der Zahn

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casagrande

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Der Zahn


Zahnschmerzen nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag, aber noch weit genug von jedem praktizierenden Zahnarzt entfernt. Die automatische Telefonansage des vertrauten Dentisten wünscht ein gesundes neues Jahr und empfiehlt bei dringenden Fällen den Bereitschaftsdienst anzurufen. Die angegebene Telefonnummer ist über Stunden besetzt. Wahrscheinlich ist sie nie frei, weil ja doch nur von Schmerzen Wahnsinnige anrufen! Die gebunkerten Schmerztabletten sind nahezu aufgebraucht. Drei Tage bohrendes Zahnpochen hat mich zum Junkie werden lassen, der die Schmerzpillen in immer kürzeren Abständen schluckt. Die letzte Chance ist die Zahnklinik.
Schon der Weg dorthin ist kaum zu ertragen. Wie ein Asthmatiker sauge ich die kalte Luft durch die Zähne und bilde mir ein, es würde so weniger schmerzen. Schlange stehen, Anmeldung mit Angabe des Vornamens der Ehefrau. Was die mit meinem Zahn zu tun hat? Ich frage nicht. Warten, und schon bald darf ich auf einen der Behandlungsstühle in einer offenen Abteilung. Von denen gibt es nach den Nummern zu urteilen etwa vierzig. Die Ärztin stellt sich vor, bindet mir einen Latz um und fragt nach den Beschwerden. „Ach, dieser Zahn! Da müssen wir ein Röntgen machen!“ und sie nimmt mir den Latz ab und wirft ihn zusammen mit ihren Gummihandschuhen in den Abfall. Eine andere Dame bringt mich mit einem Laufzettel zum Röntgen. Warten. Eine kleine Sächsin knipst die Aufnahme. Zurück zum Behandlungsstuhl, aber der ist inzwischen von jemand anderem besetzt. Also zur Zwischenlagerung in den Warteraum. Die anderen Gäste heben die Stimmung auch nicht. Im Normalzustand wäre es sicher interessant, die Leute mit den geschwollenen Backen genauer anzusehen, aber mit Eigenschmerz ist das alles total überflüssig. Als ich endlich aufgerufen werde, bindet mir die Ärztin gleich wieder einen Flieslatz um und erklärt mir die Situation. Wurzelkaries. Und eigentlich keine Chance den Zahn zu retten. Also muss der Zahn gezogen werden. Ob ich denn einverstanden wäre?
Ja!!! Und ob!! Nur keinen Schmerz mehr. Und eigentlich hatte ich mich von dem mir vertrauten aber rebellierenden Zahn schon längst verabschiedet. Totaler Liebesentzug! Nachdem ich nun einverstanden war, erwartete ich die sofortige Extraktion. Überraschung! „Gut, dann gebe ich Ihnen die Übehrweisung zum Ziehen!“
„Aber können Sie ihn denn nicht herausziehen?“
„Nein, das ist bei uns alles streng getrennt. Aber es ist nicht weit, nur drei Häuser weiter! In der Chirurgie.“
Also ich weiter. Inzwischen bin ich schon leicht schwindlig. Zwei Stunden sind vergangen und der Zahn ist dominierend. Alle anderen Funktionen richten sich nach ihm.
In der Chirurgie erst eine Nummer ziehen, dann Aufnahme, dann Warten im Wartesaal. Ich kann nicht mehr sitzen und bese auf dem Gang auf und ab. Kaum bleibe ich stehen und sauge keine Luft durch die Zähne, platzt mir der Schädel. Nach einer Stunde werde ich aufgerufen und- muss zum Röntgen.
„Aber es ist doch klar welcher Zahn und dass der gezogen werden muss!“
Der Arzt, der sich mit „Herr Holler“ vorstellt meint „wir müssen ihn extrahieren (eh klar, das ist etwas ganz anderes als Ziehen!) und dazu brauchen wir ein Röntgen!“
Warum „wir“, ich brauche sicher keines!
Also zum Röntgenraum.
Ein junger Spastiker im Rollstuhl wartet mit seiner Mutter ebenso wie eine weitere Dame. Das Mädchen, das die Röntgenbilder macht beschäftigt sich mit dem Spastiker.
„Können Sie stehen?“
Die Mutter antwortet. Offensichtlich kann er weder verstehen noch reden. Oder seine Mutter erlaubt es nicht.
„Er kann stehen, aber nur wenn ihn jemand hält.“
„Nein, das geht nicht. Er muss alleine stehen!“
Es beginnt eine Diskussion. Die Mutter ist ausgesprochen aggressiv. Da sie Ausländerin ist versteht sie auch nicht alles. Die noch anwesende Dame mischt sich ein und bietet ihren Freund als Hilfe an. Die Röntgrennassistentin gibt auf und will erst die anderen Patienten versorgen, um dann, mit mehr Zeit, entsprechend den Spastiker zu betreuen. Die Mutter flippt aus.
„Nix andere, warum? Er jetzt !“
Nach einigen Erklärungsversuchen der Assistentin schiebt sie ihn in die Röntgenkammer. Dort rumoren sie herum, wir hören nur wie das Aufnahmegerät umjustiert wird und die Mutter immer wieder feststellt, dass sie den Sohn stützt. Letztlich scheitert die Aktion, da der Junge seinen Kopf nicht alleine gerade halten kann und das für eine Aufnahme der Zähne unbedingt notwendig ist, da sonst „die Finger der Mutter auf der Aufnahme sind“ wie die Assistentin zu erklären versucht. Dann hören wir die Assistentin jammern:
„Aber wieso schlagen Sie denn Ihren Sohn? Der kann doch nichts dafür! Hören Sie auf, den Jungen zu schlagen!“
Das Trio kommt aus der Kabine und Mutter und Sohn warten auf eine andere Gelegenheit. Nach einem Umbau des Aufnahmegerätes in den ursprünglichen Zustand bekomme ich meine Aufnahme, ein Rundumportrait.
Zurück zum Behandlungssaal. Aber der ist verschlossen und nur das Röntgenbild kann in einem Briefschlitz eingeworfen werden. Ich stehe im Warteraum und tatsächlich ruft mich der Herr Holler auf, geleitet mich zu einem Behandlungsstuhl und bindet mit den obligaten Latz um. Eine etwa 25 jährige Dame steht dabei als er mir den geplanten Vorgang erklärt. Eigentlich geht es nur um mögliche Komplikationen. Wundinfektion, Kreislaufprobleme, Allergien. Ich muss noch eine Liste mit Fragen ankreuzen, welche Medikamente nehme ich, AIDS, Tuberkulose, Schwanger. Dann meint der Holler zu der Dame:
„Wäre das was für Dich? OK!“
Er setzt mir noch eine Betäubungsspritze in den Mund und geht. Die Dame stellt sich vor: „Evelyn Dahmer“
und ich „mich kennen Sie ja schon“,
aber eigentlich wollte ich fragen „bin ich Ihr erster Zahn?“
Aber das kam mir zu ängstlich vor. Der Zahn war ja nicht mehr ganz so fest im Kiefer, er wackelte schon. Er hatte die Note 3 auf der dreistelligen Zahnfestigkeitsskala bekommen, war damit eigentlich schon nicht mehr existent.
„Ist die Zunge schon pelzig?“ fragte Frau Dahmer.
Und mir schoss sofort der Gedanke, dass das doch nicht der Ursprung der Redensart von den „Haaren auf den Zähnen“ sein konnte und lallte:
„ein bisschen gelähmt bin ich schon“.
Das Signal war gegeben. Die Dahmer legt ihr Werkzeug zurecht. Zwei Stechbeitel und drei Zangen und noch einige Ahlen. Für einen Zahn, der locker in der Fassung hängt, ein großer Aufwand.
„Er ist schon ziemlich locker“ beruhige ich mich und die Dahmer.
Während diese Vorbereitungen laufen, betreut Holler in der Nebenkabine eine Dame. Die hatte wohl die obligate Liste mit den Krankheiten nicht ganz vollständig ausgefüllt denn er fragt:
„Sind sie schwanger?“
und eine ältere Frauenstimme antwortet:
„Nein, ich bin nicht schwanger. In meinem Alter! Schauen Sie doch auf das Geburtdatum!“ Und er „Ja! Ja, ja, ja!“
Ich will darüber schmunzeln. Aber meine Lefzen gehorchen anderen Befehlen, meinen nicht mehr.
Dahmer schabt erst den zwei Wurzelhälsen entlang hinunter, kippt den Zahn in alle Richtungen, packt ihn dann mit der Zange und - rutschte ab. Ich beginne zu schwitzen, das sieht nicht gut aus! Sie packt den Zahn wieder mit der Zange.
„Es ist gleich vorbei“ meint sie ermutigend. Wahrscheinlich mehr für sich als für mich.
Sie bringt den Zahn heraus, besieht ihn und meint:
„Eine Wurzel ist wahrscheinlich abgebrochen“. Panik in ihrer Stimme und bei mir kriecht ein ähnliches Gefühl hoch.
Sie beginnt nach dem vermissten Stück zu suchen und ich bin noch in der Hoffnung, dass es in der Zahnchirurgie eine Zange gäbe, mit der man solche Stückchen fassen und entfernen kann. Dahmer kramt in der Wunde herum.
„Ah, da ist es!“
Ich bin erleichtert. Aber sie ruft mit einer zittrigen Stimme nach Holler.
Und er reagiert: „Das kommt, weil ihr immer alles zu schnell macht!“ setzt sich hin und stochert weiter in der Wunder herum, nur unterbrochen von seinen Befehlen :
„Absaugen, direkt drinnen!“
Ich habe die Vorstellung, dass dort ein Vulkan ist, dessen Krater immer voll Blut läuft. Der Schweiß rinnt mir den Rücken hinunter, ich muss um eine Unterbrechung lallen. Der Kreislauf droht zu kollabieren. Inzwischen sind vier Personen mit mir beschäftigt.
Ich willte etwas Wasser trinken. Keine gute Idee. Zum Einen ist das Wasser warm und des Weiteren kann ich wegen der Betäubung kaum trinken und das Blut rinnt aus dem Mund. Das war nichts, da konnte ich genau so gut weitermachen.
Holler erzählt etwas von „Abklappen“. Das kenne ich und weiß, dass damit das Aufschneiden des Zahnfleisches zum Bloßlegen der Zahnhälse gemeint ist. Die Angelegenheit wird zunehmend spannender.
Die Dahmer zieht mit einer Hand den Haken, der meinen rechten Mundwinkel hinunter spannt und mit der anderen bedient sie den Sauger für den Speichel. Eine andere Assistentin, die außerhalb meines Blickwinkels oberhalb ist, reicht Tupfer und Klammern und eine weitere Dame bringt immer neue Werkzeuge nach Wunsch von Holler. Irgendeine Kugel und Bohrer und, und, und.
Von Hollers Tätigkeit bekomme ich nicht sehr viel mit. Irgendwann werkelt er mit einer Fräse und jemand meint, dass es stark zu regnen angefangen hätte und man beim Heimgehen wohl nass würde. Und Holler:
“Ich bin mit dem Rad da!“
Die Damen haben ihren Spaß. “Dabei wird man schneller nass..“
Und dann hebelt er mit einem Minibrecheisen den verlorenen Wurzelteil zutage. Holler zeigt ihn herum um meint:
„Das ist er wohl!“ und beginn mit dem Zunähen.
Mir ist die Art der Fadenführung etwas suspekt und als der dreißig Zentimeter lange Faden sich um mein Kinn schlingt hebe ich ihn hoch. Ich will doch nicht, dass mir das Kinn mit dem Kiefer verbunden würde.
Und Holler fragt beinahe erschreckt: „Spüren Sie das denn?“
Und ich mit schwerer Zunge :„Nur auf der linken Seite“, was ihn beruhigt.
Er fabriziert mit der Pinzette einige Knoten und meint zwischendurch:
„Nur noch eine Naht!“
Dann Tampons in den Mund hineingeschoben, was mich fast knebelt. Ich war entlassen.
Zum Abschied bekomme ich noch zur weiteren Beruhigung einige Schmerztabletten verschrieben und die Versicherung von Holler:
„Ich habe nur wenig vom Knochen abgetragen, es wird nicht so arg mit den Schmerzen“.
Er und die Dahmer verabschieden sich mit Handschlag.
Ich bringe nur ein verquältes:
„In der Zukunft viel Erfolg“ für die Dahmer heraus, dabei wären mir nachher so gute Sprüche eingefallen. Andere haben die originellen Gags immer zur richtigen Gelegenheit parat, ich immer nachher!
Das mit den Schmerzen, da hatte der Holler recht. Die waren nicht so arg. Und dass eine Naht in der Wange sitzt ist nicht so schlimm. Von außen sieht man es nicht und die Fäden werden sowieso nach einer Woche wieder gezogen. Nur, dass das Ganze am zweiten Januar passierte, das beschäftigt mich.
„Das Jahr fängt ja gut an!“
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

spannend und amüsant. bei besserer gliederung hätte man noch mehr lesevergnügen. und die tippfehler sollten raus.
ganz lieb grüßt
 

Zefira

Mitglied
Splattergeschichten gehören eigentlich ins Horrorforum ;)

Mitten im Text (während des Gesprächs mit Frau Dahmer - ist die Namensgleichheit mit dem Serienmörder Jeffrey Dahmer Zufall?!) ) wechselt die Zeit von Präsens in Imperfekt, ohne erkennbaren Grund. Bleibe lieber durchgehend im Präsens, das paßt gut zu der minutiösen Erzählweise.
 

mara

Mitglied
Hast Recht, Zefira, das ist wirklich der reinste Horror. *grusel* Weiß auch nicht, warum mir auf einmal alles weh tut und ich so ein flaues Gefühl im Magen habe. Eine grausam exakte Schilderung, an der mich eingentlich nur die ersten zwei Sätze gestört haben. Weglassen? Und irgendwie würde ich gern noch wissen, was aus dem armen Spastiker und seiner Mutter geworden ist...
 

casagrande

Mitglied
Zefira: Vielen Dank für die Anregung, habe den Text entsprechend verbessert. Aber stelle ihn deswegen nicht neu ins Netz.
Mara: Was aus dem Spastiker geworden ist habe ich absichtlich offen gelassen, wollte nicht zwei Geschichten verfolgen. Das wäre dann doch zu lange geworden.Die 2 ersten sätze sind weg!
Fammarion: Die Tippfehler sind raus, aber, wie schon oben gesagt, nicht neu installiert.
 

Andrea

Mitglied
Es ist schade, daß du die verbesserte Version nicht reinstellst (du weißt schon, daß du dafür kein neues Thema aufmachen mußt, sondern es mit über „edit“ ändern kannst, oder?) Mein Leseeindruck deckt sich so ziemlich mit dem bereits Gesagten – äh: Geschriebenem, und da fände ich es doch nett, die neue Fassung zu lesen. Gerade eine neue Gliederung würde die Geschichte denen, die vielleicht später erst auf sie stoßen, den Lesegenuß noch erhöhen. Also gib deiner Tastatur einen Schubs und sieh es als Service für die Lesenden! ;)
 

casagrande

Mitglied
Andrea

Habe einige Deiner Anregungen in den Text aufgenommen und entsprechend den verbesserten Text hier hinein gestzt. Nochmals danke!
Casagrande
 



 
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