte trichterte sie mir die Zahlen, die Farben und die wichtigsten geometrischen Figuren ein. In wenigen Tagen konnte ich bis zwanzig zählen und kannte alle Farben, selbst Farbtöne, nach denen die Ärztin nicht gefragt hatte.
Zu dem neuen Arzttermin ging Grete L. mit mir. Gerda hatte Protest eingelegt: "Ick blamier mir doch nich no maa mit die Jöre!" Auf dem Weg sagte Grete L. zu mir: "Wenn de wieda so blöd bist, laß ick dir daa bei die Doktasche, denn nehm ick dir nich wieda mit zu Hause!" Ich hoffte, daß das nicht geschehen würde, und betete inständig, daß Waltraud mir wirklich alles beigebracht hatte, was ich für den Nachweis der Schulfähigkeit benötigte. Sie ging ja schon lange zur Schule, sie MUSSTE wissen, was ich brauchte.
Die ersten Fragen der Ärztin konnte ich leicht beantworten und fühlte mich dadurch immer sicherer. Ich erzählte auch einiges, was sie gar nicht wissen wollte. Ich bestand alle Prüfungen mit Bravour und sie schenkte mir ein Bonbon. Nun wurde Grete L. gefragt, warum nicht meine Mutter mit mir diesen wichtigen Gang gemacht habe? Grete L. sagte verächtlich: "Die ihre Mutta sitzt." Ich erbleichte und wäre am liebsten in der Erde versun-ken. Jetzt würde es wieder so eine scheußliche Hetztirade gegen meine Mutter geben! Aber die Ärztin sah mich nur mitleidig an und strich mir über das Haar. Diese Frau war gnädiger mit mir als die Leute, die ständig in meiner Nähe waren. Sie sagte nur noch leise: "Ein klein wenig disziplinierter und ruhiger muß Christa noch werden, ansonsten erfüllt sie alle Vor-aussetzungen." Grete L. gab zu bedenken, daß meine Hand noch immer nicht das Ohr be-deckt, wenn man meinen Arm über den Kopf legt. Die Ärztin entgegnete, daß solche Äu-ßerlichkeiten nebensächlich sind, die Hauptsache sei die Auffassungsgabe, und die sei bei mir in ausreichendem Maße vorhanden. Fröhlich hüpfte ich neben Grete L. nach Hause.
Nun ich den Einschulungstermin fest in der Tasche hatte, übte Waltraud nicht mehr mit mir, so hatte ich einen Teil der Zahlen über den Sommer wieder vergessen.
Zur Einschulung hätte ich liebend gern das duftige weiße Spitzenkleid der kürzlich ver-gangenen Sommersonntage getragen, aber Ida sagte: "Det is dir doch schon ville zu kleene, Mensch! Wißt de villeicht aussehn wie n Schpringa?" ("Springer" wurden die Seiltänzer genannt. Sie trugen so knappe Gewänder, daß man die Körperform sah. Das galt als unan-ständig.) So wurde mir ein Kleid angezogen, welches Waltraud zu klein geworden war. Es war mir zu lang und zu weit. Die "auf Zuwachs" gekauften weißen Kniestrümpfe waren das einzige, was an Bekleidung für meine Einschulung angeschafft worden war. Sie bildeten eine Zieharmonika an meinen Beinen. Die an Fersen und Zehen abgeschnittenen Halbschu-he deklarierten mich endgültig als Armeleutekind. Ida sagte: "Armut schändet nich! Wir könn nich dafor, det wir nich mehr haam!" So war ich es zufrieden, zumal das "Einschu-lungskleid" doch zu meiner großen Freude weiß war, mit roten Pünktchen.
Am Abend vor der Einschulung plärrte ich, weil meine schöne große Schultüte von Ir-ma zu vier Fünfteln mit Zeitungspapier ausgestopft wurde, denn ich hatte geglaubt, sie würde bis an den Rand mit Süßigkeiten gefüllt werden. Ida schimpfte mich ein "janz aus-vascheemtet Jör", Gerda tobte: "Wo solln wa denn det allet heerneehm?" und Alfred sagte: "Dadran würdeste doch zwee Jahre lang futtan; bis dahin is det meiste schlecht, Mensch!" Irma gab mir die Tüte in den Arm und fragte: "Na, kannst de die jut traaren?" Die Tüte war unhandlich und schwer und fiel mir aus der Hand, weil ich nicht mit ihrer Kopfla-stigkeit gerechnet hatte. Irma fing sie rechtzeitig auf. "So", sagte sie, "nu schtell dir ma vor, die Tüte wär bis ohmhin voll Bonbons und allet sowat. Denn könnte noch nich mal ICK die Tüte hochheem! Du mußt nich denkn, det ooch nur eeen Kind uff de Welt jemals seine Schultüte richtich voll Süßichkeitn hatte, det is doch jar nich mööchlich." Nun war ich still und getröstet. Aus den Gesprächen der Erwachsenen wußte ich, daß die Einschu-lungsfeier in einer Aula stattfinden wird. Ich fragte Waltraud, was eine Aula ist. Sie ant-wortete: "Na, Aule is doch Schpucke, wa? Nu weeßte allet." (Als einmal die Rede von der berliner Klosterstraße war, sagte sie angewidert: "Ih, ne Straße aus Klosetts!")
Freudig erregt schritt ich neben Ida zu meiner Einschulungsfeier und war sehr froh, daß es sich bei der Aula um einen festlich geschmückten Saal handelte, der mit vielen fröhlichen Menschen angefüllt war. Die Erstklässler waren leicht zu erkennen an ihren schönen Klei-dern, an ihren leuchtenden, forschenden Augen und natürlich an den Schultüten. Vom Ver-lauf der Feier weiß ich noch, daß der Direktor eine lange Rede hielt, welcher Ida gelang-weilt lauschte, nach ihm noch eine Frau etwas redete und der Schulchor sang. Danach wur-den wir Kinder in unsere Klassenzimmer geführt, wo wir Bücher und Hefte erhielten. Ich zitterte vor Freude: Jetzt hat die Dummheit bald ein Ende, jetzt werde ich alles lernen, alles erfahren, was ich zu wissen begehre! Und so viele Kinder werden meine Kameraden sein! Wir werden zusammen lernen und spielen und miteinander reden! Vor der Schulhaustür schoß Alfred das Einschulungsfoto. Bei der Feier zu Hause war das Wichtigste das Essen und Trinken. In den Tischgesprächen wurde zum x.male erwähnt, daß mein Bruder Man-fred eine Hilfsschule besucht und mein Bruder Paul sehr schlechte Zensuren nach Hause bringt. Man befürchtete ähnliches auch bei mir.
Die Einschulung war an einem Sonnabend. Am Montag wußte ich nicht mehr genau, wie meine Klassenkameraden aussahen. Die Lehrerin hatte uns gezeigt, an welcher „1" an der Schulmauer wir uns wiedertreffen. Ich merkte mir das „1a“. Waltraud ging in die selbe Schule wie ich, wir gingen oft zusammen zur Schule, auch an meinem ersten Schultag. Sie sicherte mir zu, stets für mich da zu sein, wenn ich eine Frage oder Schwierigkeiten hätte. Sie stellte mich zur 1a, weil ich ihr sagte, daß ich in diese Klasse gehörte. Ich be-grüßte fröhlich die Kinder, die dort standen. Sie sagten, ich solle verschwinden, denn ich gehöre nicht zu ihnen. Verunsichert begab ich mich zur 1b, wo ich ebenfalls weggeschickt wurde. Ich blieb allein auf dem Schulhof übrig, da ich mich keiner Gruppe anschließen durfte. Hilflos begann ich zu weinen, denn ich wußte nicht, in welches Klassenzimmer ich mich zu bege-ben hatte. Endlich führte mich eine junge Frau in den Raum der Klasse 1a, wo ich ob mei-nes Zuspätkommens von der Lehrerin gerügt und von meinen Klassenkameraden ausge-lacht wurde.
Da in der Schule, in die ich eigentlich zu gehen hatte, die Heizung repariert werden mußte, erlebte ich das Winterhalbjahr des ersten Schuljahres in einer etwas weiter entfern-ten Schule. Der lange Schulweg störte mich nicht. Ich rannte, um ja pünktlich zu sein. Ich wollte lernen. Direkt neben der eisgrauen Schule stand das rote Gemäuer einer katho-lischen Kirche. Ich war nicht neugierig genug, um einen Blick in ihr Inneres zu tun, soviel Ruhe hatte ich nicht. Ich habe die Schönheit des Kirchenbaus nur im Vorübereilen zur Kenntnis genommen. Morgens war ich vom Wissensdurst gehetzt, am Schulschluß davon, das Mittagessen warm nach Hause zu bringen. Ida hatte mich für zwei Personen zur Schul-speisung eintragen lassen. Ich trug an einem Riemchen ein Eßgeschirr, wo das Essen einge-füllt wurde. Um den Schulhof zu verlassen, mußte man die Kirchentreppe hinab. Hohe Granitstufen, nur für Langbeinige. Ich Kurzbeinige mußte vorsichtig gehen. Da wurde ich oft von den Flinkeren geschubst. Eine Treppe von der Länge eines Hauses, zwanzig Kinder darauf und eines ist im Weg. Wie schaffte ich das nur? Es bleibt mir ein Rätsel. Jedenfalls hatte ich den Inhalt des Eßgeschirrs am Mantel. Mein Zetern: "Jetz muß meine Oma hun-gan!" löste Gelächter aus. Ich begann, zu trödeln. Ich wollte als letzte den Hof verlassen, um den Attacken meiner Klassenkameraden zu entgehen. Da erwischten mich die Schüler der höheren Klassen. Auch ihnen war es ein Spaß, mich die Treppe hinunterzuschubsen. Zu Hause wurde ich heftig gescholten, weil ich mit leerem Kanister ankam, weil meine Kleidung be-schmutzt und das bezahlte Essen nicht vorhanden war. Lange dachte ich darüber nach, warum die Schüler so garstig zu mir waren. Ich war mir keiner Schuld bewußt und wollte mich auch nicht schuldig machen und ihnen unterstellen, sie seien von Natur aus so. Ich hoffte, daß sie als Erwachsene anders sein werden. Schade nur, daß ich ihnen dann höchstwahrscheinlich nicht mehr begegne!
Nach den Sommerferien hatten Waltraud und ich den selben Schulweg. Nun konnte mir nichts mehr passieren. Außer, daß ihr Kinder begegneten, deren Gesellschaft sie sehr ge-noß. Dann schickte sie mich voraus. Ich wehrte mich nicht, denn Waltraud war klug - sie war sechs Jahre älter als ich und sagte oft, daß ich dumm sei. Ich ging also allein auf den Schulhof und suchte meine Mitschüler. Ich konnte mich nur an den Zahlen an der Wand orientieren: Klasse 2a. Ich war im ersten Schuljahr begierig, zu lernen und schenkte meinen Mitschülern wenig Beachtung. Nun fiel es mir schwer, die Kinder zu erkennen, zu denen ich während der Ferien keinen Kontakt hatte. Ich ging von Gruppe zu Gruppe, wurde über-all fortgejagt und letztendlich namentlich aufgerufen.
Einige meiner Klassenkameraden kannten sich vom Kindergarten her, andere, weil sie benachbart waren. Ich kannte keinen. Jedes Gespräch war von vornherein unmöglich, denn wir hatten kein gemeinsames Thema, wie ich bald schmerzlich feststellte. Nicht einmal über die Schule konnte ich mit ihnen reden! Egal, an wen ich mich wandte, keiner war bereit, sich mit mir zu unterhalten. Ich war aber auch ein zickiges Gör! Anstatt mich darüber zu freuen, wenn jemand mein Tintenfaß umwarf, schrie ich ihn an. Ich war nicht der Meinung, daß man auf diese Weise Beziehungen knüpft. Auch liebte ich es nicht, wenn jemand meine Schreibgeräte stibitzte, selbst dann nicht, wenn sie mir kurz darauf zurückgegeben wurden. Ich wußte, wieviel Geld das alles kostet und daß ich auf meine Sachen aufzupassen hatte. Ein Griffel bzw. ein Bleistift wurde solange benutzt, bis er wirklich abgeschrieben war. Sol-che Dinge zerstört man nicht mutwillig! Und ich durfte erleben, wie Griffel und Bleistifte zerbrochen wurden. Ich wollte mein Eigentum um jeden Preis beschützen. Bald ging ich voller Furcht in die Schule. Ich sprach meine Klassenkameraden nicht mehr an, sondern nahm mich vor ihnen in acht. Ich ging ihnen aus dem Weg, so gut es ging.
Niemals hätte ich gedacht, daß ich mir in der Schule ausgerechnet durch ein Lied den Spott meiner Klassenkameraden zuziehen würde. Es handelte sich um ein Lied, welches DDR-Kinder im Kindergarten lernten:
Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land,
allen Menschen, groß und kleinen, bist du wohlbekannt.
Fliege übers große Wasser, über Berg und Tal,
bringe allen Menschen Frieden, grüß sie tausendmal.
Und wir wünschen für die Reise Freude und viel Glück,
kleine weiße Friedenstaube, komm recht bald zurück.
So etwas wurde bei mir Ida nicht gesungen. Nachdem ich den Text verstanden hatte, begriff ich, daß die Kommunisten dasselbe wollten wie die Christen, nämlich Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Mir war wie Weihnachten ob dieser Erkenntnis - der neue deutsche Staat, in dem ich aufwachsen würde, wollte Frieden, wollte Völker-freundschaft, es wird keinen Krieg mehr geben, sondern für alle Menschen Glück und Wohlstand! Unbewußt faltete ich andächtig die Hände vor der Brust. Die Lehrerin nahm den Zeigestock von der Tafel, brach das Lied ab, drückte mit dem Stock meine Hände nach unten und sagte: "Du bist hier nicht in der Kirche, hier wird nicht gebetet." Meine Mitschü-ler lachten schallend, und ich stand mit hochrotem Kopf da, unfähig, mich zu verteidigen.
Für die Eintragung ins Klassenbuch mußten wir unsere Personalien angeben. Ich wußte von meinem Geburtstag nur, daß er mitten im Winter ist. So erntete ich erneut Gelächter. Bei der Adresse wurde es noch schlimmer. Als ich sagte, daß ich in der Pistoriusstr. 103b wohne, grölten meine Mitschüler, denn sie kannten diese Straße nicht und bezweifelten ihre Existenz ebenso wie eine Hausnummer über 100. Wenn ich gesagt hätte: "Ich wohne in der Schokoladenstraße, Ecke abgebissen!", hätte man mich für witzig gehalten, so aber wurde ich verachtet: "Die Seechern wohnt in de Piß - toriusstraße! Na, da jehört se ja ooch hin!"
Ich folgte dem Unterricht mit größter Aufmerksamkeit. Ich fand es aufregend, die Form der Buchstaben und Zahlen zu erfahren. Noch schöner war es, sie selber auf die Schieferta-fel zu schreiben! Und gar erst die Wonne, als wir in Hefte schrieben! Rechnen liebte ich weniger, lernte aber mit Eifer, denn man muß rechnen können, wenn man im Leben vor-wärts kommen will, und das wollte ich.
Nahezu atemlos folgte ich dem Heimatkunde-Unterricht. Was ich hier erfuhr, war faszi-nierender als jeder Märchenfilm. In diesem von Ida als "unwichtig" eingestuften Fach hatte ich gute Zensuren, ebenso in den noch "unwichtigeren" Fächern Musik und Zeichnen.
Ida übte im ersten Schuljahr täglich mit mir lesen und schreiben. Darüber freute ich mich, denn so festigte sich mein Wissen. An dem Tag, wo wir das "x" lernten, entwendete ein Mitschüler meine Buntstifte. Ich war furchtbar wütend darüber, denn diese Buntstifte wurden von Ida als blanker Luxus angesehen; verlöre ich sie, bekäme ich keine neuen. So verpaßte ich an diesem Tage teilweise den Unterricht und jagte - wie es oft vorkam - mei-nem Eigentum hinterher. Als ich der Ida den Text mit dem "x" vorlesen sollte, war mir der Buchstabe nicht gleich geläufig und sie schlug mir - just in jenem Moment, als ich das Wort endlich wußte - wütend ins Gesicht, wobei ihr Ehering mir die Lippe aufriß. Ich weinte weniger über den Schmerz als über Idas Ungeduld und die Heimtücke meiner Klassenkamera-den. Wenn ich nicht meinen über die ganze Klasse verteilten Stiften hätte nachforschen müssen, hätte ich dem Unterricht besser folgen können. Und am Jahresende schrieb die Lehrerin in mein Zeugnis: "Christa läßt sich zu leicht ablenken. Bei etwas mehr Fleiß könn-te sie bessere Leistungen erzielen." Das war der blanke Hohn. Und ich konnte mich nicht dagegen wehren, sondern mußte obendrein noch Idas Beschimpfungen hinnehmen.
Es gab für mich zwei Möglichkeiten, zum Schulhaus zu gelangen: Entweder durch die Frie-sickestraße (hier standen auf der einen Seite schmucklose graue Wohnhäuser, auf der anderen Seite war ein stinkendes Farbfässer-Lager und ein beräumtes Ruinengrundstück), dann durch die trostlose Charlottenburger (hier standen auf beiden Seiten schmucklose graue Wohnhäuser mit einigen hohläugigen Ruinen dazwischen), von wo aus ich in die Gustav-Adolf-Straße (hier standen kleine Häuser mit hellem, mehrfarbigen Anstrich und klassizistischer Fassade) einbiegen konnte, oder durch die freundliche Pistoriusstraße mit dem Schusterladen und dem Spirituosen-geschäft, die ich oft im Auftrag der Familie besuch-te. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Friedhof, der mit vielen hohen Bäu-men bestanden war, die ihre grünen Zweige weit über die Straße reckten bis zum Hambur-ger Platz. Hier standen etliche Silberpappeln, die ich bewun-derte und liebte, weil sie so ge-rade und schlank gewachsen waren und ihre Blätter nicht nur eine schöne Form hatten, sondern auch zweifarbig waren. Fast in der Mitte des kreisrunden Platzes war eine Wiese mit einem Buddelkasten darin; dahinter begann eine blühende Laubenkolonie. Bis zum Hamburger Platz war die Pistoriusstr. mit Linden bepflanzt, dahinter mit Kastanien. Mir war untersagt, zum Buddelkasten bzw. zu den Kastanien zu gehen, denn dazu hätte ich den Fahrdamm überqueren müssen, der damals schon genauso dicht befahren wurde wie heute, sogar eine Buslinie verkehrt dort (vor dem Krieg fuhr auch eine Straßenbahn durch unsere Straße, ich habe die Schienen noch zu sehen bekommen. Ida erzählte, daß genau vor unse-rer Haustür eine Haltestelle gewesen sei), wo ich ebenfalls in die Gustav-Adolf-Str. ein-biegen konnte. Dieser Weg war auch der kürzere. Ich tanzte förmlich zur Schule hin. Aber auf dem Rückweg wurde ich von Kindern überholt, die zwei bis drei Jahre älter waren als ich. Sie schubsten mich und rissen an meiner Schultasche, bis ich auf das Pflaster stürzte. Dann entwendeten sie meine ABC-Zeitung und verlangten, daß ich daraus vorlesen sollte. Ich las ihnen vor und ich konnte gut lesen; so ließen sie mich gehen. Nachdem mir solches mehrmals geschah, mied ich den farbenfrohen Weg über den Hamburger Platz. Es war, als hätte ich in den ersten Schuljahren ein Schild auf dem Rücken mit der Aufschrift: "Mit mir kann jeder machen, was er will."
Wenn Ida zu den Elternversammlungen ging (sie tat es nur im ersten Schuljahr), nahm sie mich mit. Zu der protestierenden Lehrerin sagte sie: "Ick kann die Jöre nich alleene lassn, die macht sonst Dußlichkeiten." Da ich einmal tatsächlich aus lauter Langerweile Unfug getrieben hatte, war das noch nicht einmal gelogen. Ich hätte auch nicht gewagt, die Lehrerin darüber aufzuklären, wie oft und wie lange Ida mich sonst allein ließ.) Nach der ersten Elternversammlung unterhielt Ida sich mit der Lehrerin noch über Privates. Zum Schluß sagte sie: "Christa ihre Eltan sin int Jefängnis, nu hab ick die Plare mit die Jöre. Wenn se nich follscht (gehorcht), könn Se ihr ruhich eene tachteln." Die Lehrerin wehrte ab: "Es ist nicht gestattet, die Kinder zu schlagen, ein Lehrer, der seine Schüler schlägt, wird fristlos entlassen." Ida war sehr erstaunt und meinte, dann wäre es jetzt wohl sehr schwer, den Kindern etwas beizubringen.
In der zweiten Klasse schrieben wir einen Schulaufsatz mit dem Thema "Mein Zuhau-se". Darin sollten alle Möbel mit ihrem Standort aufgeschrieben werden. Da war für mich nicht viel nachzudenken! Ich schrieb also (hier gekürzt): "In der Küche steht ein Küchen-spinnt, eine Anrichte, ein Tisch mit zwei Stühle, der Kolnkasten, die Kochmaschiene und der Jaskocha. In der Stube stehen zwei Betten, Oma ihrs und meins, ein Ofen, ein Tisch, zwei Stühle, ein Kleiderspinnt, ein Wertiko und der Rejelata. In Tante Irmas Stube darf ich nicht, aber da steht ein Bett, ein Kleiderspinnt, ein Scheeselonk mit zwei Sessel, ein Tisch zum dran sitzen, ein Tisch, wo das Radjo draufsteht und ein schöner Schreibschrank."
Ich war sehr stolz darauf, so rasch vier Seiten geschrieben zu haben, es war fast das doppelte von dem, was die meisten anderen geschrieben hatten und gab meinen Aufsatz in der festen Überzeugung ab, kaum Fehler gemacht zu haben. Ich hoffte auf eine gute Zen-sur, denn ich hatte getreulich alles so aufgeschrieben, wie es von Ida und allen anderen in unserer Wohnung benannt wurde und hatte außerdem noch die Worte der Lehrerin beher-zigt, daß man am Wortende das ungesprochene "e" mitschreibt. Man kann sich denken, daß ich mich in Bezug auf meine erhoffte gute Zensur irrte, aber es kam noch schlimmer.
Als die Lehrerin die Aufsätze zurückgab - wie immer die Arbeiten mit den guten Noten zuerst - glaubte ich, daß sie mein Heft vergessen hätte. Nachdem der schlechteste Schüler sein Heft eingesteckt hatte, sagte die Lehrerin: "Kommen wir nun zu einem ganz besonde-ren Aufsatz." - "Huch", dachte ich, "so gut ist er ja nun auch wieder nicht!" und errötete vor Stolz. Indessen sprach die Lehrerin weiter: "Hier hat jemand eine ganz ausgefallene Wohnungseinrichtung. Erkläre mir doch einmal, Seeger, was eine Anrichte ist?" Ich erklär-te. "Ahaa," triumphierte sie, "es handelt sich also um einen kleinen Küchenschrank. Du hast soviel geschrieben, aber diese Formulierung war dir wohl zu lang? Dann heißt es "Koh-len-ka-sten", und nicht so, wie du das Wort verstümmelt hast. Auch heißt es "Gaskocher", das schreibst du zehnmal, ebenso das Wort "Radio", das schreibt man doch nicht mit j, man hört doch das i, oder bist du taub? Nun erkläre mir bitte noch, was eine Kochmaschine ist." Ich sagte, daß die Oma den gemauerten Herd so nennt. "Siehst du," sagte sie heiter, "so hättest du schreiben müssen. Es gibt keine Maschine, die kochen kann. Und nun komm nach vorn und schreibe das Wort "Kleiderspind" an die Tafel, "Spind" kommt ja in deinem Aufsatz mehrmals vor." Ich schrieb das Wort so an, wie ich es für richtig hielt. Mit großer Befriedigung in der Stimme sagte sie: "Du hast dich tatsächlich nicht verschrieben. Das Wort heißt "Spind", es kommt nicht von "spinnen". Und außerdem bedeutet es Schrank, ihr habt Schränke, nicht Spinde. Und "Vertiko" wird mit "v" geschrieben. Fremdwörter solltest DU lieber vermeiden. "Chaiselongue" enthält gleich mehrere Fehler, deshalb mußt du das Wort auch nicht berichtigen, du hast an den anderen Fehlern wirklich genug zu tun. Nun noch das, was mich in die größte Verlegenheit gebracht hat: Was, bitte, ist ein "Rejelata"?"
Mein Gesicht glühte vor Scham. Was konnte ich dafür, daß Ida so sprach? Leise ant-wortete ich: "Det is die jroße Uhr." - "Aha, also eine Uhr, ein Re-gu-la-tor! Eine Uhr ist ebensowenig ein Möbelstück wie der Ofen, den du ja auch angeführt hast." Ich erklärte, daß ich die Uhr für ein Möbel ansah, weil sie aus Holz und fast zwei Meter hoch war. Die Lehrerin schüttelte unduldsam den Kopf: "Uhr bleibt Uhr und ist kein Möbel. So muß ich dir für Inhalt und Ausdruck die Note 4 geben, ebenso für die Schrift."
Nun wollte ich erklären, daß am Vortag ein Mitschüler meinen Federhalter aufgestaucht hatte, die Feder daher verbogen war und ich beim besten Willen nicht sauberer schreiben konnte. Mit honigsüßem Lächeln fragte sie: "Du bist immer unschuldig, nicht wahr?" Mit einiger Schärfe in der Stimme fuhr sie fort: "Steh auf, wenn ich mit dir rede!" Solange durfte ich sitzen bleiben, jetzt sollte ich plötzlich aufstehen! Am liebsten hätte ich gesagt: "Jetzt versuche ich mit Ihnen zu reden, und ich weiß nicht, warum meine Klassen-kameraden mich nicht mögen!" Stattdessen erhob ich mich langsam aus der Bank, senkte den Kopf und schwieg. Sie gab mir mein Heft und sagte überlegen: "Setz dich bloß wieder hin, du lahme Ente!"
Die Klasse johlte. Tagelang hieß es noch: "Die Seechern spinnt!"
Die Lehrerin hatte "Scheeselonk" im Ganzen unterstrichen, und ich wußte nicht, welche Buchstaben darin falsch waren. Sie hatte zwar gesagt, daß ich das Wort nicht berichtigen muß, aber ich erkundigte mich bei Irma nach der Schreibweise und schrieb es mit zu den berichtigenden Worten, zehnmal, wie die anderen.
Ein paar Tage später sagte die Lehrerin: "Ich habe mir gestern Eure Berichtigungen angesehen. Ihr habt das alle sehr gut gemacht. Seeger, komm doch mal an die Tafel und schreibe das französische Wort für "Sofa" an die Tafel." Stolz schrieb ich es fehlerfrei an. Wieder hatten meine Klassenkameraden etwas zu lachen. Für sie hieß das "scheiße lang", und auf dem Heimweg hatte ich ihren Spottgesang: "Seecha, Seecha, scheiße lang!" zu er-tragen.
Warum hatte die Lehrerin mich vor den anderen so lächerlich gemacht?
Jahre später las ich in einem Roman, daß nichts eine Gemeinschaft so fest zusammen-hält, wie gemeinsame Ziele, besonders, wenn sie sich gegen etwas oder Jemanden richten. Ich hatte also für den Zusammenhalt des Klassenkollektivs gesorgt. Befremdlich ist nur die Tatsache, daß die Lehrerin sich zu diesem Zwecke das sozial schwächste Kind ausgesucht hatte. Niemals vergesse ich das hämische Grinsen in ihrem Gesicht ob ihres Erfolges. Jahrzehntelang sah ich meinen Gesprächspartnern nicht ins Gesicht, aus Furcht, abermals solch einem niederträchtigen Lächeln zu begegnen.
Damals wußte ich - laut Ida - daß alles richtig ist, was Erwachsene tun. Ich maßte mir kein Urteil über meine Lehrerin an. Ich habe sie nicht gehaßt oder verachtet. Ich war nur immer wieder verletzt durch ihr Verhalten. Es tat mir sehr leid, ihren Erwartungen nicht zu entsprechen, obwohl ich mir stets die größte Mühe gab. Sie gehörte zu den Menschen, de-ren Gesicht ich vergaß, sobald sie mir den Rücken zuwandten. So kann ich heute beim be-sten Willen nicht sagen, ob sie wirklich kurze, tiefschwarze Locken, einen dunkelrot ge-schminkten Mund, eine schlanke, drahtige Figur hatte und hohe Stöckelschuhe trug und etwa 35 Jahre alt war - ich habe diese Erscheinung im Unterbewußtsein und jedesmal, wenn eine Frau von diesem Äußeren in meinen Gesichtskreis tritt, bekomme ich ein Signal: "Vorsicht! Gift!" Aber ich bin als moderne Frau dahingehend aufgeklärt, daß es nichts Übersinnliches gibt, so muß mir jeder Mensch erst mal beweisen, daß er tatsächlich so ist, wie er aussieht. Und dennoch - wie oft und wie gerne - glaube ich dem schönen Schein!
Jedenfalls bat ich, aus der Schule genommen zu werden. Ida hatte mich auf mein Bitten ja auch aus der Vorschule genommen, weil ich mit den Kindern nicht zurechtkam. Ich war nicht in der Lage, mit Gleichaltrigen umzugehen. Gerade das sollte ich dort lernen, aber das wußte nur die Amtsärztin. Ich war es gewohnt, Befehle auszuführen und mein Spielzeug zu kommandieren. So war ich der absolute Außenseiter. Ich erinnere mich, daß die Erzieherin am ersten Tag sagte, ich könne mit jedem Spielzeug spielen, welches sich im Raum befindet. Nun hatte ein Junge von seiner liebsorgenden Mutter eine rotfunkelnde Feuerwehr mitbekommen. Ich wollte unbedingt damit spielen. Die sehr junge Erzieherin überredete den Jungen, mir für heute das Auto zu borgen und ich spielte den ganzen Tag mit dem Wunderauto. Am anderen Tag zischte mich der Junge an: „Det Auto bring ick nie wieder mit!“ und er wollte auch nicht mit mir und den anderen Autos spielen. Alle Kinder hatten längst eine Beschäftigung gefunden, ich stand ratlos im Raum. Die Erzieherin führte mich zur Puppenecke, wo ein großes Puppenhaus und viele wunderschöne Puppen aller Größen zu bewundern. Ich sah eine Weile zu und bemerkte, daß die Mädchen nicht so mit den Puppen umgungen, wie ich es gewöhnt war. Sofort wollte ich das Kommando übernehmen, denn eine Mutter geht nicht arbeiten und läßt ihr Kind allein. Die Mädchen sagten: “Unsere Mütter gehen arbeiten!“ und ich verstand die Welt nicht mehr. Wir stritten wie die Blöden, dann nahm die Erzieherin mich zur Seite, gab mir ein Bilderbuch und ich mußte stillsitzen, bis ich abgeholt wurde. Wie am Vortag führte die Erzieherin Beschwerde wider mich. So war es leicht, Ida zu überreden, mich zu Hause zu lassen, auch, weil Grete L. bestätigte: „Vorschule is unwichtich!“ Doch nun biß ich auf Granit. „Et jibt jetz ne Schulflicht, du blödet Jör! Denkste woll, ick jeh uff meine alten Daare wejen dir int Jefängnis?“ Alles Heulen und betteln half nichts, ich mußte weiterhin die Schule besuchen.
Irgendwann im zweiten Schuljahr kamen drei Leute in unsere Klasse, die sich mit jedem Kind ausführlich unterhielten. Es ging um unsere körperliche Gesundheit und um unser seelisches Gleichgewicht. Der Arzt war mit meinem Rücken nicht so recht zufrieden, aber ich versicherte ihm, daß mir nichts wehtat. Die Psychologin hielt sich ziemlich lange mit mir auf. Sie kam sogar am anderen Tag wieder, weil ihr eine meiner Bemerkungen keine Ruhe gelassen hatte: "Wenn ick die Ooren (Augen) janz feste zumache, denn seh ick Mon-nefratzn." Das war ein von Grete L. benutztes Wort für karikierte Gesichter. Die Psycholo-gin bat mich, ihr so eine Fratze aufzuzeichnen und fand meine Produktion hochinteressant. Sie hatte Buntstifte mitgebracht und ich kritzelte freudig auf großem Zeichenpapier die entsetzlichsten Gesichter, die sich meine Phantasie ausmalte. Besorgt fragte die Psycholo-gin: "Hast du keine Angst vor denen?" - "Nee", lachte ich, "det sin doch nur Fratzn, die duhn jarnischt, da brauch ick keene Angst haam, da sin ja keene Arme un Beene, nur Oo-ren und manchma ne lange Zunge."
Als ich in die 3. Klasse ging, hatte ich im Mai eine schwere Grippe. Unser Hausarzt war gerade dabei, die Praxis an seinen Sohn weiterzugeben, so mußte ich zu einem anderen Arzt. In der Gustav-Adolf-Str. - Ecke Langhansstr. gab es einen Allgemeinmediziner, dort wurde ich hingeschickt. Ich hatte mir keinerlei Beschäftigung mitgenommen - ich wußte noch nicht, wie lange man in einem Wartezimmer warten kann, bis man aufgerufen wird - und blickte gelangweilt aus dem Fenster. Im gegenüberliegenden Wohnhaus erspähte ich nach einiger Zeit eine meiner Klassenkameradinnen. Wir hielten ein kurzes Gespräch, kurz deshalb, weil ich laut rufen mußte, um mich verständlich zu machen. Einer der Patienten schloß das Fenster, um seine Ruhe zu haben. Als ich nach meiner Genesung wieder in die Schule kam und meinen Entschuldigungszettel abgab, den der Lehrer laut vorlas, keifte meine Klassenkameradin: "Die wah ja janich krank, ick hab ihr doch int jejenübaliejende Haus jesehn, wo se zu Besuch wa!" Ich sagte: "Ja, da wah ick zu Besuch bei n Aazt! Wenn de nachher zu Hause jeehst, kannst de det Aaztschild an det Eckhaus lesn. Det Waatezimma is jenau uff de Ecke, von da aus ham wir uns untahaltn." Erstmalig hatte ich mich erfolgreich verteidigt! Aber ich war stark enttäuscht von dieser Klassenkameradin, die sich so freundlich mit mir von Fenster zu Fenster unterhielt und mich dann der Lüge bezichtigte! Auch wunderte ich mich darüber, daß sie augenscheinlich nie soviel Interesse aufgebracht hatte, das große Emailleschild durchzulesen, an welchem sie täglich mindestens zweimal vorüberkam. Der Lehrer unterbrach: "Privatgespräche finden nach Schulschluß statt". Natürlich sprach
Etliche Tage später wurde ein wenig beliebter Schüler vom Deutschlehrer stark gelobt, weil er seine Schrift erheblich verbessert hatte. Alle standen um seine Schulbank herum und bewunderten die Leistung. Nun wurde auch ich neugierig und warf einen Blick in das Heft. Was ich sah, entsetzte mich. Hatte denn dieser Junge zu Hause niemanden, der ihm das Heft solange um die Ohren schlug, bis er ordentlich schreiben konnte? Was da gelobt wur-de, waren kaum entzifferbare Krakel, der Junge konnte unmöglich vorher noch unleserli-cher geschrieben haben! Zornig nahm ich seinen Bleistift und rief: "Weeßte, wat de dafor vadient hast? Dette!" und strich das Geschriebene so heftig durch, daß die Heftseite riß. Der Junge begann zu weinen und sofort tat er mir leid. Es tat mir leid, was ich getan hatte. Der Lehrer packte mich am Kinn und schüttelte mich, daß ich den Boden unter den Füßen verlor. Er schimpfte mich aus und wandte sich dann ab. Von meinen Klassenkameraden wurde mir Klassenkeile angedroht. In der Pause berieten sie miteinander und beschlossen, daß der geschmähte Schüler mir eine Ohrfeige geben darf. Ich lief nicht davon, sondern nahm meine Strafe - die ich als gerecht empfand - an. Doch als er mir eine weitere Ohrfeige verpassen wollte, setzte ich mich zur Wehr und besiegte ihn. Die Mitschüler akzeptierten es. Ich ging heim, unsicher, ob ich mich oder die anderen verachten soll oder darf.
Da wir im dritten Schuljahr eine neue Klassenlehrerin bekamen, erfuhren wir zur Weih-nachtszeit, was "Julklapp" ist und die Klasse beschloß, einen Julklapp durchzuführen. Auch ich zog begeistert ein Los. Ida schimpfte: "Ick hab doch keen Jeld nich for Jeschenke for fremde Jörn, du deemlijet Kamel!" Am anderen Tag versuchte ich, mein Los zurückzuge-ben, aber die Lehrerin sagte: "Du wirst dich doch nicht aus dem Klassenkollektiv ausschlie-ßen wollen! Deine Oma wird wohl wenigstens fünfzig Pfennig übrig haben!" So überredete ich Ida beim nächsten Einkauf, daß sie als Julklapp-Geschenk eine Schachtel Pfefferku-chenherzen kauft. Diese Schachtel war gestaltet wie das Hexenhaus aus "Hänsel und Gre-tel" und ich hätte selbst allzugern eine solche Schachtel gehabt, wagte aber nie, darum zu bitten. Irma wickelte mir die Schachtel in Geschenkpapier ein und band auch eine schöne Schleife darum, nachdem sie gesehen hatte, daß ich das Geschenk in grobes Packpapier eingeschlagen und einen Schnips-gummi zur Befestigung verwendet hatte. Das waren die Materialien, die ich von Ida bekommen hatte. Als ich mein Geschenk in den Julklapp-Sack versenkte, sah trotz aller Vorsicht jeder, was ich da zu verschenken gedachte. Ein Junge sagte: "Die hat wirklich nur fuffzich Fennich ausjejeben!" Ein Mädchen rief daraufhin: "Na, wehe dir, wenn ick det krieje! Ick hau dir det solange um de Ohrn, bis de weeßt, wat sich jehört!" Ich schämte mich unendlich und war böse auf die Lehrerin, die mich nicht vom Julklapp befreit hatte. Das Geschenk, das ich erhielt, habe ich unausgewickelt dem Kind gegeben, welches schon über das billige Pfefferkuchenhaus weinte. So war ich vor der Klasse rehabilitiert. In den nächsten Jahren verschenkte ich Bücher, die ich zu Weihnachten oder zum Gebrtstag bekommen hatte. Da ich sie pfleglich behandelte, sahen sie wie neu aus. In der sechsten Klasse bekam ich zum Julklapp etwas, das wie gekauft aussah. Es han-delte sich um ein "Näh-Karussel". Acht Spulen Nähgarn und -seide waren zwischen einer Trommel befestigt, auf welcher ein Nadelkissen trohnte. Doch in jenem Jahr hatte ich gera-de entdeckt, daß ich genauso herumtoben kann wie ein Junge und interessierte mich nicht im geringsten für Näharbeit, für die ich ja laut Ida auch viel zu dämlich war. Der Junge, der mir das Geschenk gemacht hatte, bemerkte meinen abfälligen Blick und fragte: "Gefällt es dir nicht?" Ich klärte ihn auf. Er sagte: "Aber das habe ich selbst gemacht!" Nun bewunder-te ich seine Kunstfertigkeit und versprach, das Geschenk in Ehren zu halten. Doch in der nächsten Heizperiode nahm Ida das kleine Kunstwerk auseinander, tat die Nähutensilien in ihr Nähkistchen und steckte das verbleibende Holz in den Ofen.
In der vierten Klasse bekamen wir einen neuen Zeichenlehrer. Während wir zeichneten, ging er von Tisch zu Tisch und half uns bei der perspektivischen Darstellung. Bei mir hatte er nichts zu helfen. Wir sollten ein Fabrikgebäude zeichnen, welches später mit Tusche ei-nen realistischen Anstrich erhalten sollte. Ich verpaßte meiner Fabrik einen Anstrich, den ich aus hellrot und lila zusammengemischt hatte. Die meisten meiner Klassenkameraden hatten grau oder gelb gewählt, ich aber hatte genau den Farbton getroffen, den Fabriken aufwiesen. Das Lob des Lehrers und die gute Zensur freuten mich jahrelang.
Weil ich so gerne sang, trat ich - gerade zehnjährig - dem Schulchor bei. Es ging mir im Wesentlichen darum, mit anderen zu singen. Ich stillte hier mein kindliches Harmoniebe-dürfnis (das übrigens noch heute in mir wach ist. Ich möchte lieber blind sein, als täglich die mit Graffittis "verzierten" Wände zu sehen.). Ich war sehr glücklich, im Schulchor neue Lieder zu lernen, Lieder, die ich bei Ida nie kennengelernt hätte. Deutsche Volkslieder, Lie-der anderer Völker, Lieder von Völkerfrieden und Menschenliebe.
Meldete ich mich bei Ida zur Chorstunde ab, sagte sie grinsend: "Jaja, jeh sing." Bei Familie L. war "jeh sing" eine höfliche Umschreibung für "verpiß dich". Ich versäumte kei-ne Übungsstunde und gehörte zwölfjährig zum Kreise derjenigen, die öffentlich auftreten durften. Wir sangen zur Einschulung der Erstklässler, zur Jugendweihe, zum Schulabgang und in Altersheimen. Ein wahres Glücksgefühl durchströmte mich, mit Fug und Recht die Bühne betreten zu dürfen! Mit dem Chor. Niemals hätte ich allein eine Bühne betreten, selbst dann nicht, wenn keine Zuschauer in der Nähe waren! Und ich achtete darauf, nicht zu sehen zu sein, wenn ich auf die Bühne kam bzw. sie verließ. Ich wußte, daß ich ein "Trampel" bin und wollte den Chor nicht diskreditieren. Es genügte mir, dabei zu sein. Später schob man mich in die zweite, dann gar in die erste Reihe, weil ich so klein war.
Die Schulkinder der DDR wurden seinerzeit klassenweise regelmäßig zu Zahnarzt ge-führt. Jahrelang registrierte der Arzt, daß bei mir alles einwandfrei ist. Ich war stolz auf meine tadellosen Zähne. Aber am Tag des Zahnarztbesuches in der sechsten Klasse hatte ich sie nicht geputzt. Der Schulzahnazrzt fühlte sich bemüßigt, mir eine Plombe einzuset-zen. Ich hatte zeitlebens nur einmal Zahnschwierigkeiten - als mir ein "Weisheitszahn" wuchs. Er mußte gezogen werden. Jener vom Schulzahnarzt sanierter Zahn verlor nach einigen Wochen seine Füllung und hat mir niemals irgendwelche Schwierigkeiten gemacht, außer, daß ich die Essenreste aus ihm herausklauben muß. Aber meine Schulkameraden waren damals recht schadenfroh - die Seechern hat n kaputten Zahn! Gerade war ich dabei, in der Klasse Freunde zu gewinnen, und dann das! Wenn ein Zahn krank ist, macht er im-mer wieder Schwierigkeiten. Jener Zahnarzt hat mir einen gesunden Zahn angebohrt und mich gleichzeitig - ohne es zu wissen oder gar zu wollen - meines Prestiges in der Schul-klasse beraubt.
In der 5.Klasse wurden wir zum Schwimm-Unterricht in die Gartenstraße geführt. Gar-tenstraße - welch romantischer Name für eine Straße, in welcher lediglich ein paar Bäume standen! Meine Mitschüler waren undiszipliniert wie immer, die Straßenbahnfahrt also stressig für mich. Ich bemitleidete die uns begleitende Lehrerin, die vergeblich versuchte, Disziplin herzustellen. In der - übrigens ältesten Badeanstalt Berlins - angekommen, hatten wir uns in der dritten Etage zu entkleiden und dann nackt ins Parterre zu gehen, wo wir uns duschen sollten, bevor wir in die Badeanzüge schlüpfen. Ich wurde in die äußerste Ecke gedrängt, bis ich mich ausziehen konnte. Ich wollte sehr gerne schwimmen lernen, schwim-men zu können betrachtete ich als heldenhaft. Ich erschrak, als ich Nacke-dei im Treppen-haus den gewöhnlichen Besuchern der Badeanstalt begegnete. Rasch lief ich nach unten zu den Duschkabinen. Keine war für mich frei. Ich bog um die Ecke, weil ich von dort Dusch-geräusche hörte und stand plötzlich im Duschraum für Männer. Ich kehrte beim Anblick eines nackten Mannes sofort um, es war mir klar, eine Grenze über-schritten zu haben. End-lich fand ich eine freie Kabine und duschte mich rasch, denn meine Klassenkameraden wa-ren längst fertig. Der Schwimmlehrer betrachtete uns und stellte fest, daß ich nicht ganz sauber war. Er schickte mich zurück in die Dusche. Ich wusch mich mit aller Kraft und kehrte zum Beckenrand zurück. Der Schwimmlehrer hatte inzwischen einiges an Theori-e verlauten lassen, bei meiner Rückkunft standen meine Klassenkameraden noch am Ort. Nun betrachtete er mich und sagte, daß meine Füße immer noch nicht sauber seien. Ich hatte im Sommer auf den nackten Füßen Sandalen getragen, so hatten sie Streifen. Er rief eine Frau, die mich Dreckschwein waschen sollte. Sie wusch mich und ich heulte. Als ich nun an den Beckenrand trat, waren alle mit dem "Trockenschwimmen" fer-tig und wir durften ins Wasser. Ich bekam einen Schwimmring und durfte im Wasser plant-schen. Den Unterricht hatte ich verpaßt. Auf dem Heimweg wurde ich von meinen Klas-senkameradinnen böse beschimpft, weil ich so eine ausgespro-chene Drecksau war. Ich hat-te zu jener Zeit nämlich eine sonderbare Pigmentverfärbung: Auf meinem Bauch befand sich ein nahezu senkrechter Strich, die linke Bauchseite war dunkler als die rechte und obendrein fleckig. Da half kein Waschen und kein Baden, die Verfärbung blieb. Ich hatte schon häufig daran herumgeschrubbt, aber außer einer Rötung der Haut nichts erreicht. Ich schämte mich so sehr für meinen fleckigen Bauch, daß ich mit keinem Wort meine Klassen-kameraden oder gar den Schwimmlehrer aufklären konnte. Auch hätte ich zum Beweis den Bauch herzeigen müssen, dazu war ich nicht gewillt, weil sich meine Brust bereits entwic-kelte. Ich war mit keiner meiner Klassenkameradinnen so vertraut, daß ich ihr meinen Bauch gezeigt hätte.
Fürderhin erfand ich Ausreden, wenn "Schwimmen" angesagt war. Ich wollte nicht als Nackedei auf einer Hintertreppe besichtigt werden, ich wollte nicht als Dreckschwein gel-ten - ich gab den Wunsch auf, schwimmen zu lernen. Als ich an einem Tage keine Ausrede wußte, stieg ich sogar aus der Straßenbahn heimlich wieder aus und lief nach Hause. In diesem Jahr erhielt ich für das Fach "Körpererziehung" die Note 5.
Die Lehrerin hatte zu uns Zwölfjährigen gesagt: „Nehmt Euch etwas zu trinken mit. Es wird ein heißer Tag und wir haben eine sehr lange Wanderung vor uns. Wer kann, sollte sich zwei Wanderflaschen mitnehmen.“ Wir besitzen keine Wanderflasche. Gerne hätte ich so ein durchsichtiges, halbrundes Plastedgefäß mit aufgeschraubtem Trinkbecher gehabt oder besser noch eine Thermoskanne, die laut Aussage der Lehrerin das Getränk angenehm kühl gehalten hätte. Aber Ida hatte nie Grund, solche Dinge anzuschaffen und meinetwegen wird sie es auch nicht tun, und wenn es noch so preiswert ist.. Ob L.s vielleicht eine Wanderflasche zu verborgen haben? Grete L.antwortete: „Nee, aba hier haste ne Schnapsflasche, da jeht ooch viel mehr rin!“ – „Aber das Etikett?“ gab ich zu bedenken. „Det jeht mit Wassa ab.“ Während ich auf dem nassen Etikett herumschabte, dachte ich: „Meine Klassenkameraden werden mich ganz schön auslachen, wenn sie sehen, woraus ich trinke! Ich werde mich blamieren bis auf die Knochen! Ich geh einfach nicht mit zum Wandertag. Ich schreibe mir einen Entschuldigungszettel und fahre zum Müggelsee und plansche an einer wilden Badestelle. Oma muß mir für die S-Bahn sowieso Geld geben.“ Dann redete ich mir ein, daß ich alleine am Müggelsee viel mehr Spaß haben werde als bei einem Klassenausflug. UND – kurz, bevor ich den Heimweg antreten wollte, spülten die Wellen eine fast neue Wanderflasche vor meine Füße!
In der 7. Klasse hatte ich viel Spaß am Chemie-Unterricht. Die Bezeichnungen der Ele-mente regten meine Phantasie an. Ich bemühte mich, alle Elemente mit Namen benennen zu können (ich kann noch heute innerhalb von fünf Minuten 70 - 80 chemische Elemente nen-nen). Ich saß in der Stube und paukte mir die Bezeichnungen ein, sagte sie laut auf wie ein Gedicht. Ida kam aus der Küche: "Wat quasselst du denn hier die janze Zeit? Ick dachte schon, du hast hier heimlich dein Bruda rinjelassn!" Ich antwortete leichthin: "Ick lerne die Elemente." - "Wat, un dafor brauchst de so lange? Die Elemente heißn Feua, Wassa, Luft un Erde, dafor braucht man doch bloß eeen mal Luftholn!" Ich grinste: "Ja, Oma, im Mittelalter war det so. Nu hat die Wissnschaft festjeschtellt, det diese vier Elemente jar keene sind, sondan aus viele kleene Teilchen zusammjesetzt sind. Et sind ne Menge neue Elemente entdeckt worden. Wassa z.B. beschteht aus zwee Elemente und die Luft aus einem Jasjemisch." - "Wat? Aus Jas? Jas is doch jifftich, du blödet Kamel, det kann doch jar nich sin!" entgegnete sie erregt. "Ja, Oma, du hast schon recht, jedet Jas einzeln is jifftich, aba in der richtjen Mischung is et ehmd tatsächlich atembare Luft. Die Wissenschaft . . ." Sie unterbrach mich unwirsch: "Die Wissenschaft hat festjeschdellt, det Marmelade Fett enthält, ja, ja. Un wozu wird dir det nu nützn, det de det weeßt, wie det neue Zeuch allet heeßt?" - "Na, is et nich schön, zu wissen, wat die Welt im Innersten zusammenhält?" - "Komm du - olle Kuh - mir nu - nich noch mit Jööte!" rief sie erbost und entschwand wieder in die Küche. Ich amüsiere mich noch heute darüber, daß sie unbewußt rhytmisch gesprochen hatte.
In der achten Klasse gelang es mir endlich, mit einigen meiner Klassenkameraden zu reden. Ich beteiligte mich an den Mutproben der Jungen und es gab Mitschüler, die bei mir "abschreiben" wollten. Ich wies sie ab, denn Schummeln hilft nicht, die Prüfungen zu bestehen. Ich sagte ihnen: "Wenn du vor der Prüfungskommission stehst, dann mußt du das wissen, dann mußt du das können! Es nützt dir nichts, wenn du es bei mir abschreibst, davon kommt es nicht in deinen Kopf! Du mußt es selber lernen, selber essen macht fett, selber lernen macht schlau!"
In der achten Klasse bekamen wir einen Klassenkameraden, der seinen Sitzplatz schräg vor mir hatte. Er war ein stiller Junge, tobte in den Pausen nicht herum wie die anderen, sondern blieb - genau wie ich - auf dem Platz sitzen. So kamen wir schließlich ins Gespräch miteinander. Er stotterte stark, das war der Grund, weshalb er sich nie meldete. Er teilte mir sein großes Bedauern über diese Benachteiligung mit und ich erwiderte: "Wenn du singst, dann stotterst du nich. Wie wäre et denn, wenn du beim Sprechen an eene Melodie denkst? Sprich langsam und denk an eene Melodie, vielleicht klappts." Und es funktionierte tatsächlich! Der Junge verbesserte seine Zensuren und wurde fröhlicher.
Ich hatte nicht das Gefühl, in meinen Klassenkameraden Freunde gewonnen zu haben. Ich wurde akzeptiert, wie ich sie akzeptierte. Bei den Mädchen war das etwas schwieriger. Die, die ich gern näher kennengelernt hätte, wiesen mich mit aller Härte ab. Und die anderen, die Farblosen, interessierten mich nicht. Sie versuchten aber auch nicht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Wenn der Unterricht vorbei war, eilte jede stracks nach Hause. Ich auch. Nach Schulschluß kannte ich meine Klassenkameraden nicht mehr.
 
Liebe oldicke

jetzt muss ich zuerst einmal tief durchatmen und das gelesene sinken lassen. Eine tolle Leistung, witzig geschrieben und detailliert ausgeschmückt. Du hast ein sagenhaft gutes Gedächtnis. Kompliment!
Deine Texte verdienen es unbedingt, veröffentlicht zu werden. Du wolltest doch diesbezüglich Kontakt aufnehmen, also ran an die Buletten, oder wie sagt man auf berlinerisch?
Es grüßt dich ganz lieb
Willi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
re

vielen dank, lieber willi. leider finde ich meine geschichte immer noch nicht richtig ausgereift, um die einem verlag anzubieten.
auf berlinisch sagt man auch "ran an den speck" oder "ran an den pißtopp, wer n jewinnt, säuft n aus", je nachdem, in welcher gesellschaft man sich befindet. ganz lieb grüßt
 
P

paedag

Gast
danke

ja, danke, flammarion!
als der junge, der lange schulzeit vorn an der eselsbank sitzen mußte, langen und innigen dank für deine zeilen.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo flammarion,

kaum erscheint hier eine Geschichte über die gute alte Schulzeit, schon melden sich die etwas reiferen Herren, um dir für diese wirklich ganz tolle Geschichte? Erzählung? Kapitel aus deinem Leben? das gebührende Lob zu zollen.
Also Norbert und Willy:

So sei ich, gewährt mir die Bitte,
in eurem Bunde der Dritte!"

Ja, flammarion - eine schöne und zugleich sehr nachdenklich stimmende Erzählung. Unter all deinen bisher geposteten Kapiteln deiner Memoiren, nimmt dieses hier auf alle Fälle einen Spitzenplatz ein. Es ist vor allem die Art, wie Du sie erzählst, die mich so stark (hier darf ich das in der Lupe so oft strapazierte Wort mit Fug und Recht anwenden) berührt hat. Es war nicht nur das, was mir selbst so vertraut vorkam. Es war vor allem das, was ich so nicht erleben mußte. Auch bei uns gab es Mitschüler, die nur wenig Sympathie bei ihren Klassenkammeraden genossen, die abseits standen und hin und wieder unter Hänseleien gelitten haben. Ich selbst habe mich wissentlich nie an solchen Taten unter dem Motto "Immer noch eens druff" beteiligt, aber ich habe auch nichts getan, um solchem Tun entgegen zu treten. Spätestens beim Lesen deiner Geschichte begann ich mich ein wenig dessen zu schämen.

Gruß Ralph
 



 
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