der Wind, der Wind

Paul

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Der Wind, der Wind

Pawel-Iwanowitsch lebte nun schon sein halbes Leben lang in seiner Kommunalwohnung in einem Vorort in Omsk. Eigentlich konnte er sich schon gar nicht mehr richtig daran erinnern, dass er jemals woanders gelebt haben solle. Wie aus einem dichten Nebel stiegen da zwar manchmal Bilder, wie er als Kind in einem Wald einmal Pilze pflücken war, oder für Vatern, der früh verstorben war, beim Spekulanten Wodka holen ging und bei jenem manchmal ein Stückchen Schokolade bekam, nachdem er ihn einmal dabei erwischt hatte, wie er mit Muttern... – aber wie gesagt, nichts als Nebelbilder. Sehr vage. Verschwommen und trüb.

Ansonsten blieben ihm die viel deutlicheren Erinnerungen in seiner ärmlichen Behausung hier.
Der Tisch, unter dem er eigentlich die meiste Zeit seines Lebens saß oder lag und dort seinen für ihn äußerst essenziellen Tätigkeiten nachkam, nämlich Wodka trinken und Zwiebeln essen und dabei über das Leben sinnieren, d.h. also z.B. über die Beschaffung von Wodka- und Zwiebelvorräten oder zuweilen sich philosophischen Betrachtungen hinzugeben, wie gibt es ein Leben ohne Wodka und Zwiebeln, warum hat eine Zwiebel sieben Schalen oder ist der Tisch wirklich Tisch oder nicht doch Stuhl, denn woher soll der Tisch wissen, dass wir ihn Tisch nennen, wo man doch weiß, dass so ein Tisch überhaupt nichts weiß, also ihm unsere Namensgebung völlig Schnuppe und seinetwegen könne er auch Stuhl, Fisch oder Iwan-Petrowitsch heißen, das bliebe ihm unbenommen, also – nun denn, wie Sie merken, hatte der Tisch in Pawel-Iwanowitschs kleinem Reich eine bedeutende Rolle, bedeutender auf jeden Fall, als die Pilze und der Spekulant aus dem Nebel, immerhin konnte Pawel-Iwanowitsch den Tisch anfassen, begreifen, der hatte Hand und Fuß, wie man so sagt, also vier Füsse zumindest, an ihm schlug sich Pawel-Iwanowitsch jeden morgen beim Aufwachen den Kopf an, was ihm allerdings nichts ausmachte, schließlich trug er Tag wie Nacht eine Pelzmütze, BONK, machte es, da wusste Pawel Bescheid, Zeit fürs Frühstück, erst einmal einen ordentlichen Schluck aus der Wodka-Pulle, danach ein kräftiger Biss in eine Zwiebel, herrlich, der Tag konnte beginnen.
Soweit also zum Tisch.
Nicht viel anders verhielt es sich im Übrigen mit den anderen Gegenständen in Pawel-Iwanowitschs Kammer. Der Stuhl, auf dem er weniger saß, denn vielmehr eine Kiste Zwiebel auf ihm lagerte, oder zuweilen, d.h. das letzte mal vor ca. zwei Jahren, bot er ihn Gästen an, die sich, wie und warum auch immer zu ihm verirrt hatten, also auch der Stuhl war schon immer irgendwie da gewesen, auch der hatte sein halbes Leben mit Pawel geteilt, wie auch der Ofen, das klappernde Fenster, durch das mal mehr mal weniger der Wind pfiff, die Ikone an der Wand, die man als solche eigentlich gar nicht mehr erkennen konnte, es war da eher so eine eckige Anhebung an der Wand, nun denn das war schon ziemlich alles, was es da gab – abgesehen von den unzähligen Kakerlaken, wobei es sich hierbei nicht immer um dieselben handelt, das hatte Pawel-Iwanowitsch genauestens erkundet, im Laufe der Zeit hatten da schon mehrere Generationen ihr Dasein mit ihm gefristet, wobei man erwähnen muss, dass zwischen Pawel und den Kakerlaken friedliche Eintracht um nicht zu sagen gar ein symbiotisches Verhältnis herrschte, sie labten sich an seinen Zwiebelresten (und wenn Pawel das richtig beobachtet hatte, zumindest behauptete er das felsenfest, so hielten sie sich auch an den Wodkapfützen gütlich?...) und er betrieb seine Generationsstudien bzw. war froh überhaupt in Gesellschaft jeglicher Art zu sein.
An Feiertagen, also an den Neujahrstagen bis zum Weihnachtsfest am 7. Januar, als auch am 1.Mai (Tag des Frühlings und der Arbeit, 6.Juni (Puschkin-Tag), 12.Juni (Tag Russlands) und am 04.November (Tag der Einheit des Volkes) rauchte unser Freund auch mal eine Papyrossi – und wenn ihm danach war, auch mal zwischendurch, das hing eher von den gegeben Umständen ab, wenn was zum Rauchen da war, dann gut, wenn nicht, na, hols der Habicht. Er hatte schon einmal versucht die trockenen Zwiebelschalen in einen Papyrossifilter – aber daran erinnert sich Pawel nicht so gerne und diese Geschichte nahm alsbald Einzug in das umfassende Nebelgebiet in seiner Erinnerung ein.
Wie man also unschwer merkt, bildeten Pawel-Iwanowitsch und sein nächstes Umfeld eine harmonische Einheit, eins fügte sich zum anderen, alles um ihn herum lebte bzw. existierte mit ihm in Einklang, Pawel unter dem Tisch standen im Verhältnis wie der Tisch zum Stuhl, der Stuhl wiederum hatte bereits eine innige Beziehung mit der Zwiebelkiste eingegangen usw., die Kakerlaken, die Ikone, das Fenster, der Ofen, nichts von dem wäre das, was es war, wenn es nicht dazu ein Pendant gäbe, sämtliche Naturgesetze als auch jegliche philosophische, wissenschaftliche und auch theologische Theorien fanden hier in dieser ärmlichen Behausung in einem Vorort in Omsk ihre Basis, Beweisfindung und Erklärung dergestalt, dass es zuweilen für Fremde, die diese Örtlichkeit betraten, so war, als stünden sie in einem leeren Raum – sie erkannten weder unseren Freund Pawel-Iwanowitsch, noch gewahrten sie einen Tisch, einen Stuhl oder sonst etwas – sie bemerkten nicht einmal den Raum als solchen. Sie gingen quasi auf dem Flur der Kommunalwohnung entlang und meinten dort, wo sich der Eingang von Pawels Behausung befindet, wäre Wand. Als gäbe es dahinter weder Pawel, noch Zwiebeln, noch Kakerlaken, noch sonst irgendetwas. Nichts als Wand. Bedeutungslos und modrig.
Nur zuweilen, wenn draußen der Mond satt über der schneebedeckten Steppe Sibiriens bömmelte und dann sich einer in die Nähe von Pawels Refugium aufhielt, wie auch Kinder, die wohl vielmehr einen derartigen Sinn hatten, die berichteten dann, dass sie dort in der Nähe so ein Kluksen und Mampfen und so ein Knistern, wie wenn ein Ofen und zuweilen auch das Summen einer alten russichen Volksweise, also irgend etwas wäre dort zu hören – kann aber auch nur der Wind gewesen sein.
 



 
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