christus mansionem benedicat

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disul

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Christus mansionem benedicat


Die letzten Glockenschläge verstummten. Langsam, um ein Knarren zu vermieden, und ängstlich wegen der Blicke, die nun gleich auf ihn gerichtet sein würden, öffnete Tim die schwere, hölzerne Kirchentüre. Hurtig setzte sich der Knabe in die letzte Bank, froh, dass alle Blicke nach vorne gerichtet waren. Nahe beim Altar standen drei Kinder und spielten auf ihren Trompeten eines der Sternsingerlieder. Tim stellte seine kleine Laterne auf die Bank neben sich.
Niemand hatte gesehen, dass er schon wieder zu spät war. Wie schon so oft hatte seine Mutter vergessen, ihn zu schicken, und das neue Spiel auf dem PC liess Tim die Zeit vergessen. Es war fünf vor fünf, als er auf die Uhr schaute. Nun würde es knapp werden. Der Gottesdienst begann um fünf.
Die Trompeten, die eben noch ziemlich laut und manchmal auch ein bisschen falsch geklungen hatten, verstummten, und die drei Kinder begaben sich an ihre Plätze. Der Pfarrer stand auf und begann zu erzählen. Vom Jesuskind berichtete er, von Maria und Josef und dem Stall in Bethlehem. Und vom Stern!
Tim kannte diese Geschichte. Im Fernsehen hatte er sie gesehen, als Mama ihm wieder einmal befohlen hatte, fernzusehen und sie ja nicht zu stören. Wie immer, wenn Tim nicht stören durfte, verschwand Mama im Schlafzimmer. Tim wusste, dass sie nicht alleine war, denn manchmal hörte er ausser Mamas Stimme noch eine andere, und manchmal hörte er ihr Lachen und etwas, das wie Stöhnen klang.
„Und alle Könige sollen nun nach vorne kommen“, sprach der Pfarrer. Tim streckte seinen Hals, um zu schauen, wer wohl dieses Jahr als König verkleidet von Haus zu Haus ziehen durfte. Die Könige erhoben sich von ihren Bänken, der eine und andere rückte seine Krone zurecht oder zupfte an seinem langen Gewand. Sie stellten sich vorne um den Altar auf. Der Pfarrer begann, zu ihnen zu sprechen.
Tim wäre auch gerne ein König geworden. Aber, weil er das Sprüchlein nicht ohne zu stolpern auswendig konnte, wurde nichts daraus. Auswendiglernen fiel Tim schwer, und wenn ihm niemand dabei half, war es für ihn umso schwieriger. Früher, als er noch in die erste und zweite Klasse ging, da half ihm sein Papa beim Lernen. Das ging nun nicht mehr. Sein Papa sass im Gefängnis, und seine Mama half ihm nicht bei den Hausaufgaben.
Der vorderste König nahm den Weihrauchkessel, schwang ihn nach rechts und links und begann, immer wie emsiger den Kessel schwingend, gegen den Ausgang der Kirche zu laufen. Die anderen Könige folgten ihm. Der süssliche Duft verbreitete sich im Nu in der ganzen Kirche. Die Könige stellten sich hinter der letzten Bankreihe, dort wo Tim sass, auf.
“C+M+B“, würde heute an die Türen der Häuser geschrieben. Wer von den Kindern wohl wisse, was diese Abkürzung bedeute, fragte der Pfarrer. „Kaspar, Melchior und Balthasar“, kam prompt die Antwort aus der ersten Reihe. Aber der Pfarrer erklärte, dass das „C+M+B“ die Abkürzung für „Christus mansionem benedicat“ sei, und „Christus segne dieses Haus“ bedeute.
Noch nie stand dieser Segen oben an der Haustüre, wo Tim wohnte, und er wusste nun endlich warum. Auf dem Zettel, der vor einigen Tagen im Briefkasten lag, konnte er es lesen. Man musste eine brennende Kerze auf die Fensterbank stellen, und dann käme die Sternsingergruppe vorbei, um den Segen zu erteilen. „Alles Humbug, uns hilft sowieso niemand“, sagte seine Mutter und schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. Mama trank gerne Wein, und manchmal, wenn sie ein paar Gläser getrunken hatte, nahm sie Tim in den Arm, küsste und herzte ihn, und erzählt ihm die wunderbarsten Geschichten. Einfach so, aus dem Kopf. Nie sollten diese Augenblicke vorbeigehe! Und dann, wenn sie noch ein paar Gläser mehr getrunken hatte, stand sie auf, schickte ihn in die Stube oder ins Zimmer und befahl ihm, ja nicht zu stören. Kurz darauf klingelte es an der Haustüre.
„Amen“.

Tim hob erschrocken den Kopf und sah, dass bereits einige Leute dem Ausgang der Kirche entgegenliefen. Er nahm seine kleine Laterne und trat aus der Bank.
Draussen war es schon dunkel. Tim zog seine Mütze über und suchte die Kinder und Frau M,. die ihre Gruppe begleitete. In mehreren Stensingergruppen würden sie durchs Dorf ziehen, an den Haustüren klingeln, eines der Lieder singen und den Segen erteilen.
Tims Gruppe machte sich auf den Weg. Beim ersten Haus öffnete ihnen eine ältere Frau, und die Kinder sangen ihr erstes Lied: „Die Weisen aus dem Morgenland, sie kamen her von fern...“ Tim schnupperte. Aus dem Hause strömte ein süsslicher, feiner Geruch von frisch Gebackenem. Früher, da hatte Tims Mama auch noch gebacken. Feine Plätzchen machten sie in der Weihnachtszeit, und Mama erzählte dazu ihre wunderbaren Geschichten.
Frau M. nahm eine ihrer Kreiden aus dem Schächtelchen, das sie bei sich trug und während des Schreibens einem Kind in Obhut gab, und schrieb das 20CMB00 an die Haustüre, ganz weit oben.
Die Sternsinger verabschiedeten sich und freuten sich ob der Schokolade, die ihnen die ältere Frau geschenkt hatte.
Eine weitere Türe wurde gleich von der ganzen Familie geöffnet. Vater, Mutter, ein kleines Mädchen und ihr etwa ein Jahr jüngerer Bruder freuten sich, die Sternsinger zu sehen.
Tim, der bis jetzt immer eher im Hintergrund gesungen hatte, drängte sich während des Liedes immer weiter nach vorne. Er sang nicht, stand aber nach einiger Zeit mit grossen Augen ganz vorne. Eine richtige Familie mit einem Papa, der nicht fort war und einer Mama, die einem nicht dauernd zum fernsehen schickte!
Wie aus heiterem Himmel hatte Tim die Lösung, und er wusste nun genau, was zu tun war.
Langsam näherte sich die Gruppe dem Ende ihres Weges. Zum Abschluss des Anlasses gab es Königskuchen und warmen Tee in der Mehrzweckhalle. Die meisten Kinder wurden nach einer bestimmten Zeit von ihren Eltern abgeholt. Tim wusste bereits jetzt, dass er alleine nach Hause gehen musste.
Langsam, seine Laterne wie ein Weihrauchkessel schwenkend, schlenderte Tim heimwärts. Leise öffnete er die Eingangstüre zum Mehrfamilienhaus. Da der Lift für Tims Begriffe zu laute Geräusche machte, entschied er sich, die Treppen hochzusteigen. Immer wieder blieb er stehen und lauschte. Das Licht im Treppenhaus erlosch nach einiger Zeit, und Tim tappte im Dunkeln bis vor die Haustüre. Behutsam drückte er die Klinke. Sie gab nach und Tim trat ein. Aus dem Schlafzimmer hörte er die ihm vertrauten Geräusche. Tim schlich, ohne Licht zu machen, in die Küche, holte sich einen Stuhl und begab sich wieder vor die Wohnungstüre. Er schloss diese und stellte den Stuhl davor. Nun klaubte er etwas aus seiner Jackentasche, drückte auf den Lichtschalter, so dass er sehen konnte und stellte sich auf den Stuhl. Und er schrieb, langsam, andächtig und und feierlich mit der Kreide von Frau M.:
20C+M+B00
 

Odilo Plank

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Liebe disul,
zunächst alles Gute im neuen Jahr!
Deine Erzählung hat mich beeindruckt. Ich empfinde trotz aller Dialektik den Segen, der in ihr ausgesprochen wird. Es ist der Segen eines Kindes in einer unheilen Welt.
Herzliche Grüße! Odilo
 
H

Haki

Gast
Gefühlvole Geschichte disul, hat mir gut gefallen, obschon ich der Meinung bin, dass das Kurzprosa-Forum das Falsche für deinen Text ist.
In "Erzählungen" oder "kurzgeschichten" würde es besser passen.

Liebe Grüße,
Haki
 

disul

Mitglied
Hallo Odilo,

herzliche Dank für deine motivierenden Worte. Hast du mir eine Idee, wie ich das Zuviel an Dialektik vermeiden könnte. Ich danke dir für deinen Tipp!

Disul
 

disul

Mitglied
Hallo Haki,

schön, dass du mir eine Rückmeldung gegeben hast. Denkst du, dass ich meine Texte - sie sind immer etwa von dieser Länge - fortan unter "Kurzgeschichten" einstellen soll! Ich danke dir für deine Antwort.

Disul
 

Odilo Plank

Mitglied
Liebe Disul,
nein, die Dialektik kann man aus dieser Welt nicht wegdiskutieren. Der kindliche Segen wirkt [blue]trotz[/blue] aller Widersprüche! Sie sollen nicht negiert, sondern besiegt werden.
Bewahren wir uns den Optimismus! Odilo
 



 
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