die geschichte vom du

solastyear

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Unbestimmte Sehnsucht in blaugrauen Augen. Befindlich in einem bereits mit 20 Jahren eingefallenem Gesicht.

Zu zweit saßen wir in deinem Wagen, dem wahrscheinlich einzigen menschenleeren Platz, den wir kannten. Du liebtest diesen Platz, das wusste ich genau.
Einfach, weil es hier nichts außer uns gab. Und dieses Nichts schien dein inneres Niemandsland perfekt auszufüllen oder eine willkommene Abwechslung zum alltäglichen, kontrollierten Leben zu sein.
Das Radio lief. Aus den Boxen drang eines dieser Lieder, bei denen wir stundenlang nach Anfang und Ende suchten, obwohl keines der beiden existierte.
Ein im Stich gelassener Hauptteil suchte sich den Weg durch das mehr oder minder lauschende Ohr, kam im Gehirn an und war auch schon wieder weg. Schwups. Hier und da. Hin und weg. Kurz gesichtet (oder eben gehört), schon verschwunden.

Du sprachst - ja - sogar von Anfang bis Ende, nur so verdammt lange, dass man beides schnell vergaß.
Nach dem Ende folgte ein Anfang. Nach dem Anfang ein weiterer Hauptteil. Immer, immer und immer wieder.

Dennoch lauschte ich deinen durchdachten Sätzen. Lauschte deinen Veränderungsplänen, obgleich ich wusste, dass du sie niemals durchsetzen konntest, geschweige denn einen Versuch wagen würdest, dies zu tun.
Mir war nie wirklich bewusst, ob das überhaupt dein Ziel war.
Ob du des Redens, Veränderns oder der Beeinflussung deines Gegenübers, bis er an deiner Stelle endlich etwas änderte, wegen sprachst. Vielleicht bildete ich es mir auch nur im Nachhinein ein und du wusstest es selbst nicht mehr, da du es vor lauter Kommunikation längst vergessen hattest.
Oder verdrängtest. Es war damals schließlich nicht ungefährlich und üblich, seine Meinung frei zu äußern. Seine Meinung zu äußern, die einem kleinen Wasserstrom gleicht, der sich in einem großen Meer verliert. Der sich verliert, so wie irgendwann alles seinen Sinn verliert.

"Glaub' mir, so wird das klappen!", sagtest du, ehe du aus dem Auto stiegst, um frische Luft zu schnappen.
Klack. Bedächtig und - meiner eigenen Interpretation nach - verzweifelt schobst du die Wagentür zurück in die gewohnte, geschlossene Position.

Ich sah dir kurz nach und es wurde still im Wagen. Ein seltsames Gefühl, dein Niemandsland und die immer größer werdende Einsamkeit, die du sonst spüren musstest, einfach mal auf sich wirken zu lassen, bevor sie endgültig zerbrach:

Stimmen im Radio ("Die Mauer [..] nicht beseitigt [..]"). Laute Schritte. Uniformierte Männer. Fluchtversuch deinerseits. Chancenlos.

Sie zerrten dich in meine Richtung, erblickten mich und ich rannte. Rannte solange, bis ich mir von dem erreichten Ort Sicherheit versprach und ließ dich zurück. So, wie wir das gehörte Lied zurückließen ..
 



 
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