gefangen

Gabriele

Mitglied
Wie hatte ich gestern nur so ungeduldig und aggressiv zu Papa sein können?
Heute tat er mir wieder mal so schrecklich leid: wie er sich schämte, als ich ihm die Windel wechselte...wie er sich unsicher an mir festklammerte, als ich ihn zum Bett zurückführte... wie er dann mit herabgezogenen Mundwinkeln und geschlossenen Augen dalag.
Ich setzte mich zu ihm ans Bett und streichelte seine Hand, die schlaff auf der Bettdecke ruhte. Was mochte er wohl denken? Dachte er überhaupt irgendetwas? Tat ihm meine Berührung gut – oder erreichte sie ihn vielleicht gar nicht?
Doch ich durfte mich nicht so lange aufhalten, ich musste zurück in unsere Wohnung, wo meine Kleine allein mit ihrem Playmobil spielte und mich vielleicht bald vermissen würde. Zum Glück wusste sie ja, wo ich war, und konnte notfalls über den Gang zu mir herüberlaufen.
Aber so weit wollte ich es nicht kommen lassen.
Also: Schnell zurück ins Badezimmer, die gebrauchte Windel wegwerfen, Hände waschen, in die Küche laufen, Tee in Papas Schnabelbecher füllen und diesen neben sein Bett stellen...
Ich beugte mich über ihn. „Ich gehe jetzt!“ sagte ich leise neben seinem Ohr und gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange. Ein schwaches Brummen war die Antwort.
Ich löschte das Licht im Schlafzimmer und verließ die Wohnung. In etwa zwei Stunden würde ich noch einmal nach Papa sehen - wenn ich die Kleine zu Bett gebracht haben würde und mein Mann hoffentlich endlich zu Hause sein würde.
Besser wäre es ja gewesen, bei Papa in der Wohnung zu schlafen, falls er in der Nacht etwas brauchte. Aber mein Mann beklagte sich ohnehin schon ständig – zu Recht - darüber, dass ich ihn und unsere Tochter vernachlässigte.
Wohin würde all dies noch führen? Wie lange würde ich es noch durchstehen, zwei Haushalte zu führen, meine kleine Tochter zu betreuen, Papa zu pflegen und so ganz nebenbei noch halbtags arbeiten zu gehen? Wie konnte da noch Zeit für die Partnerschaft bleiben? Abends fiel ich Tag für Tag völlig erschöpft ins Bett. Ja, ich hatte ein schlechtes Gewissen meinem Mann gegenüber, denn ich schenkte ihm tatsächlich zuwenig Aufmerksamkeit. Aber dafür reichte nun mal meine Energie nicht aus. Außerdem hatte ich von Tag zu Tag stärker das Gefühl, nicht nur ihn zu vernachlässigen, sondern alles was ich tat, nicht gut genug zu schaffen, sei die Pflege meines Vaters, mein Job oder die Erziehung meiner Tochter.
Ich sah es voraus: Mein Mann würde mich irgendwann verlassen, und meinen Vater würde ich früher oder später doch noch in einem Pflegeheim unterbringen müssen.
Aber noch war es nicht so weit. Noch war ich gefangen, wurde gebraucht, versuchte zu funktionieren, so gut es ging.
Gebraucht werden – wie sehr hatte ich mir das einst gewünscht, als ich einsam in meiner kleinen Wohnung lebte und mich unnütz und überflüssig fühlte, während andere Männer und Frauen meines Alters sich in der Disco oder auf der Schipiste austobten oder – später dann - allmählich eine eigene Familie gründeten!
Nun hatte ich selbst meine Familie – eine, die mich langsam aber sicher erdrückte.
Nun fühlte ich mich gebraucht – verbraucht, aufgerieben zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen, die mich umgaben und die ich einst so sehr geliebt hatte.
 

memo

Mitglied
Gebraucht oder erdrückt. Hilfe gebend oder gefangen?
Woher die Kraft nehmen?
Ist es Egoismus oder Selbstschutz, nicht immer bereit zu sein?
Ich konnte deine Worte gut nachvollziehen.
Alles Liebe memo
 

Haremsdame

Mitglied
Liebe Gabriele

Deine Zeilen habe ich sehr gern gelesen. Zeigen sie doch, wie einen die Pflege eines geliebten Menschen zerreißt. Zu gerne wüsste ich, wie es Dir heute geht ...

Mit den besten Grüßen
von der Haremsdame
 
L

la noir

Gast
Hallo Gabriele,

Dein Text erinnert mich an Jemanden. Es ist nicht nur für den Ausführenden eine schwere Last, sondern auch für die Menschen um ihn herum, die mitansehen müssen, wie der geliebte Mensch an dieser Aufgabe zerbricht.
Einfach, weil er keine Kraft mehr hat.
Darum wünsche ich Dir und allen anderen denen es so geht, alles was man an Mitgefühl geben kann.

Liebe Grüße

a.
 

Gabriele

Mitglied
(nicht mehr) gefangen

Danke für dein Mitgefühl, la noir!
Zum Glück bin ich an dieser Aufgabe nicht zerbrochen, weil es mir gelungen ist, rechtzeitig eine Lösung zu finden, mit der alle einigermaßen (zumindest besser als vorher) leben konnten.
Ich wünsche jedem/jeder, der/die sich in einer ähnlichen Lage befindet, die Kraft und den Mut, sich rechtzeitig Hilfe von außen zu holen.
Alles Liebe
Gabriele
 



 
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