die achse weiß alles (hexameter)

5,00 Stern(e) 2 Bewertungen
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
die achse weiß alles


muster lege ich über einander – geklöppelte spitze
durch deren tiefen bohr ich kanäle ins mark der substanzen
rattatta rattatta ratten verraten die heimlichen gänge

quieken und spritzen davon vor dem rattern des hammer kollegen
in alle poren des schwamm labyrinths in dem daidalos kerker
hätt ich das knäuel der königin nicht mich dem weg einzubinden

wo mein gedächtnis nicht mein bewusstsein nimmer nicht hinreicht
blätterte bild ich um bild auseinander verblätterte bilder
kennte die hohl wiederholende höhlung der hallen kaum wieder

flatterte blatt ich um blatt neue seiten im fliegenden wechsel
käm mit dem lesen kaum nach deinem schreiben der zeilen schon garnicht
packte mich panik da riss ich die schnur und ich zög mich nach drauszen

flög vom vulkan aus gespuckt als der rote drachen in flaggen
über die köpfe gepanzerter räuber raupen nach norden
in den polarstern – und käm asymptotisch dann wieder von süden
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
G

Gelöschtes Mitglied 16867

Gast
ok

Hast Du das schon der Mutti vorgetragen. lieber Mondschein?
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Aber Vater und Mutter sind lange tot
Es kennt mich dort keiner mehr
 
S

shoshin

Gast
Lieber Hansz,

Dein Sprachzentrum ist für jemanden, der so einfach gestrickt ist wie ich, etwas ganz Erstaunliches. Wie bei allen deinen Gedichten verstehe ich erst einmal gar nichts; außer hie und da erreicht etwas mein einfältiges, langsames Hirn, das ich mit Bekanntem verknüpfen kann, dann verliere ich wieder den Faden.

Der rasante Hexa (vermutlich liegt es an dem Übewiegen von Dreifüßern - das müsste ich aber noch genauer analysieren), den die fehlenden Satzzeichen noch beschleunigen - dieses "rattatta rattatta ratten ... " im V3 erscheint mir wie eine Ansage dieser Raserei (?). Die Binnenreimerei (die nicht zum Hexa gehört) lenkt noch dazu vom Inhalt ab.

Also dann versuche ich mir einmal langsam Vers für Vers zu erschließen, ich bin schon gespannt, was dabei herauskommt:

die achse weiß alles
Den Titel versuche ich dann später zu entschlüsseln.

muster lege ich über einander – // geklöppelte spitze
Handarbeit - Spitze übereinanderlegen, wozu? ...

durch deren tiefen bohr ich kanäle ins mark der substanzen
bei Spitze, auch wenn es mehrere Schichten sind, bleiben Löcher; da sind geklöppelte Spitzenschichten, irgendwas wird dort hindurchgeführt und damit dann weiter in irgendwelche "Substanzen" gebohrt, die ein "Mark" haben.

Mark könnte etwas Wertvollem sein, das die "Substanzen" bergen.

Keine Ahnung ...

rattatta rattatta ratten verraten die heimlichen gänge
Ratten, ein Maschinengewehr, oder ist es eben bloß die Ansage der "Raserei" wie
schon oben gesagt. Also die "Substanzen" haben nicht nur ein "Mark" sondern es wurde bereits von jemand anderen darin gebohrt, es blieben "heimliche Gänge", mal schauen, ob dieses "heimlich" eine besondere Bedeutung hat ...

quieken und spritzen davon vor dem rattern des hammer kollegen
Die Ratten fliehen vor dem Bohrhammer, den der Heimwerker als seinen "Kollegen" bezeichnet? :)

in alle poren des schwamm labyrinths in dem daidalos kerker
Ein Schwammlabyrinth - die Substanz ist ein Schwamm?

"daidalos kerker": sollte da irgendeine Bestie
eingeschlossen sein?

hätt ich das knäuel der königin nicht mich dem weg einzubinden
alles klar - ohne den Faden kommt man nicht mehr raus - ist das LI nun die Bestie selbst oder ihr Bezwinger, vermutlich beides ...

wo mein gedächtnis nicht mein bewußtsein nimmer nicht hinreicht
blätterte bild ich um bild auseinander verblätterte bilder
kennte die hohl wiederholende höhlung der hallen kaum wieder
mhm - die Königin hat den Faden - führt das LI

flatterte blatt ich um blatt neue seiten im fliegenden wechsel
käm mit dem lesen kaum nach deinem schreiben der zeilen schon garnicht
packte mich panik da riß ich die schnur und ich zög mich nach draußen
das Schwammlabyrinth ist ein Schreiblabyrinth, das LD kommt etwas überraschend ins Bild. Ist das nun die Bestie, die im Labyrinth eingeschlossen ist, das schreibende LD?

Oder schreibt der Dichter ein Spiegelbild seiner Leser?

flög vom vulkan aus gespuckt als der rote drachen in flaggen
über die köpfe gepanzerter räuber raupen nach norden
in den polarstern – und käm asymptotisch dann wieder von süden
??? - keine Ahnung, was ich sagen soll.
"asymptotisch" ist der Bezug zum Titel, aber ...

Hm? ... hahaha! Mir scheint nicht das LI bohrt in "Substanzen", sondern Substanzen bohren sich in LIs Hirn. Anders ist mir dieser spiegelscherbenartige Spitzendeckerl-Horrortrip nicht zu erklären. Und am Ende dann auch noch der rote Drache! Na servas! Wie sehen "gepanzerte Räuber-Raupen" eigentlich aus?

War sehr unterhaltsam!

LG
shoshin
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Sehr gut, schön, Shoshin!
Oder schreibt der Dichter ein Spiegelbild seiner Leser?
Ja, Du nutzt schon den richtigen Schlüssel.

So schwer kann es nicht sein, denn Du folgst durchaus der Logik der Vorgaben.
Ja: Wenn man Spitzendeckchen übereinander legt, kann man von oben durch die Löcher schauen.
Eine durchlöcherte Substanz ist ein Schwamm.
Das Geratter ist das der Preßlufthämmer, die solche Löcher bohren.
Die Löcher in einem Schwamm bilden ein Labyrinth. Dieses Grundbild des Gedichts wird noch durch den Ariadnefaden kollateral bestätigt.
Nicht dem Minotaurus, sondern eher dem Theseus dient der Faden als Hilfe. Aber das ist egal, im Bild gehts jedenfalls hinein in das Labyrinth.
Das lyrische Ich ist ja immer in Autor und Leser aufgespalten, damit spielen die Verse hier: Verwirrung im Imaginations-, Bilder-, Metaphern- und Syntax-Labyrinth. Allerdings bis zur Flucht am Ende konsequent im Schwammlöcherlabyrinth durchgeführt.
Man kann die Spitzendecken als Metapher für die einzelnen Verse ansehen, im Gedicht gräbt, sucht, schlüpft man hindurch in die Tiefen, mit oder ohne Faden, bildbetrachtend oder bildverloren, -
bis dann die Reißleine gezogen wird, die Schnur, und das Ichdu herausfliegt aus den Tiefen wie durch einen Vulkan.

Ein wenig Imaginationskraft sei Dir schon erlaubt, einen roten Drachen aus dem Vulkan fliegen zu sehen, etwa so wie das Viech in Harry Potter Sieben, und unten würmeln gepanzerte Raupen wie auf einer Baustelle oder wie die Wachsoldaten im Auferstehungsbild von Mathis Nithart (Grünewald) im Isenheimer Altar.

Ja, diese Achse. Gemäß dem Schlußvers die Y-Achse des Koordinatensystems.
Ist ein Zitat: Jimi Hendrix, Axis Bold as Love, Refrain des (titelgebenden) Schlußliedes "just as the axis knows everything" - mit dem irrsinnig euphorischen Gitarrenjubel am Ende.

grusz, hansz
 
S

shoshin

Gast
die achse weiß alles


muster lege ich über einander – geklöppelte spitze
durch deren tiefen bohr ich kanäle ins mark der substanzen
rattatta rattatta ratten verraten die heimlichen gänge

quieken und spritzen davon vor dem rattern des hammer kollegen
in alle poren des schwamm labyrinths in dem daidalos kerker
hätt ich das knäuel der königin nicht mich dem weg einzubinden

wo mein gedächtnis nicht mein bewußtsein nimmer nicht hinreicht
blätterte bild ich um bild auseinander verblätterte bilder
kennte die hohl wiederholende höhlung der hallen kaum wieder

flatterte blatt ich um blatt neue seiten im fliegenden wechsel
käm mit dem lesen kaum nach deinem schreiben der zeilen schon garnicht
packte mich panik da riß ich die schnur und ich zög mich nach draußen

flög vom vulkan aus gespuckt als der rote drachen in flaggen
über die köpfe gepanzerter räuber raupen nach norden
in den polarstern – und käm asymptotisch dann wieder von süden

Lieber Hansz,

Ich schon wieder ;). Mich interessiert, wie du hier geschrieben hast. Was war die Initialzündung?

Ich habe beim Lesen das Gefühl, vom Spitzendeckerl über den Presslufthammer im rattenverseuchten Schwamm und die Mythologie, zum Hendrix Gitarrensoli gibt nichts Halt. Und die vielen verblätterten Blätter, wo ja nix drauf zu erkennen ist, oder zumindest nichts ins Bewusstsein vordringt, sind ja auch nur Fakes; Fakes von was, frag ich mich nur?

Der "Ausweg" ist sich freizusprengen. Aber ... auch das ist nur eine Illusion. Der rote Drache, die gepanzerten Raupen, alles nur Fiktion, Einbildung, Rausch ... Das "Gefängnis der Achse" bleibt ... hält diese unhaltbare Mixtur der aufgerufenen Bilder irgendwie zusammen. Asymptotisch?

Ach, ich habe keine Ahnung, ob ich dieses Werk als völligen Schrott oder genial einschätzen soll. Im Zweifel entscheide ich mich daher für "fast schon genial" ***breitgrins***.

Soweit ein paar weitere asymptotischen Gedanken zu deinem Werk.. und wenn ich so nachdenke, müssten das nicht die letzten sein - aber ich sprenge mich jetzt einfach weg aus diesem psychodelischen Trip hier, bevor ich den Verstand verliere ;)

LG
shoshin
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Nun, liebe Shoshin,

im Großen und Ganzen hast Du Dich schon sehr aufmerksam und "richtig" hindurchgefressen durch den Brotschaum dieses Sauerteigs.

Es gibt, wie Du gewiß bemerkt hast (auch wenn Du das Gegenteil behauptest, aber Du kannst ja ein wenig Distanz nehmen, um darauf zu reflektieren, dem von Dir bemerkten Leserspiegel gemäß), die Konsistenz der Metapher, die das gesamte Gedicht umspannt bzw. die Substanz dieses Liedes bildet: das Bild des Labyrinths.
Es steht - auch das geht durchs Ganze - für die Verse, die wie geologische oder archäologisch-stratigraphische Schichten nach unten durchwandert werden. Das leistet der Schreiber, das vollzieht der Leser nach.
Bei genauerer Betrachtung geht es in die Bewußtseinstiefen, ins Unterbewußte. Du bemerkst richtig die "Rausch"-Analogie. Ich pflege darauf hinzuweisen, daß Dionysos nicht eigentlich der Gott der Rauschmittel, sondern der Gott der Bewußtseinsvorgänge unterhalb der Aufwach-Schwelle ist, deshalb sind die Tragödien, die diese unterrgründigen Schichten in symbolischer Verkleidung (wie Freud es beschrieben hat) auf die wache Bühne bringen, diesem Gott gewidmet.

Und seit den Symbolisten des 19. und den Surrealisten des 20. Jahrhunderts, die sich oft mit Dada-Sprachspielen verkleidet haben, ist uns das alles auch nicht so fremd, wie Du tust. Es wäre ja ausgesprochen albern, Baudelaire, Trakl und Benn zu exkommunizieren.

Andererseits - wir Dichter sind exkommuniziert: die größte Buchhandlung hier in Görlitz (Thalia) hat in ihren großen Bücherwänden kein Segment für Lyrik. Auch keins für Dichtung im weiteren Sinne, etwa für Klassiker-Gesamtausgaben, Dramen oder ältere Literatur. Und als ich gestern eine Deutsch-Vertretungsstunde in einer 7. Klasse hielt, sagten die Schüler mir, sie bereiteten Vorträge über Kästner vor. Und wer hat die Gedichte zum Thema, frage ich. Keiner, antworteten die Lieben. Das fand ich schon sehr interessant.

Also atme tief durch und lies moderne Lyrik. Geh in die Buchhandlungen und fordere Lyrik-Präsentationen ein. Schreib an die Zeitungen und frage sie, warum sie keine Lyrik drucken, denn in allen Biographien von Dichtern vor der Mitte des 20. Jahrhunderts lesen wir, daß sie in Zeitungen veröffentlichen konnten.

Vor allem bin ich Dir dankbar, daß Du meine Gedichte liest, kommentierst und in Grunde sehr gut verstehst. Du spielst nur die Banausin, Du bist keine.

grusz, hansz
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Hansz,

man muss sich einlassen auf Deine Gedichte, die sprachliche Flut ist immer beeindruckend, durch die Form oft gebändigt, der Inhalt verbirgt sich in Sprach- und Sinnschichten, und oft muss ich einige Zeit darüber nachdenken, bis sich mir eine Deutung erschliesst, meine Lesart natürlich.

Das Bild der Achse - eine Grade -, die sich um das Labyrinth des Erdballs nach Norden startend und im Süden wiederkehrend - ein Zirkel um den Globus - ist zunächst irritierend für mich alten Naturwissenschaftler, wird aber dann ein gutes Bild für den hermeneutischen Zirkel, der sich in immer neuen Windungen nähernd Sinn erschliesst, und so am Ende alles weiß, oder zu wissen meint. Denn der wirkliche Sinn, wenn es ihn gibt, ist ein subjektiver.

Gerne gelesen und mich angepirscht in meinem Zirkel :)

Liebe Grüße

Herbert

PS: In Brügge gibt es ein sehr interessantes Klöppelmuseum, wo sich dank Videotraining die grundsätzlichen Knüpfarten erschliessen, und man meint, etwas davon zu verstehen, wie und was beim Klöppeln die Hände bewegen - wenn man den Fäden folgt... Passt also gut zu Deinem Gedicht :)
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Dankeschön, HerbertH,

für Dein Eingehen auf mein Gedicht.

Ich muß nachdenken:
Das Bild der Achse - eine Grade -, die sich um das Labyrinth des Erdballs nach Norden startend und im Süden wiederkehrend - ein Zirkel um den Globus - ist zunächst irritierend für mich alten Naturwissenschaftler, wird aber dann ein gutes Bild für den hermeneutischen Zirkel, der sich in immer neuen Windungen nähernd Sinn erschliesst, und so am Ende alles weiß, oder zu wissen meint. Denn der wirkliche Sinn, wenn es ihn gibt, ist ein subjektiver.
Die "Achse" liegt in der Mitte, ist die Mitte, von was auch immer. Da sie hier zitiert wird, wird mit dem Zitat das Rätsel ins Lied hineintransportiert, daß sie "alles weiß". Sie stand also beim zitierten Hendrix schon für die Bewußtseinsmitte, auf die wir üblicherweise als "Ich" bezugnehmen. Dem Liedtext von "Axis bold as love" entsprechend ist sie zugleich furchtlos-kühne Liebe, der Angelpunkt der schöpferischen Kraft, sowohl für die Musik als auch für den poetischen Schwung des Sängers.

Man kann das auf unseren Planeten beziehen, dann ist die Drehachse gemeint, die sich nach Norden in Richtung Polarstern fortsetzt, nach Süden in den entsprechenden Himmelssüdpol. Oder den Planeten selbst wieder als Metapher für den Menschen und sein Bewußtsein nehmen, warum auch nicht.

Das mit dem "hermeneutischen Zirkel" ist erwägenswert, aber es ist durchaus denkbar, daß gerade der durch folgende Bildelemente aufgebrochen wird:
a) Ariadnefaden: der entspricht eher der Logik, die einen die Schritte reflektieren läßt, die man ins Labyrinth hinein entschieden hat. Dieses Gedächtnis der Entscheidungsschritte hilft, es zu vermeiden, im Kreis zu laufen, ohne ans Ziel zu kommen;
b) ins Unendliche hinauszuschießen - hier: nach Norden - und das Unendliche durchschreitend von Süden her wiederzukehren hat eben nicht die Geschlossenheit und Enge des verzweifelten Wüstenwanderers, sondern eher die Offenheit des Unendlichen bei allumfassender Identität, die alle Verlorenheitsrisiken in Vertrauen aufhebt;
c) das Auferstehungsmotiv, zumindest aber die Selbstbefreiungsdynamik, die darin versteckt liegt. "Don't panic!", wie es im Hitchhikers guide to the galaxy heißt.

Ich habe bei "Spitze" in der Tat an die Brüsseler Klöppelspitze gedacht, die mir aus Belgien bekannt ist:
http://12koerbe.de/phosphoros/z-fische/spitzen.htm

grusz, hansz
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Danke für die hohen Wertungen,
Shoshin und HerbertH!
 



 
Oben Unten