geheilt

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Anonym

Gast
Geheilt


Schwierig war es schon vorher. Als ich noch dachte, ich könnte ihm helfen, das, was ich für seine Schüchternheit hielt, zu überwinden.

Zuerst fand ich es ja eigentümlich - ein Mann in seinem Alter!

Doch wollte ich dieses Vorurteil bei mir nicht akzeptieren. Ich genoss unser Beisammensein und liebte unsere gemeinsamen Spaziergänge, die Neckereien... . Er konnte alles sein: humorvoll, tiefgründig und - sehr persönlich. Ich bewunderte seine Belesenheit und Wortgewandtheit, die Vielfältigkeit seiner Interessen sowie den Reichtum seiner Sprache.

Natürlich war mir inzwischen aufgefallen, dass er nach einigen Gläsern Bier keineswegs mehr zurückhaltend wirkte. Anderen ins Wort fiel, ordinär wurde und immer Recht haben wollte. An seinen "Verflossenen" kaum eine positive Eigenschaft sehen konnte.
Ich schrieb all das den Wirkungen des Alkohols zu und begann, sinnloserweise, mit ihm über über sein regelmässiges Trinken zu streiten. Was zur Folge hatte, dass er mich als "Temperenzlerin" beschimpfte. Am nächsten Tag konnte er sich (angeblich) nicht mehr an diese Auseinandersetzungen erinnern.

Wie ich seine Sauferei gehasst habe!

Dann kamen angenehmere Zeiten. Er war auf einmal immer nüchtern, wenn wir uns trafen. Wir stritten uns nicht mehr und ich dachte, er hätte womöglich meinetwegen beschlossen, weniger zu trinken. Oder sogar damit aufzuhören.
Nur seine eigenartige Reserviertheit mir gegenüber gefiel mir nicht so recht. Doch das schrieb ich der mangelnden "Auflockerung" durch den Alkohol zu.

Nach einer Weile begann ich mich zu wundern, weshalb er ständig entweder sein Geld "vergessen" hatte oder gerade nicht "flüssig" war. Er gestand mir mit Tränen in den Augen, er leide unter Spielsucht. Er schäme sich entsetzlich, ja, er habe schon am Anfang des Monats sein ganzes Geld "verzockt".

Ich zerfloss schier vor Mitleid. Obgleich mir jäh bewusst wurde, was der eigentliche Grund für seine Abstinenz war.

Also überlegte ich, wie ich ihm am besten helfen könnte, ohne seinen Stolz zu verletzen. Ich lud ihn häufig zum Frühstück oder zum Abendessen ein. Ihm Geld zu leihen war riskant - er bat auch nie darum. Nur im Supermarkt - wo er scheinbar gleichmütig all die Waren betrachtete, die er sich frühestens im kommenden Monat wieder würde leisten können - fragte er mich an der Kasse mit zerknirschtem Gesichtsausdruck, ob ich ihm vielleicht ein Päckchen Tabak kaufen würde?
Das rührte mich und ich schämte mich dafür, ihm nicht zuvorgekommen zu sein und es ihm angeboten zu haben, so wie ich ihn auch gefragt hatte, ob ihm Nahrungsmittel fehlten... .

In dieser Zeit schwankte sein Verhalten mir gegenüber zwischen Aggressivität und extremer, fast devoter Freundlichkeit. Ich schrieb es seiner Scham und seinem Gefühl der Demütigung zu. Jedes Wort musste ich sorgfältig prüfen, um nicht Wutausbrüche oder nicht enden wollende Selbstanklagen zu provozieren. Schande über mich: die Selbstanklagen gefielen mir besser als Wutausbrüche und Hasstiraden.

Seit Wochen liess er niemanden mehr in seine Wohnung. Mich auch nicht. Sie sei "zu vermüllt". Als ich eines Tages auf dem Heimweg ein dringendes Bedürfnis hatte und bei ihm klingelte, um zu fragen, ob ich vielleicht auf seine Toilette dürfe, erhielt ich zur Antwort: das sei "normalen Menschen nicht mehr zumutbar". Verblüfft und entsetzt stand ich vor der wieder zugeschlagenen Türe.

Später sass ich zu Hause und war traurig. Ich hatte Albträume, in denen ich mit ihm eingeschlossen war: in einer Ruine. Wir fanden den rettenden Weg nach draussen nicht.

Gemeinsame Unternehmungen gab es fortan kaum noch. Entweder sass er alleine in seiner Wohnung, oder er besuchte reihum die wenigen Freunde in für ihn erreichbarem Umkreis, um sich Geld zu leihen - "von den Idioten", wie er voller Selbsthass sagte - oder um "sich durchzufressen". Gelegentlich rief er mich betrunken von seinem Alkoholiker-Freund an: ob ich ihn abholen könne?
So auch eines Abends, an dem wir wieder einmal zum Essen verabredet waren. Mit einer Bierflasche in der Hand kam er mir auf der Strasse entgegen. Nach dem Essen machte er abfällige Bemerkungen über eine Bekannte, die ihm angeblich anvertraut hatte, sie sei von ihrem Vater als Jugendliche sexuell belästigt worden. Um sich interessant zu machen - so seine gehässige Interpretation. Auf meine Frage, weshalb er ihr denn nicht glauben wolle, antwortete er: weil sie "so etwas herumerzählen" würde.

Da riss mir der Geduldsfaden.

Auch mein Vater hatte sich mir einmal aufgedrängt; nach Jahren, in denen ich von ihm mindestens einmal in der Woche wegen nichtiger Anlässe mit einem Rohrstock verprügelt worden war. Er drängte mich rückwärts gegen einen Schrank, lächelte dabei ganz merkwürdig und stopfte schliesslich irgendwie seine Zunge zwischen meine Lippen. Mit einer Hand griff er an meine rechte Brust.
Plötzlich wandte er sich wieder ab. Ich rannte die Treppe hinauf in mein Zimmer, schamrot im Gesicht. Lange sass ich dort und wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, reagieren durfte.
Doch den Vorfall erwähnte keiner von uns jemals, er wiederholte sich auch nicht. Damals war ich zwölf.

Das erzählte ich ihm. Seinen Kommentar dazu - ob das denn wirklich so etwas Schlimmes sei? - hatte ich fast erwartet.

Wir sehen uns nur noch selten. Ab und zu sagt er mir scherzhaft, er müsse doch wohl mal zu einem "Klapsologen". Ich reagiere nicht darauf.

Er würde sonst nur aus Trotz noch länger damit warten... .
 

Ivy

Mitglied
Hallo Anonymous!

Hm - ?
Ich weiß, dass es schwer und mehr als das ist, über bestimmte Themen zu schreiben...

Aber irgendwie habe ich mit Deinem Text Probleme...

"Geheilt"...
Wer?
Der Vater von der Alkohol- und/ oder Spielsucht?
Oder Dein weiblicher Hauptcharakter von der Hilflosigkeit, diesem "der eigenen Erinnerung nicht trauen" und dem Schuldgefühl???

Warum taucht ein weiterer männlicher Charakter (der "Freund" in der Ruine)auf???
Er trägt (meiner Meinung!) nach weder zum Fortschreiten der Geschichte, noch zur Charakterisierung deiner Hauptfigur noch als wirklicher Gegenpol zum Täter/Vater im Text bei...

Fragen über Fragen...
Aber sie sind mir bei der Auseinandersetzung mit Deinem Text (jetzt fast 30 Minuten) spontan durch den Kopf gegangen...

Nicht böse sein..

lol
IVY
 

Anonym

Gast
Liebe Ivy!

Ich bin erstaunt über die Missverständlichkeit meines Textes - hier also erst einmal die Antworten auf Deine "Fragen über Fragen":
Die "dramatis personae" sind nur drei: der "weibliche Hauptcharakter"(also ich), mein Freund oder Gegenstand meiner Verliebtheitsgefühle und schliesslich, in der Erinnerung, mein Vater.
Der "Freund in der Ruine" ist derjenige, von dem die ganze Zeit die Rede war. Ich habe ihn jetzt zu "ihm" umgetauft, um der Verwirrung abzuhelfen.

"Geheilt" ist die weibliche Hauptperson (also ich) von dem Zwang, sich Männer auszusuchen, um an ihnen leiden zu können. Es gibt viele Spielarten dieses Phänomens, heissen sie nun Co-Abhängigkeit, Masochismus oder wie auch immer.. .

Mein Vater ist schon seit 13 Jahren tot. (Wenn Du irrtümlich dachtest, der ganze Text handle von ihm, hast Du insofern recht, als er dieses "Leid-Motiv" mit verschuldet hat).

Böse bin ich natürlich nicht. Das ist eine sehr persönliche Geschichte - ich kann nicht erwarten, dass jeder sie spontan versteht.
Ich danke Dir aber für Deine Fragen und die 30 Minuten ;).

Lieber Gruss
A.
 

Ivy

Mitglied
Hallo A.

Danke für die Antworten...

Nun habe ich denText daraufhin nochmal gelesen - und erkenne einen Fehler, den auch ich oft mache und der mir (auch immer wieder vorgeworfen wird).
DIE NAMEN...

Mir fällt es oft schwer, Personen Namen zu geben, die weder den Text zu sehr "amerikanisieren" oder "internationalisieren" um das mal weiter zu fassen, aber "typisch deutsche" Namen wie Horst, Peter, Michael, Thomas, Michaela, Manuela, Sabine etc gefallen mir meist nicht, oder sind, bei "therapeutischen Texten" zu nah an der Realität---

Nur dieses Spiel mit ER und SIE führt bei mehr als zwei Figuren eben leider doch schon häufiger zu Verwirrungen...
(insofern DANKE! Hiermit habe auch ich etwas über Mein Schreiben gelernt! Und das ist jetzt weder ironisch oder sarkastisch gemeint... ein ehrliches, von Herzen kommendes DANKE!)
Mit deiner Antwort - jawoll! heureka! - kann ich den Text wirklich so lesen, dass viele ER-Parts nicht auf den Vater, sondern auf den Freund passen (war mir bei den ersten Durchgängen völlig unklar, da war der ER immer = Vater und den Freund hab´ich persönlich nur in der "Traumsequenz" gefunden...).
Tschuldige den Fehler und die Kritik...

lol
IVY
 

Anonym

Gast
Liebe Ivy!

Du hast wirklich recht. Aber ich wollte "ihm" keinen Namen geben, weil ich jeden anderen als seinen eigenen Namen unpassend gefunden hätte.
Auch ist dies hier eigentlich, wie man an den ausbleibenden Bewertungen erkennen kann, kein Text für die Lupe. Ich wollte mir etwas "von der Seele schreiben" und sehen, ob ich das überhaupt in Worte fassen kann, was ich erlebt habe... .
Ich danke Dir noch einmal - für Deine sachliche Auseinandersetzung mit meinem Machwerk!

:) Gruss,
A.
 

Ivy

Mitglied
Hallo A.!

Das mit dem Namen kann ich gut verstehen, aber mir ist eben noch etwas eingefallen, was Lesern den Text vereinfachen könnte (wenn Du magst)....
Was wäre, wenn (nur für den Text) aus dem Freund die Freundin würde? Dann hättest Du ein "sie" statt ein weiteres "er".
Und schon wären Missdeutungen, wie sie mir passiert sind, behoben.

Liebe Grüße
Ivy
 
D

Denschie

Gast
hallo a,
ich hatte letztens schon einmal geantwortet und
den kommentar dann doch wieder gelöscht.
es ist tatsächlich ein schwer zu beurteilender text,
weil man diesen aspekt des "von der seele schreiben"
sehr deutlich bemerkt. für meinen geschmack zu deutlich,
als dass ich nicht das gefühl hätte, mit jeglicher
kritik dich als autorin, die diese geschichte so
empfunden hat, zu verletzen.
liebe grüße,
denschie
 



 
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