heute ist anderswo

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ENachtigall

Mitglied
heute ist anderswo

bleibe
mir sind die zeiger gebunden
mitten im leben stehen

trage mit fassung
gläserne haut
das angeschlagene gehäuse

warte
im blut
die gerinnende zeit
dauert aus

gehe nicht
nur der schatten zieht
kreise
selbst durch den langen dunklen strom der nacht ohne mond und gestirn

finde mich
bei den leeren booten
meiner hände

heute ist anderswo
die blauen worte
amenlos stranden




© elke nachtigall
2011 märz
 

ENachtigall

Mitglied
heute ist anderswo

bleibe
mir sind die zeiger gebunden
mitten im leben stehen

trage mit fassung
gläsern die haut
das angeschlagene gehäuse

warte
im blut
die gerinnende
zeit dauert aus

gehe nicht
nur der schatten zieht
kreise
selbst durch den langen dunklen strom der nacht ohne mond und gestirn

finde mich morgen
am ufer bei den leeren
booten meiner hände

heute ist anders
wo die blauen worte
amenlos stranden




© elke nachtigall
2011 märz
 
H

Heidrun D.

Gast
Liebe Elke,

wieder ein sehr anregendes Gedicht, das wie bei Tristram Shandy *lächel, mit und auf verschiedenen Ebenen arbeitet. Das gibt ihm Spannung und vielfältige Interpretationsmöglichkeiten.

bleibe
mitten im leben stehen

trage mit fassung

warte
zeit dauert aus

gehe nicht
finde mich morgen

heute ist anders
Andererseits kann ich die Einschübe in Verbindung setzen:
mir sind die zeiger gebunden
gläsern die haut
das angeschlagene gehäuse

im blut die gerinnende
zeit dauert aus

nur der schatten zieht
kreise
selbst durch den langen dunklen strom der nacht ohne mond und gestirn
am ufer bei den leeren
booten meiner hände

wo die blauen worte
amenlos stranden
Sie könnten ein eigenes Gedicht bilden. Insofern ist das Poem als Zwie- bzw. Selbstgespräch zu sehen - eine kunstvolle, gleichwohl verspielte Lösung.

Nur bei den "Booten" habe ich leise Zweifel, verstehe aber, dass du im Bild bleiben willst ... "Schalen" würden es vielleicht nicht so gut treffen ...

Insgesamt lese ich den Text als einen stillen Aufruf zum "carpe diem." Trotz allem ...

Herzliche Grüße
Heidrun
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Elke,

auch mir gefällt, wie Du durch die Kursivschrift den Text in zwei Texte bringen konntest.

Es gibt solche Zeiten, in denen das Finstere, das noch dunkler als eine mondlose Nacht ist, sich bis in den Alltag hinein als prägend erweist. Wie soll die "gläserne Haut" das aushalten?

Es ist eine Zeit, in der es keine Worte mehr gibt, die auf verklärende Weise etwas aussprechen könnten. Nein, "die blauen Worte" sind "gestrandet", ohne dass man ihnen noch einen Nachdruck ein "amen" hätte verleihen können.

Dennoch: und das erinnert mich jetzt an Hilde Domins "Bitte",
bitten hilft.

"bleibe
trage mit fassung
warte
gehe nicht
finde mich morgen"

Ein schmerzlicher Text, aber durch jede Strophe schimmert die Hoffnung, dass diese Zeit etwas Vorübergehendes ist.

Sehr gelungen!

Liebe Grüße
Vera-Lena
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo Liebe Heidrun,

danke für Dein differenziertes Feedback zu dem Gedicht. In der Weise, wie Du die Sequenzen zusammengefügt hast, erinnert es mich an das chinesische "Tangram", ein Spiel, bei dem geometrische Formen zu schier unendlich vielen Bildern zusammengelegt werden können.
Den Impuls zu diesem Text gab der Ausdruck "Warten im Blut" aus dem ebenfalls chinesischen "Buch der Wandlungen", der mich lange beschäftigte, ohne dass ich ihn wirklich begreifen konnte. Ich deutete ihn mir immer zu "blutig", bis ich begriff - mit Hilfe des sprachlichen Bildes der ersten Strophe -, dass es um ein innerliches Aushalten einer Gefahr geht, die durch Handeln verheerend würde. Es ist also das eigene Blut gemeint, unabhängig davon, ob es selbst vom Vergossenwerden bedroht ist, oder "nur" ein anderes Blutvergießen nicht verhindern kann.
(Sorry, ich fürchte, meine Gedankengänge dazu sind sehr speziell. I don´t wanna bore you.)
Letztendlich ist es mir wichtig, solche sehr individuell schwerwiegenden Wortlawinen irgendwann von mir abzurollen, unabhängig davon, ob die gefundene Form gefallen findet oder nicht. Dass Du damit etwas anfangen kannst und es gutheißt, zeigt mir, dass wir eine nicht unwesentliche Schnittmenge gemeinsamer Themen und Anschauungen haben.

Herzliche Grüße,

Elke
 

ENachtigall

Mitglied
Liebe Vera Lena,

ja, es ist Zwiesprache. Zwiesprache mit sich selbst, mit Gott, und gegen die Angst, gegen die Einsamkeit, gegen die Resignation.
Uns es ist das Loslösen aus der gezählten, segmentierten, instrumentalisierten Zeit, das Zurückfinden in eine eigene Zeit, die naturgegeben durch den Schatten sichtbar wird. So, wie wir in Krisenzeiten auch immer mit unseren eigenen Schattenseiten konfrontiert sind; derart, dass wir die Chance haben, daran zu wachsen (Negative entwickeln).

Auch Dir herzlichen Dank für Dein immer wieder sehr einfühlsames Lesen.

Liebe Grüße,

Elke
 

HerbertH

Mitglied
Liebe Elke,

ohne die Boote wäre es noch deutlich besser. Hier würde mir z.B. die Bögen besser gefallen.

Aber sonst Chapeau!

lG

Herbert
 

ENachtigall

Mitglied
Vielen Dank, lieber Herbert, fürs Hinterlassen Deines Leseeindrucks!
Schade, dass sich offensichtlich das Bild der Boote nicht auf die Weise erschließt, wie ich es versucht habe, hineinzulegen. Dennoch tue ich mich schwer, mich davon zu verabschieden. Mit einer ultimativen geringfügigen Verschlankungen möchte ich das Gedicht als "fertig" so stehenlassen.
Hab auch Dank für Dein Lob.

Ein sonniges Wochenende.

Grüße von Elke
 

ENachtigall

Mitglied
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bleibe
mir sind die zeiger gebunden
mitten im leben stehen

trage mit fassung
gläsern die haut
das angeschlagene gehäuse

warte
im blut
die gerinnende
zeit dauert aus

gehe nicht
nur der schatten zieht
kreise
selbst durch den langen dunklen strom der nacht ohne mond und gestirn

finde mich
morgen am ufer
bei den booten meiner hände

heute ist anders
wo die blauen worte
amenlos stranden




© elke nachtigall
2011 märz
 

HerbertH

Mitglied
Liebe Elke,

Deine kursiven Setzungen haben mich zu Änderungen bei "party?" inspiriert. Danke für die gute Idee :)

lG

Herbert
 

ENachtigall

Mitglied
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bleibe
mir sind die zeiger gebunden
mitten im leben stehen

trage mit fassung
gläsern die haut
das angeschlagene gehäuse

warte
im blut
die gerinnende
zeit dauert aus

gehe nicht
nur der schatten zieht
kreise
selbst durch den langen dunklen strom der nacht ohne mond und gestirn

finde mich
morgen am ufer
bei den booten meiner hände

heute ist anders
wo die blauen worte
bleiben
amenlos



© elke nachtigall
2011 märz
 



 
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