haarrisse

bassimax

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Haarrisse


Peter ist dabei das letzte Geschenk zu verpacken. Er sitzt auf dem Boden und bindet ein orangefarbenes Geschenkband um das kleine Päckchen. Er bemüht sich, und das ist nicht ganz einfach, seinen sonst eher energiegeladenen Körper zur Ruhe zu zwingen. Das Päckchen enthält eine kleine, tönerne Schale. Er hat sie selbst gemacht, im Bastelunterricht. Sie sieht etwas schlampig und unregelmäßig aus. Geduld ist nicht seine Stärke. Die Schale ist für den Vater bestimmt, der sie als Aschenbecher benutzen soll.
Das andere Geschenk ist für die Mutter. Es enthält eine kleine Flasche Parfum. Er hat sie im Drogeriemarkt gestohlen.
Peter ist sieben Jahre alt. Er hat dunkles Haar, dunkle Augen und
ist von eher schmächtiger Gestalt.
Sein Bruder Markus sitzt etwas weiter weg auf dem Boden. Er spielt
mit Lego. Legospielen ist seine Lieblingsbeschäftigung. Tief in sich versunken baut er oft stundenlang an seinen Phantasiewelten, unter
Einbeziehung kleiner Soldaten. Gab es dazu warmen Kakao und lief eine Märchenkassette im Hintergrund, so war das für ihn das Schönste. War er mal besonders beeindruckt von einem Legobauwerk, so ging er hinunter zum Vater, der dann ins Kinderzimmer kommen musste, um sein Werk zu loben.
Zur Mutter ging er nicht so gern, denn das mochte dann sein Bruder
Peter nicht. Und der war stärker. Heimliche Repressalien wären zu befürchten gewesen.
Markus ist erst fünf und dementsprechend kleiner. Er ist blond und hat blaue Augen.
Markus hat seine Geschenke schon fertig. Wie immer sind es Bilder, die er mit Tusche gemalt hat. Verpackt in zwei großen Umschlägen, die er vom Vater erbeten hatte. Markus wollte dem Vater nicht sagen wofür er die Umschläge brauchte, er wollte die Überraschung nicht verderben. Die Umschläge hatte er auch noch bemalt.
Und jetzt spielt er Lego. Aber nicht so vertieft wie sonst. Er ist aufgeregt. Denn heute ist Weihnachten.
Die Herzen der beiden Kinder sind erfüllt mit Freude, Spannung und Hoffnung. Weihnachten ist der absolute Höhepunkt des Jahres.
Und das nicht nur wegen des Weihnachtsfests an sich. Eine ganze Reihe anderer, bemerkenswerter Ereignisse waren mit Weihnachten verbunden: Der Vater war tagelang zu Hause, der Große musste nicht
zur Schule. Und kurz nach dem Fest erfolgte die magische Silvester-
nacht, zu der man um Mitternacht geweckt wurde und Feuerwerke sah. Und nicht zuletzt die Tage, die man mit dem noch "frischem" Spielzeug verbrachte und die aufs Angenehmste die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester überbrückten. Deswegen war Weihnachten durch nichts zu überbieten.

Die Familie lebt in einem schönen Haus am Stadtrand. Es war erst vor drei Jahren bezogen worden. Vor dem Haus, gleich über der Straße, liegen Felder, die jetzt im Winter verschneit sind. Einige hundert Meter freies Feld. Und dann folgt ein Wald, den zu betreten den Kindern streng verboten ist. Denn erstens haben Kinder in diesem Alter sowieso nicht in den Wald zu gehen, und zweitens läuft eine Bahnstrecke am Wald entlang.
Die Mutter achtet sehr darauf, dass dieses Verbot eingehalten wird und sie ist immer darum bemüht zu wissen wo die beiden Jungen sind. Was leider nicht immer gelingt: Einmal war Peter einen ganzen Tag verschwunden. Wie sich später herausstellte hatte er die Schule geschwänzt, und den Vormittag stattdessen mit älteren "Rabauken" in der Stadt verbracht, um allerhand Unsinn anzustellen. Als ein Nachbarskind an der Tür klingelte um dem vermeintlich erkrankten die Hausaufgaben zu bringen, rief das große Bestürzung bei der Mutter hervor. Sie telefonierte überall herum und informierte den Vater im Büro. Der kam sofort. Zwar waren sie in großer Sorge, wollten aber dennoch nicht so recht an ein Verbrechen, oder an einen Unfall glauben. Eher glaubte man es mit einer von Peters Mutwilligkeiten zu tun zu haben, die gelegentlich so unberechenbar aus ihm hervorbrachen.
Der Vater fand ihn damals schließlich im Wald, wo er einfach stumm auf einem umgestürzten Baum saß. Neben ihm lag ein Kinderfahrrad, das ihm nicht gehörte. Es wurde daraufhin viel mit ihm geschimpft, aber richtig bestraft wurde er nicht.
Markus war an diesem Tag besonders brav gewesen. Er erledigte kleine Pflichten im Haushalt und verhielt sich ansonsten still. Was aber unter dem Eindruck der großen Sorgen, die man sich um Peter machte, keine größere Beachtung fand.

Heute morgen war der Vater wieder im Wald. Er hatte sich in den Kopf gesetzt den Weihnachtsbaum diesmal selbst zu schlagen. In einer
Schonung ganz in der Nähe war das gegen eine geringe Gebühr möglich. Seine Fuchsschwanzsäge hatte er dazu aus dem Schuppen geholt. Die Kinder durften trotz aller Bettelei nicht mitkommen. Schließlich sollten sie vom Anblick des fertig geschmückten Baumes überrascht werden. Deshalb durften sie auch ab dem frühen Nachmittag das Wohnzimmer nicht mehr betreten. Denn dann wurde dort der Baum geschmückt.

Das Fest ist ganz und gar auf die Kinder ausgerichtet. Es soll so schön sein wie nur möglich. Die Größe der Freude, welche die Eltern
auslösen wollen, soll einen Ausgleich bilden. Einen Ausgleich für eine
sehr schwierige Zeit, die nun mittlerweile schon zwei Jahre zurück liegt.
Die Erinnerungen an diese Zeit sind bei Markus schon sehr stark verblasst. Es ist nicht mehr als ein diffuses Gefühl geblieben, ein dunkles. Peter weiß noch, dass der Vater damals oft sehr spät nach Hause kam. Dass viel geschrien wurde, der Vater dann tagelang nicht zu sehen war. Und daran, dass ein Krankenwagen kam, in den die Mutter auf einer Bahre geschoben wurde. Sie hatte Verbände an den Unterarmen. Danach hatte die Oma im Haus gewohnt, bis die Mutter wiederkam. Dann war wieder alles in Ordnung gewesen, und auch der Vater kam wie gewohnt.
Da die Eltern durchaus wussten, dass diese Krisenzeit auch für die Kinder recht erschütternd war, waren sie sehr bemüht um die Jungen.
Sie wollten nicht, dass die damaligen Dramen einen bleibenden, negativen Eindruck in den Kinderseelen hinterließen.
Und deshalb wurde sich zu Weihnachten die allergrößte Mühe gegeben und bewusst darauf verzichtet aus kleinen Unstimmigkeiten einen Streit entstehen zu lassen. Besonders wegen Peter. Seit damals war er anders, irgendwie dunkler.

Der Vater kommt wieder, mit dem Christbaum auf dem Wagendach.
Die Kinder haben ihn kommen hören und beobachten ihn aus dem
Fenster des Kinderzimmers, das im 1. Stock liegt. Ihr Vater ist recht
groß und kräftig. Sich konspirativ umblickend nimmt er die Tanne vom Wagendach um mit ihr hinter dem Haus zu verschwinden. Die Jungs lachen, da er nicht weiß, dass er längst entdeckt ist. Durch
den Hintereingang trägt er den Baum ins Wohnzimmer.
Es ist jetzt erst zwei Uhr nachmittags und traditionell wird erst um Punkt 18.00 Uhr zur Einbescherung gerufen.
Die vorfreudige Anspannung der Kinder findet seinen Ausdruck in
purer Albernheit. Übermütig vollführen sie Ringkämpfe, lachend und
wild. Tut einer dem anderen dabei weh, so ist das an diesem Tag vollkommen gleichgültig. Denn wie klein ist ein solcher Schmerz
im Vergleich zum freundlichen Giganten "Weihnachten"!
Jetzt haben sie die Idee nach unten zu schleichen, um einen verbotenen Blick durch das Schlüsselloch der Wohnzimmertür zu erheischen. Eigentlich müssen sie gar nicht schleichen, denn sie können sich frei im Haus bewegen, nur eben ins Wohnzimmer dürfen sie nicht. Aber schleichen ist interessanter! Wer erwischt wird hat verloren! Unten angekommen müssen sie leider feststellen, dass trotz intensivster Anstrengung der Augenmuskulatur nichts zu erkennen ist: die Eltern haben von innen ein Handtuch über die Türklinke gehängt. Auch der Versuch das Handtuch durch Pusten durch das Schlüsselloch zu entfernen
scheitert.
Sie hören ein mysteriöses Rascheln aus dem verschlossenen Zimmer dringen. Der Vater hantiert wohl mit den Christbaumschmuckschachteln herum. Gleichermaßen aufgeregt wie vorsichtig klopfen sie leise an der heiligen Tür, um sich dann blitzartig hinter dem Garderobenschrank zu verstecken. Dieses Spiel wiederholen sie mehrmals. Bis plötzlich mit einem schnellen Ruck die Wohnzimmertür geöffnet wird! Erschrocken eilen die Jungen, schrille Schreie von sich gebend, in ihr Versteck. Der Vater steht in der Tür. Er schiebt seinen Unterkiefer vor und imitiert die dumpfe Stimme eines Riesen: "Wo sind die beiden Strolche?! Ich will sie fressen!" Peter und Markus drücken sich in ihrem kleinen Versteck aneinander. Sie sind aufs Angenehmste gegruselt. Der Vater weiß wo sie sich versteckt haben. Langsam und monsterartig geht er auf sie zu, tut so als ginge er vorbei und dreht sich abrupt zu ihnen um. "Aah! Jetzt hab' ich euch!" sagt er mit seiner Riesenstimme. Peter und Markus kreischen vor Schreck. Der Vater lacht. Und wird auf einmal still. Da sieht er sie sitzen, seine Beiden, mit vor Freude glänzenden Augen und lachenden Gesichtern. Er ist gerührt und spürt so stark wie selten seine Liebe zu ihnen. Er kniet sich hin, nimmt das Gesicht von Peter in seine Hände und gibt ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Dann folgt Markus. Der Vater geht wieder in das Wohnzimmer und schließt leise die Tür.
Peter und Markus haben ein warmes Gefühl, blicken einander an und freuen sich. Doch diese besinnliche Art der Freude hält nicht lange an und weicht wieder blödelartigem Übermut.

Das nächste Ziel ihres Spiels gilt der Küche. Die Mutter macht dort
den Abwasch vom Mittagessen. Es hatte Fischstäbchen und Kar- toffelsalat gegeben, für die Kinder mit Ketchup. Zum Abendessen
gibt es traditionell einen wunderbaren Eintopf, der bereits am Vortag
zubereitet worden war. Jetzt beobachten die Jungen ihre Mutter durch die offene Tür und überlegen, welchen Streich sie spielen könnten.
Beide finden ihre Mutter sehr schön. Sie hat lange Haare und
ist recht groß. Sie finden die Mütter ihrer Freunde viel hässlicher.
Sie wollen versuchen unbemerkt unter den Küchentisch zu gelangen, um die Mutter dann plötzlich zu erschrecken. Die Küche ist im Landhausstil eingerichtet und sehr groß. Der Massivholztisch steht mitten im Raum. Auf allen Vieren nähern sie sich der offenen Tür. Die Mutter steht an der Spüle am Fenster. Sie hat ihnen den Rücken zugewandt. Vorsichtig rutschen sie über die Fliesen. Die wenigen Geräusche, die sie machen, werden vom Gedudel des Küchenradios überdeckt. Das letzte Stück eiliger kriechend schaffen sie es unentdeckt unter den Tisch zu gelangen. Sie grinsen einander frech an. Sie sehen die Beine der Mutter. Der Große greift plötzlich zu und sagt laut "Buh!" dazu. Die Mutter lacht und sagt:
"Ich hab' euch schon lange gesehen!"

Ja, das ist ein schöner Tag! Bereits jetzt, vor dem eigentlichen heiligen
Abend. Alle sind guter Stimmung.
Die Eltern, Christine und Stephan, freuen sich besonders über eines:
Peter und Markus sind heute ein ganz normales Brüderpaar. Sie haben Freude aneinander und scheinen gleichberechtigter zu sein als sonst. Denn für gewöhnlich achtete der Große mit einem gewissen Anflug von befremdlichem Sadismus darauf, das Markus möglichst wenig von der elterlichen Liebe und Aufmerksamkeit erhielt. Zumindest weniger als er.
Niemals hätte er geduldet den Kleinen "hochkommen" zu lassen. Denn Peter wollte alles für sich. Seit damals. Und wurde er eifersüchtig, so kam es vor, dass er einfach irgendein Spielzeug von Markus zerstörte. Je nach Stimmungslage genüsslich, mit einem feinen Grinsen im Gesicht, oder aber aggressiv darauf herumtrampelnd.
Er hatte nicht viel zu befürchten, wenn er so grausam mit seinem Bruder umging. Außer vielleicht der rituell wiederholten, energisch
vorgetragenen Aufforderung das in Zukunft zu unterlassen. Das aber
störte ihn kaum. Denn ihm war viel wichtiger seine Macht zu demonstrieren, die Rangordnung wieder herzustellen.
Viel eher als Unmut löste dieses Verhalten Sorge bei den Eltern aus.
Sorgen. Das war das Wort, das am häufigsten fiel wenn, abends im
elterlichen Schlafzimmer über ihn gesprochen wurde. Und dazu bot
er Anlass genug. So stahl er beispielsweise. Aus der Geldbörse der
Mutter, oder im Supermarkt, aber auch bei schwächeren Mitschülern.
Hinzu kamen seine katastrophalen schulischen Leistungen, die dieses Jahr wohl dazu führen würden dass er sitzenblieb. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Die Mutter versuchte sehr ihn bei den Hausaufgaben zu unterstützen. Versuchte seinen unbändigen Geist sacht auf das zu Erledigende hin zu konzentrieren. Das aber gelang selten. Seine Hausaufgaben endeten meistens in einer schlampigen Schmiererei. Manchmal auch in der wütenden Zerstörung des Heftes.

Es war als habe seine Seele seit damals, als die Familie zu zerbrechen drohte und das Leben der Mutter in Gefahr war, einen feinen Haarriss erhalten. Und daran gaben sich die Eltern schuld. Sie spürten, dass sich durch ihre damalige Krise irgendetwas in dem Jungen verändert hatte und machten sich schwere Vorwürfe.
Einer der Folgen dieser Vorwürfe war, das sie ihn nicht ernsthaft strafen wollten. Das galt besonders für Christine. Sie befürchteten ihn dadurch weiter zu verletzen. Die subtil gefühlte Ankündigung eines Unglücks weiter zu forcieren. Statt zu strafen, als er einmal seinem kleinen Bruder Urin aus einer Limonadenflasche zu trinken gab, wurden endlose Gespräche mit ihm geführt. Positiv und liebevoll versuchte man auf ihn einzuwirken. Wobei er sich tatsächlich oft verständig gab. Aber leider nur für wenige Stunden. Dennoch genoss er die Aufmerksamkeit, die ihm bei diesen Gesprächen zu Teil wurde. Denn Aufmerksamkeit zu erregen war sehr wichtig für ihn. Im Zentrum zu stehen, sicher zu stellen nicht übersehen zu werden.

So war es vorgekommen, das die Eltern eines Sonntagnachmittags zusammen mit Markus im Wohnzimmer "Mensch ärgere dich nicht"
spielten. Man war gut gelaunt, entspannt und ein bisschen albern. Peter
war bei einem Freund und erschien erst eine halbe Stunde nachdem
das Spiel, der Familiennachmittag, begonnen hatte. Er betrat den
Raum. Und sah eine glückliche Familie. Markus bemerkte als erster
das sein Bruder gekommen war. Sein Nacken verkrampfte sich. Er wusste, es würde nicht gut gehen, das er hier mit seinen Eltern im
Glück saß. Verstohlen blickte er auf das Spielfeld, schuldbewusst dem Blick des Bruders ausweichend.
"Grüß dich Schatz!" sagte die Mutter.
"Willst du mitspielen?" fragte der Vater.
Die Atmosphäre im Raum hatte sich verändert. Unbefangenes Bei-
sammensein war einer Anspannung gewichen. Man tat so, als sei alles
in Ordnung, als sei man eine ganz normale Familie. Indem man ganz normale Dinge sagte, eine liebevolle Begrüßung und eine Einladung zum Spiel. In der Hoffnung diese Normalität würde sich in Form von
normalem Verhalten auf Peter übertragen. In Wahrheit jedoch fühlten sich alle ertappt. Ertappt dabei ihn übergangen zu haben. Und genau
das war es, was die destruktivsten Energien in ihm freisetzen konnte.
Peter stand im Raum, stumm die Szene beobachtend. Er setzte sein
typisches, feines Grinsen auf. Ein machtbewusstes, zynische Grinsen. Das ließ nichts Gutes ahnen. Es war als wolle er sagen:
"So habt ihr euch das also gedacht. Einfach mal spielen, ohne an mich
zu denken!" Wortlos drehte er sich um und verließ den Raum. Man blickte einander erwartungsvoll an. Was würde passieren?
Markus war mit dem würfeln an der Reihe. Was er lustlos tat, sich zurücklehnte und seine Kegel nicht setzte. 'Es hat ja doch keinen Sinn!' dachte er. Der Vater blickte plötzlich auf, warf seinen Kopf in
den Nacken und schnüffelte. "Da riecht es doch nach Verkokeltem!"
sagte er. Er erhob sich und folgte dem Geruch, der seinen Ursprung im
Garten hatte, während Christine in der Küche eine Gießkanne mit Wasser füllte. Stephan fand seinen Sohn auf dem Rasen sitzend. Er hielt ein Feuerzeug in Händen und versuchte eine bereits brennende "King Kong" Figur aus Vollkautschuk weiter anzufachen. Flockiger,
schwarzer Qualm stieg vom Spielzeug auf. Stephan hatte es ihm vor zwei Tagen aus der Stadt mitgebracht. Als Belohnung für eine relativ gute Note, eine vier, die er im Rechnen erhalten hatte. Die Präsenz seines Vaters störte Peter in keinster Weise bei seinem Tun.
Die Mutter kam mit der Gießkanne und löschte den Brand. Es wurde
kein Wort gesagt. Man war eher resigniert, sah den Ausflug in die Normalität als gescheitert an. Er ließ nicht zu, dass man Gras über die Sache wachsen ließ. Man sollte es sich immer wieder ansehen.

Nach solchen Ereignissen warf Christine ihrem Mann wieder und wieder vor, dass er die Hauptschuld an allem trage. Das er es war, der zu einer anderen Frau wollte, dass er es war, der aus Gründen der Triebhaftigkeit das Glück der ganzen Familie aufs Spiel gesetzt habe. Er sei es gewesen, der sie fast in den Selbstmord getrieben habe. Und sei somit auch für die Wandlung seines Sohnes verantwortlich. Nur zaghaft wehrte er sich dann, unterstellte ihr, dass auch sie rücksichtslos gewesen sei, und nicht an die Kinder gedacht habe, als sie versuchte ihrem Leben auf so dramatische Art ein Ende zu setzen.
Aber insgeheim gab er ihr recht. Er fühlte sich schuldig. Fast stigmatisiert. Und das hatte dazu geführt, dass er sehr schlechte Karten innerhalb der Beziehung hatte. Dass er in wichtigen Fragen nur allzu oft klein bei gab. Denn den Schlag der "Du-bist-an-allem-Schuld"-Keule
konnte er kaum ertragen.
Er war kein glücklicher Ehemann, kein glücklicher Familienvater. Und neidvoll blickte er auf Kollegen und Freunde bei denen es um einiges normaler zuging. Gelegentlich hatte er Fluchtgedanken. Träumte davon einer jener Männer zu sein, die zum Zigarettenautomaten gingen und nie wieder kamen. Aber das war nur gelegentlich der Fall. Denn er liebte seine Söhne. Und auf eine gewisse Art auch Christine. Obwohl sie seit der Geburt des letzten Kindes scheinbar keine sexuellen Bedürfnisse mehr hatte. Und darunter litt er manchmal qualvoll. Nur selten hatten sie Sex. Roboterartig und leidenschaftslos wurde ihm dieses Tun gewährt. Besonders wenn er ernsthaft schlecht gelaunt war.

Das Verhältnis zu seinem Ältesten war befangen zu nennen. Er ver-
stand ihn einfach nicht. Er konnte kaum begreifen , dass diese wenigen
Wochen der Krise noch immer so dauerhaft und fatal auf seinen Sohn
einwirkten. Und auch nicht, dass alle Versuche seinen Geist wieder zu erhellen einfach abprallten. Vollkommen wirkungslos verpufften.
Was wollte er eigentlich?

Einmal besuchte er seine Söhne im Kinderzimmer. Er öffnete die Tür und sah wie Peter auf dem Kleinen saß, ihn an den Händen festhielt und eindringlich zu ihm sagte: "Das ist meine Mutter!" Worauf Markus versuchte sich zu befreien, was aber nicht gelang und weshalb er zu weinen begann. Jetzt reichte es dem Vater.
"Peter!" brüllte er. "Lass deinen Bruder los!"
Er ging auf Peter zu, fasste ihn am Ohr und zog ihn hoch.
"Das sag' ich dir, mein Freund, wenn du das noch mal machst, leg' ich dich übers Knie!" Jetzt war es an Peter zu weinen. Und das kannte man nicht vom ihm, denn er weinte nie. Markus war perplex. So etwas
hatte er noch nicht erlebt. Zwar wunderte er sich, dass der Vater das durfte, aber er fühlte sich wohl. Geborgen.
Die Mutter, vom Gebrüll alarmiert, betrat eilig den Raum, und sah:
Ihr Mann brüllte Peter an und hielt ihn am Ohr. Mit beiden Händen stieß sie ihn wütend von seinem Sohn.
"Du tust ihm nicht mehr weh!" schrie sie. "Du hast genug angerichtet!"
Stephan war noch erregt, atmete schwer. Dann sagte er leise:
"Ach, lasst mich doch in Ruhe." Und verließ den Raum.
Christine ging zu Peter und nahm in tröstend in die Arme.
"Ich pass' schon auf dich auf mein Kleiner. Dir tut niemand mehr weh!" Peter wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und fand zurück zu seinem Lächeln.
Marcus fühlte sich nicht sonderlich wohl in dieser Lage. Vielleicht
würde die Situation kippen und er der Schuld an diesem Streit bezichtigt.
Das Abendessen wurde dann in monotonem Schweigen eingenommen. Unterbrochen nur von feindseligen Blicken der Mutter auf den Vater.

Durch den Vorfall im Kinderzimmer war Peters Macht weiter gewach- sen. Die Macht sich noch zügelloser auszuleben. Denn jetzt sah er sich offiziell als unantastbar an.
Ironischerweise war oft genug Christine die Leidtragende, der durch
sie noch weiter forcierten Hemmungslosigkeit in Peters Wesen.
Peter hatte von ihr zwei Mark verlangt, weil er sich zwei ganze Schokoladen kaufen wollte. Das wurde ihm verweigert, und darauf hingewiesen, dass er sich seinen Magen verderben könne, was schmerzhaft sei. Er aber ließ nicht locker, und schlug seiner Mutter schließlich auf den Arm. Sie weinte, wehrte sich aber nicht.

Am schwierigsten jedoch war diese Situation für Markus. So hatte er sehr wohl gemerkt, dass seine Mutter ihn erst dann herzte oder kuschelte, nachdem ein kontrollierender Rundblick ergeben hatte, das Peter nicht in der nähe war. Vermeiden wollte sie dadurch, das der Grosse weiteren Schmerz in seiner merkwürdig durcheinander gebrachten Seele erfahren musste. Denn für beide Eltern stand fest: Das Böse an ihm ist nur Ausdruck von Schmerz.
Auch war klar, dass wenn einer der Eltern Kleinigkeiten für die Kinder mitbrachte, das größere oder etwas teurere Geschenk an das Sorgenkind ging.

Einmal jedoch hatte der große Bruder den Bogen überspannt. Damals war Markus auf dem Spielplatz, der sich ganz in der Nähe des
Hauses befand. Peter sah ihn dort auf dem Heimweg von der Schule im Sand spielen. Er war mit zwei Klassenkameraden unterwegs, die er auf seinen Bruder aufmerksam machte. Auf eine verächtliche Art, wie Markus an den Gesten erkannte. Die Worte verstand er nicht, da sie
zu weit abseits standen. Die drei kamen auf ihn zu. Markus spürte das
etwas nicht stimmt. Er verharrte, besorgt aufblickend, im Sand. Er dachte aber auch, das es so schlimm nicht werden könne, da sein Bruder ja dabei sei.
"Na, du Sack? Mal wieder fleißig?" sagte Peter.
Sie begannen damit seine Sandbauwerke, Tunnel und Hügel, zu zerstampfen. Markus rührte sich nicht. Er wusste, dass Widerstand ihn nur noch weiter anstacheln würde. Die drei bildeten einen Kreis um ihn. Dann fing Peter an ihn in den Hintern zu treten. Woraufhin sich die anderen beteiligten. Zu dritt traten sie zu. Nicht allzu fest, da es nicht darum ging große Schmerzen zuzufügen. Vielmehr darum jemanden zu quälen, seine Wehrlosigkeit zu genießen und sich zu amüsieren. Und das gelang. Markus konnte nicht glauben das Peter tatsächlich so weit gehen würde.
"Ich hab' doch gar nichts gemacht!" sagte er verunsichert.
Diese Äußerung jedoch veranlasste seinen Bruder wütend zu werden.
Er wollte sich von Markus keinen Fehler nachweisen lassen. Er holte zu einem kräftigen Tritt aus und traf ihn an der Schulter. Markus kippte auf die Seite. Die Jungen lachten hämisch und ließen von ihm ab. Peter ging nach Hause.
Markus lag im Sand und begann zu weinen. Er war traurig darüber dass allen gezeigt worden war, wie gering sein Bruder ihn achtete. Er schämte sich.
Er suchte seine Sandformen zusammen, das Sieb, den Eimer, stand auf und ging nach Hause. Auf dem Heimweg wurde er wütend. "Ich hab' doch gar nichts gemacht!" flüsterte er empört. Seine Wut wurde größer. Er sah zwar ein das Peter viel durfte, aber diesmal war es ihm zuviel. Seine Schritte wurden schneller. Schließlich lief er. Sein Sandspielzeug ließ er fallen, und noch schneller lief er, mit geballten Fäusten.
"Ich hab' doch gar nichts gemacht!" schrie er. Zuhause angekommen klingelte er Sturm, zwängte sich an der erstaunten Mutter vorbei und rannte, vor Wut mittlerweile heulend, in das Haus. Bereits von der Haustür aus hatte er gesehen, dass Peter im Wohnzimmer war. Er stürzte in den Raum, mit verweintem Gesicht und glühend vor Zorn. Peter grinste. Er fühlte sich sicher. Sie standen einander gegenüber. Markus bebte. Blickte in das über den entstandenen Schaden erfreute Gesicht seines Bruders. Angesichts der Unbeeindrucktheit des großen Bruders wollte Markus' Wut schon resignierend in sich zusammenfallen. Entlud sich stattdessen aber am nächstbesten Gegenstand. Den Wohnzimmerschrank. Markus riss die Klappe des Barfachs auf, griff wahllos Gläser und Flaschen und schmiss alles, vor Wut schreiend, auf den Boden. Bis er, plötzlich ermüdend, weinend vor dem Schrank zusammensank. Die Mutter, die dem Kleinen wegen seines erregten Zustandes gleich gefolgt war, wurde Zeuge dieses Ausbruchs. Sie ging zu Markus, packte ihn am Kragen und fragte den noch immer Aufgewühlten: "Was ist denn nur los mit dir!?" Als habe sie es mit einem Verrückten zu tun.
Sie brachte das Chaos im Wohnzimmer in Ordnung. Peter hatte den Raum verlassen. Markus saß auf der Lehne eines Sessels. Eisiges Schweigen. Er fühlte sich böse, schuldig. Er wartete darauf, dass die Mutter etwas Nettes sagte, darauf dass er nicht den Rest des Tages als
"böse" verbringen musste. Die Mutter hatte alles wieder eingeräumt. Zu Bruch gegangen war nichts. Sie wandte sich wieder Markus zu.
"Und eins sage ich dir: Noch so ein Kind halte ich nicht aus!" Sie blickte Markus ernst an, fixierend geradezu. Noch nie hatte seine Mutter ihn so angesehen.

Das Begriff "seelisch krank" fiel in letzter Zeit immer häufiger, wenn die Eltern sich über Peter unterhielten. Sie wollten der Unerträglichkeit der Situation einen Namen geben, das Dämonische benennen, klassifizieren. Dem Mysteriösen und Zerstörerischem durch eine ausgesprochene Diagnose ein sachliches Fundament geben, etwas
Klares

Natürlich gab es auch in dieser Familie eine gewisse Normalität. Ein fast reguläres Zusammenleben. Aber dieses war niemals ungetrübt. Immer, zu jeder Zeit, hing das Damoklesschwert Peters' unberechenbaren Geistes über allem. So konnte er mitten in der schönsten Harmonie eine plötzliche Idee haben. Die Idee dass er jetzt unbedingt eine neues Skateboard haben will. Obwohl er erst vor einigen Wochen ein neues erhalten hatte. Aber jetzt wollte er ein neues, ein ganz bestimmtes, das er irgendwo gesehen hatte. Nun wurden die üblichen Maßnahmen eingeleitet. Der Vater berichtete vom Wert des Geldes, davon wie lange er für ein Skateboard arbeiten müsse, und wies auf die Qualitäten des bereits vorhandenen hin. Die Mutter erzählte von armen Menschen die sich so etwas überhaupt nicht leisten konnten. Es wurde versucht zu beschwichtigen, auf den irgendwann kommenden Geburtstag hingewiesen. Dieser Widerstand
der Eltern machte ihn nur noch ärgerlicher. Er drohte damit das nötige Geld schon zusammenstehlen zu können, und die aktuellen Geldver-
stecke werde er schon finden. Am nächsten Tag weigerte er sich etwas zu essen. Die besorgte Mutter reagierte mit einem leider nur manchmal
wirksamen Mittel: Ein Sekundärgeschenk. Ein Geschenk das nicht den hohen Preis kostete wie das erwünschte Primärgeschenk. In diesem Fall war es ein Tachometer für das Fahrrad. Der Vater montierte den
Tacho bereits. Jetzt war die Frage: Würde er das Geschenk annehmen?
Er beäugte es neugierig, schien interessiert. Ja! Er nahm es an.
Nun galt es nur noch die folgenden Tage zu überstehen. Denn in solchen Fällen war es durchaus möglich das er sich plötzlich daran erinnerte, was er ursprünglich wollte und sich betrogen fühlte. Und sich dann erneut an seinem Wunsch festbiss. Um dieses mal mit anderen, wirksameren Mitteln vorzugehen. So war es vorgekommen das er in seiner Wut ins Wohnzimmer gegangen war und dort begann die Tapeten abzureißen. Bahn für Bahn. Die entsetzte Mutter wollte ihn davon abbringen und bezahlte dafür mit einem Tritt gegen das Schienbein.

Aber heute ist Weihnachten! Und dieses Fest liebte Peter schon immer. Es war ein Garant dafür, das er sich normal verhielt, eine rot gekennzeichnete Oase auf dem Kalender der Familie. Heute ist alles anders, so anders, das keiner Lust hat an das Damoklesschwert zu denken. Es ist einfach beiseite gelegt worden.
Zur Überbrückung der letzten Stunden bis zur Einbescherung trägt der Vater sogar den Fernseher samt Videorecorder ins Kinderzimmer. Die Jungs dürfen Zeichentrickfilme sehen, knabbern nebenbei Studentenfutter und trinken Limonade.
Stephan geht in die Küche und umarmt seine Christine.
"Mein Gott! Könnte es doch immer so sein! Wäre das schön!" sagt sie schwärmend.
Die bereits vor Tagen gepackten Geschenke, die unter dem Ehebett
versteckt lagen, werden gemeinsam in das Wohnzimmer getragen und
vor dem geschmückten Baum abgelegt. Links die Geschenke für Markus, rechts die für Peter. Der rechte Haufen ist etwas umfangreicher, um auch ganz sicher zu gehen das keine Unstimmigkeiten auftreten.
Alles war perfekt vorbereitet. Auch die Weihnachtsteller sind bis
an die Grenze des Fassungsvermögens mit Süßigkeiten gefüllt. Der Vater zündet die Kerzen am Baum an, während die Mutter eine Kassette mit Weihnachtsliedern einlegt. Sie schauen sich zufrieden ihr Werk an. Ja, es ist alles gut gelungen.
Es ist bereits viertel vor sechs. Sie setzen sich noch mal hin, um vor der kommenden Aufregung kurz auszuruhen. Sie trinken ein Glas Rotwein, Stephan raucht eine Zigarette dazu. Nach ein paar Minuten stehen sie auf, straffen sich. Ein kurzer Blick auf den anderen, ein Lächeln.
Das traditionelle Weihnachtsglöckchen wird bedeutungsvoll ge-
schwungen. Im selben Moment springt oben eine Tür auf und mit großem Gepolter trappeln vier Kinderfüße die Treppe hinab, laufen den Flur entlang und bleiben abrupt in der Wohnzimmertür stehen.
Mit offenen Mündern betrachten sie den prachtvoll geschmückten Christbaum, das warme Licht das von seinen Kerzen ausgeht, sie riechen das Harz des Baumes, das zusammen mit den Nelkengespickten Orangen, die am Fenster hängen, den ganzen Raum festlich parfümiert. Und die schöne Musik im Hintergrund scheint segnend über allem zu schweben. All diesen Eindrücken zusammen gelingt es die beiden Jungen schlagartig in ihrem Lauf zu stoppen und sie zu bezaubern.
Peter und Markus werden von den Eltern umarmt, es wird ihnen ein frohes Fest gewünscht, das sich die Eltern auch gegenseitig wünschen.
Während der Umarmung lugen sie neugierig an ihnen vorbei, denn sie haben die Geschenke entdeckt. Endlich, vom Griff der Eltern befreit, gehen sie zu den Geschenken. Jeder bekommt sein Revier zugewiesen.
Ungeduldig werden die Geschenke ausgepackt, eher unfestliche, raschelnde und reißende Geräusche gehen von den Kinderhänden aus. Markus erhält alles was er sich gewünscht hat:
Ein Kinderfernglas, eine Burg mit vielen Rittern, ein Feuerwehrauto, und Schlittschuhe.
Auch auf Peters Wunschliste wurde genau eingegangen: Eine Rennbahn, ein Cowboygewehr, eine Kinderuhr, ein Fernlenkauto.
Man war sehr großzügig an Weihnachten.
Die Kinder sind begeistert! Die Geschenke wollen kein Ende nehmen, und jedes Päckchen enthält eine weitere Sensation. Sie zeigen sich, noch immer baff vom plötzlich auf sie hereinbrechenden Reichtum, ihre neuen Schätze.
Die Eltern betrachten die Kleinen aufgeregten Menschen die sie in die Welt gesetzt haben. Und dieser Anblick ist einfach schön. Sie sind zufrieden mit sich. Die Mühe hat sich gelohnt. Mag morgen sein was will. Heute ist es gut. Sie sitzen gemeinsam auf einem Sessel, Christine auf der Lehne, und haben ihre Arme umeinander gelegt. Die zärtlich, dankbare Art wie Christine ihren Mann ansieht bedeutet: Heute kannst du mich haben. Und das lässt sein Herz einen kleinen Hüpfer machen. Er küsst sie sanft auf den Mund.
Der Kleine kommt mit dem Fernglas zum Vater gelaufen.
"Guck mal! Das hat sogar eine Umhängeschnur!"
"Das ist ja toll! Dann kannst du es nicht verlieren!" sagt der Vater.
Er bemerkt im selben Augenblick, das die Kerzen des Adventskranzes auf dem Tisch nicht brennen. Sie hatten ihn übersehen. 'Wenn schon denn schon!' denkt er. Suchend blickt er sich um, kann sein Feuerzeug aber nicht finden.
"Markus, sei doch mal so lieb und hol' das Feuerzeug aus meiner Manteltasche!"
Markus rennt sofort zur Garderobe. Und kommt augenblicklich wieder.
"Wo ist denn der Mantel?" fragt er.
"Ach ja, der hängt in der Küche über dem Stuhl!" erwidert der Vater. Markus rennt in die Küche, sieht den Wintermantel des Vaters und greift ungestüm zuerst in die linke Tasche. Kein Feuerzeug. Ungeduldig, denn er will zu seinem Spielzeug zurück, wühlt seine Hand blind in der rechten Tasche und wird fündig. Er hastet ins Wohnzimmer.
"Ich hab's gefunden!"
Er öffnet seine Hand über dem Wohnzimmertisch. Aus ihr fällt ein Feuerzeug. Und eine hellgraues, kleines Etwas, wie Markus, der schon wieder beim davonflitzen ist, flüchtig erkennt.
Das hellgraue Etwas ist eine Kondomverpackung. Sie ist bereits aufgerissen, leer. Ein gelber Aufdruck: "HT Spezial". Christine sieht
es sofort. Wie auch Stephan.
Die Art des Objektes und der Ort an dem er gefunden wurde erzählen eine Geschichte. Eine Geschichte mit einer großen Bedeutung für Christine. Sie weiß nicht auf Anhieb dieses Objekt einzuordnen. Denn es wird von der Packung verlangt den bis jetzt gegebenen, angenehmen Gemütszustand zu verlassen und einen vollkommen entgegengesetzten einzunehmen. Und deshalb dauert es eine Weile bis sie der Kondomverpackung erlaubt in das Glück einzudringen, das dieser schönste Tag des Jahres bei ihr ausgelöst hat.

"Du dreckiges Schwein!" aufgesprungen ist sie und schrill klingt ihr
Kreischen.
Die Worte der Mutter reißen die Kinder wie eine Bombenexplosion aus ihrer Beschäftigung. Sie sehen ihre Mutter vor dem Vater stehen, der im Sessel sitzt. Sie hält ihm das graue Etwas entgegen. Christine nimmt ein Weinglas und schüttet den Inhalt in Stephans Gesicht. Er rührt sich nicht. Sitzt nur da. Verstört und verkrampft.
"War's denn wenigsten schön? Du Schwein! Du Drecksau!"
Sie wirft ihm die Verpackung vor die Füße und gibt ihm eine schallende Ohrfeige.
Er wirkt ertappt, so wie er dort sitzt, begossen und geprügelt.
"Ob es schön war will ich wissen! Sag' mir ob es schön war!" kreischt sie weiter. Sie nimmt seine Zigarettenschachtel, wirft sie auf den Boden und zertritt sie, wütende Laute dabei ausstoßend.
Erregung beginnt sich auf seinem Gesicht abzuzeichnen. Er steht auf. Sein Gesicht zittert, sein Körper fliegt.
"Worauf soll ich denn noch alles Verzichten?!" brüllt er donnernd laut. Noch nie hatte ihn jemand so gewaltig brüllen hören.
"Was kann ich dafür das du nie willst? Soll ich denn alles in mir sterben lassen? Ich denke nicht daran!" fährt er fort.
Die Kinder bekommen große Angst. Die Heftigkeit des Streits erschüttert sie in ihrem ganzen Sein. Jetzt nimmt der Vater einen Aschenbecher und wirft ihn einfach gegen die Wand. Als sei das eine Machtdemonstration gewesen starrt er seine Frau jetzt kampfbereit an.
Die Kinder kennen das. Der eine kann sich noch erinnern, der andere nicht. Aber dennoch weiß er dass es das schon mal gab. Peter hat einen panisch starren Gesichtsausdruck. Die Augen weit aufgerissen, die Lippen aufeinandergepresst, hockt er erstarrt zwischen seinem Wust aus Geschenken.
"Ich hasse dich!" schreit Christine. "Nur weil du ficken willst"!
"Ich bin ein Mensch! Ich brauche das! Und deswegen habe ich auch geheiratet! Du bist frigide! Du bist krank! Frigiideee!" Bösartig wirft er ihr die Worte entgegen, die er schon tausend mal gedacht hat und die er nun, versehen mit der Energie von tausend Gedanken, herausbrüllt.
"Du scheiß Egoist! Du machst die ganze Familie kaputt! Nur wegen deinem scheiß Schwanz! Du Mörder!" schreit Christine zurück.
"Ich bring' mich um!" setzt sie hinzu.
"Dann bring' dich doch endlich um! Ich habe es satt mich andauernd von dir erpressen zu lassen! Satt! Satt!"
Christine hat jetzt jede Kontrolle verloren. Sie schreit hysterisch und reißt sich an den Haaren, läuft erregt im Zimmer herum, taumelt, tritt gegen eine Kommode und stürzt mit einem schnellen Griff den Christbaum um. Im letzten Moment weichen die Kinder dem fallenden Baum aus. Peter rennt unbemerkt aus dem Raum. Markus sucht neben der Couch Schutz.
Stephan, dessen Wut angesichts des wahnsinnigen Gebarens seiner Frau einer zunehmenden Sorge gewichen ist, löscht den beginnenden Brand der Tanne mit einer Weinflasche. Sicherheitshalber tritt er außerdem auf einigen bereits glimmenden Ästen herum, und somit leider auch auf den Geschenken.
Als er sich umdreht sieht er seine Frau apathisch schweigend im Sessel sitzen. Er bekommt Angst. Wie kann man nur so schnell von höchster
Erregung in bewegungsloses schweigen abgleiten? Er befürchtet das
Christine wirklich krank ist. Er versteht das eine Ehefrau in eine
Ausnahmesituation gerät, wenn sie merkt das ihr Mann sie betrügt.
Aber was sich hier abspielt empfindet er als sehr besorgniserregend. Sie sitzt einfach da und starrt ins Leere

Stephan steht da, mit der Weinflasche in der Hand, im Nebel der soeben gelöschten Kerzen. Er sieht sie an, wie sie dort sitzt, mit ihrem Geist in einer anderen Welt. Es tut ihm leid das er die Kontrolle verloren hat. Und er ist traurig. Was ist aus all den Hoffnungen, Wünschen und Träumen geworden? Aus ihrer Liebe? Mit wie viel Optimismus und Kraft hatte man sich damals gemeinsam ins Leben aufgemacht! Und was war daraus geworden! Er begreift das sie gescheitert sind, an sich selbst.
Er kniet sich vor sie hin, berührt ihre Hand die auf der Sessellehne ruht.
"Christine!" sagt er zärtlich. Er streichelt ihre Hand. Sie reagiert nicht. Sie starrt. Sie tut ihm unendlich Leid, er fühlt Liebe zu ihr, das alte "Wir". Er küsst ihre Hand, sieht sie an. Ihr schönes Profil. Ohne von ihrem verlorenen Blick abzulassen legt sie ihre Hand auf seinen Kopf. Fast segnend, eine Absolution erteilend. Also wolle sie sagen das es nicht seine Schuld ist, das er gut ist.

Markus wagt einen Blick über die Sofalehne. Er sieht seinen Vater bei seiner Mutter knien. Er hat nasse Haare und einen roten Fleck auf dem Hemd. Die Blicke des Vater und des Sohnes treffen sich. "Da sind wir ja in einen schönen Schlamassel geraten!" sagen sie sich wortlos. Markus zieht seinen Kopf wieder ein. Stille im Raum.
Markus ist froh das sie wieder still sind. Er wartet darauf das einer der beiden etwas normales zum anderen sagt. Jetzt wäre es langsam Zeit.
Markus hat gesehen das all das nur passiert ist weil er das graue Ding
auf den Tische gelegt hat. Weil er nicht aufgepasst hat als er zum Feuerzeug gegriffen hatte.
Markus will zu seinem Bruder. Hat aber Angst sich seinen Eltern zu zeigen. Von ihnen angeblickt und vielleicht doch noch der Schuld an diese Katastrophe bezichtig zu werden.
Schließlich nimmt er doch allen Mut zusammen. Er steht vorsichtig auf und setzt sich so geräuschlos wie möglich, fast auf Zehenspitzen, in Bewegung. Sein Körper ist halb gebückt, seine Augen sind scheu-
klappenartig auf die Tür gerichtet. Als er den Raum bereits zur Hälfte durchquert hat, sieht seine Mutter ihn an und sagt:
"Oh Gott!"
Der Anblick des Kleinen hat sie an Peter erinnert und daran das er alles mitbekommen hat. Plötzlich hellwach, sehen sich die beiden erschrocken an. Sie sehen aus wie zwei Eltern denen bei einer Autobahnfahrt schlagartig einfällt, dass sie bei der letzten Raststätte vergessen haben ihr Kind einzuladen.
Die Mutter zu Markus:
"Wo ist dein Bruder, Markus?"
"Ich weiß nicht, er ist vorhin rausgegangen!"
Ruckartig stehen die Eltern auf, laufen in den Flur. Der Vater ruft
nach Peter. Die Mutter stürmt die Treppe hinauf, geht in das Kinder- zimmer. Der Vater steht am Treppenabsatz, und blickt seine aus dem Kinderzimmer tretende Frau fragend an. Sie schüttelt den Kopf. Als sei das ein geheimes Zeichen gewesen rasen, sie los um jedes Zimmer des Hauses zu durchsuchen. "Peter, Peter!"-Rufe begleiten ihr Tun. "Peter!"" hört man mal aus diesem, mal aus jenem Zimmer. Mal erklingt "Peter!" aus dem Munde der Mutter, mal aus dem des Vaters.
Gelegentlich begleitet von der Zusicherung "Es ist alle wieder in Ordnung!" oder von der Frage "Wo bist du denn?" Die Mutter sucht
jetzt im Keller, während der Vater mit einer Taschenlampe im Garten
herumgeistert. Markus sucht die ganze Zeit mit. Überflüssigerweise
sogar in den Zimmern , die von den Eltern bereits überprüft sind.
Nach erfolgloser Suche treffen sich alle im Flur wieder.
"Er ist weg!" sagt Stephan.
"Nein!" antwortet die Christine entsetzt. Sie hat eine Gänsehaut bekommen.
"Was sollen wir nur tun?" fragt sie.
"Dieses mal müssen wir die Polizei rufen!" antwortet er.
"Es ist doch eiskalt draußen!" sagt Christine. Ihr Mutterherz
ist schwarz vor Sorge und entsetzlicher Ahnungen.
Markus bemerkt das die Haustür nur angelehnt ist und deutet mit
ausgestreckter Hand auf sie.
Plötzlich hört man in der Ferne die Notbremsung eines Zuges. Ein hohes, unglaublich lautes, metallisches Geräusch, das scheinbar nicht enden will. Dieser infernalische Ton mischt sich mit dem hohen Schrei der Mutter zu einem Chor namenlosen Schmerzes. Als berichte der Zug von einem Ereignis, worauf Christine gleichartig antwortet das sie nicht einverstanden ist.

Der Vater ist es der mit seinem nassen Hemd durch den Schnee über die nebeligen Felder rennt. Auf das Maschinengeräusch des gestoppt stehenden Zuges, auf das helle Scheinwerferlicht zu. Er ist es der den zerschmetterten Leib seines Sohnes im Lichtkegel liegend findet.


Meinungen sind ausdrücklich erbeten!
 

majissa

Mitglied
hallo bassimax,

mit feinsinniger beobachtungsgabe beschreibst du den verlauf eines einzigen tages und fügst geschickt rückblicke in die vergangenheit ein. dein schreibstil ist angenehm und der inhalt trotz der länge so gut, daß man sich die mühe macht, bis zum ende weiterzulesen, das ja dann recht schockierend endet.

es ist mir aufgefallen, daß du recht häufig dort in den zeiten wechselst, wo es nicht nötig ist.
z.b. "gab es dazu warmen kakao und...denn das mochte dann sein bruder peter nicht"
der häufige wechsel in der zeit wirkt irritierend und hemmt den lesefluß. teilweise empfand ich es geradezu nervend.

eine beschreibung im präsens würde dann gut rüberkommen, wenn es sich um wichtige, emotional intensiv erlebte geschehnisse handelt, z. b. die szene auf dem spielplatz oder die beschreibung der ehekrise der eltern mit dem anschließenden selbstmordversuch der mutter.

bei der bescherungsszene wendest du die gegenwartsform an und potenzierst damit erheblich die spannung, zumal die situation in einer katastrophe mündet.

die namen der eltern hätte ich bereits früher erwähnt.

es gibt einige, zu ausführliche stellen in deiner geschichte. dinge, die man weglassen könnte, damit der spannungsbogen nicht durchbrochen wird. nicht jeder weiß, daß du gut schreibst und könnte vielleicht genau an diesen stellen aufhören zu lesen, was schade wäre ;-)

liebe grüße
majissa
 

bassimax

Mitglied
hallo majissa,

danke das du dir die mühe gemacht hast diese lange geschichte zu lesen. ich habe jetzt schon mehrfach
gehört, das meine neigung oft in der zeit zu wechseln
irritiert. jetzt glaube ich langsam das es stimmt, und
werde mich zurückhalten. nochmals danke!
sebastian
 
A

annabelle g.

Gast
ja,

so langsam lese ich mich durch alles durch.
du schreibst ernste geschichten; also eher raymond carver als pirandello; obwohl an pirandellos kurzgeschichten das bemerkenswerte ist, dass er in ganz verschiedene menschen hineinsteigt und sie bis in die nebenfiguren hinein beherrscht. ciao a.g.
 



 
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