Fredy Daxboeck
Mitglied
Gemächlich rollte Susan die Landstraße entlang und ließ ihre Blicke mal hierhin und mal dorthin schweifen. Noch vor ein paar Stunden hätte sie dieses Tempo, vor allem bei einem anderen Wagen vor ihr, beinahe wahnsinnig gemacht. Aber jetzt und hier genoss sie dieses Gefühl des Bummelns unsäglich. Sie hatte Zeit. Zum ersten Mal, zum wirklich aller ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Zeit, hatte nicht das Gefühl, dass sie irgend etwas versäumen würde. Spürte nicht das gehetzte Drängen, das sie Tatendrang nannte und das sie vorwärts trieb und zu immer neuen und besseren Leistungen anspornte. Fühlte nicht die Glut hektischer Betriebsamkeit, die sonst unter ihrer Haut brannte.
Die Straße begann gemächlich anzusteigen. Hinter einer Kurve breitete sich ein lange hingestrecktes Dorf aus. Die Häuser waren hübsch, gepflegt, mit viel, von den Jahren und der Witterung nachgedunkeltem Holz verkleidet und passten sich harmonisch an die Umgebung an. Freundliche Blicke folgten Susans Wagen, ein kleines Mädchen
in einem bunten, rot-gelbem Kleidchen, das am Straßenrand saß, winkte fröhlich und unbeschwert. Susan hob lächelnd die Hand und winkte unwillkürlich zurück.
"Oh wow, ich hatte keine Ahnung wie schön es hier draußen ist." Ohne dass es ihr bewusst wurde, hatte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen. Sie wollte diese Freude, die sie erfüllte, gerne mit irgend jemand teilen, jemand mitteilen. Aber alle ihre Freunde, ihre wenigen Freunde, saßen jetzt in ihren Büros und hinter ihren Schreibtischen und ärgerten sich mit Problemen herum, die sie als dringlich und wichtig erachteten; und die sie so viel Energie kosteten, aber endlich gelöst, doch so wenig davon wieder zurückgaben.
Susan seufzte. Auf beiden Seiten der Straße breiteten sich blühende Obstgärten aus. Es sah ein bisschen aus, als ob die Bäume unter einer dicken, weichen, weißen Schneeschicht begraben wären. Wieder andere hingegen sahen aus wie in rosa Wolken aus bauschiger Watte
gehüllt. Sie öffnete weit ihr Fenster um auch den überschwänglichen Duft dieser Pracht zu genießen. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen, um nur den Duft des Frühlings, die warme Sonne auf ihrem Gesicht und den leichten Fahrtwind, der in ihren Haaren spielte, zu genießen. Susan lachte hell auf. So unwirklich glücklich hatte sie sich schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr gefühlt.
Verspielt drehte sie an den Knöpfen ihres Radios, um einen neuen Sender zu suchen. Die ruhige Musik, die sie die letzten Kilometer berieselt hatte, war einem störenden statischen Rauschen gewichen. Als sie nach einiger Zeit keinen Erfolg hatte, schaltete sie kurzerhand mit einem Schulterzucken ab. Sie wollte sich ihre gute Laune durch nichts verderben lassen.
Die Obstgärten wichen wieder Wiesen, die sich in sanften Hängen den Berg hinauf zogen. Die Straße führte sie an verschiedenen Kreuzungen vorbei, Autos überholten sie und kamen ihr entgegen; der Verkehr wurde langsam dichter. Susan begann sich, fast widerwillig, wieder auf ihre Fahrt zu konzentrieren. Der Abend rückte unmerklich näher und sie würde sich nun doch ein wenig beeilen müssen. Falls sie es überhaupt schaffen sollte, ihr Ziel heute noch zu erreichen. Mit einem Seitenblick auf die Karte, die aufgeschlagen neben ihr lag, versuchte sie sich die Orte ins Gedächtnis zu rufen, an denen sie noch vorbeikommen musste bis sie die Kreuzung nach Vidum fand.
"Okay, das dürften noch an die fünfzig bis siebzig Kilometer Fahrt werden." murmelte sie vor sich hin. Die große Euphorie, die sie noch eine halbe Stunde zuvor so himmelhoch schweben ließ, verwandelte sich langsam in eine satte Zufriedenheit, die sie ausfüllte und ein leises Summen in ihrem Kopf und einen leichten Glanz in ihren Augen zurückließ.
Weit vor ihr, neben einem breit ausladenden Baum, unter dem eine Bank stand, konnte sie eine Gestalt erkennen. Sie stand lässig, aber ein wenig verloren neben der Straße und winkte. Susan verlangsamte ohne sich im Klaren darüber zu sein, was sie tat, ihre Geschwindigkeit.
Die Gestalt entpuppte sich als ein junger Mann in leicht abgerissenen und staubigen Jeans und einem zerknautschten Pullover undefinierbarer Farbe. Sein kastanienbraunes Haar leuchtete in der tief stehenden Abendsonne. Susan wollte schon wieder beschleunigen, als sie seinen Gesichtsausdruck, in dem sie meinte so etwas wie Hoffnung aufleuchten zu sehen, bewusst wurde.
Hart trat sie auf die Bremse und blieb stehen.
"Hallo, wohin soll’s denn gehen?" fragte sie, als der junge Mann seinen Kopf beim Fenster hereinstreckte.
"So weit sie mich mitnehmen." erwiderte dieser und schenkte ihr ein breites, charmantes Lächeln, öffnete die Tür und warf einen großen jeansblauen, verbeulten Rucksack, der einen grauen Militärschlafsack oben auf geschnallt hatte, auf den Rücksitz, während er neben ihr Platz nahm.
Allein für dieses Lächeln war er es wert, mitgenommen zu werden, dachte sie und ein schwacher Hauch von Pfirsichblütenrosa färbte ihre Wangen. Sein Gesicht war offen und freundlich, mit dunklen Augen die ein wenig wirkten als ob sie mit einem Kranz aus zerstoßenem Glas eingefasst wären, über einer schön geschwungenen Nase. Das lange braune Haar war vom Wind zerzaust und gab ihm insgesamt ein verwegenes Aussehen, das den Abenteurer in ihm hervorkehrte. Susans Herz klopfte ein Spur schneller. Sie spürte eine zitternde Freude, die sich in ihrer Brust ausbreitete. Sie merkte nicht, dass sie lächelte.
"Ich fahre nach Vidum, und noch ein bisschen weiter den Fluss rauf, um mit dem Kanu die Ache hinabzufahren." erklärte Susan mit mühsam erzwungener ruhiger Stimme und sah dem Anhalter in die Augen, während sie den Wagen wieder anfuhr. Ihr Puls flatterte wie ein kleiner Schmetterling und sie fühlte ein Kratzen im Hals.
"Hmmh", machte der Anhalter und musterte sie eingehend. Er hatte sich halb an die Beifahrertür gelehnt und betrachtete sie ungeniert. Strich mit seinen seltsamen Augen die Konturen ihres Gesichts nach, verweilte eine Weile an ihrem Mund und ihrem Hals und ließ dann seinen Blick über ihre Figur schweifen, ohne dabei ungebührlich lange an ihrem Busen oder ihren Schenkeln hängen zu bleiben. Dann beugte er den Kopf nach vor, schüttelte seine Mähne und fuhr mit den Fingern beider Hände durch die Haare.
"Danke, dass sie mich mitgenommen haben." Er sprach leise, in einem angenehm, singenden Tonfall, gerade so laut, dass sie ihn verstehen konnte. "Ich mache ja nicht gerade einen seriösen Eindruck." Sein Blick wanderte durch den Wagen und blieb an ihrem Gesicht hängen.
"Außerdem bringe ich eine Menge Schmutz in ihren Wagen."
"Oh ... oh das macht nichts", beeilte sich Susan zu versichern. "Ich habe ihn schon eine Weile nicht mehr sauber gemacht. Das ist kein Problem." Sie wagte einen kurzen Seitenblick auf den Anhalter. Erdbraun, das ist die Farbe von seinem Pullover, und seine Schultern sind nicht mal so breit, und seine Augen sind grün, nicht dunkel, dachte sie, grün; und blickte schnell wieder auf die Straße. Der Anhalter lächelte. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Er sieht ein wenig müde aus. So um die dreißig, vermutlich oder ein paar Jahre älter, also nicht mehr ganz so jung, wie er auf den ersten Blick wirkte. Verstohlen musterte Susan ihren Fahrgast, sah auf die Straße und wieder auf ihren Beifahrer. So weit sie mich mitnehmen, hatte er auf ihre Frage nach seinem Ziel geantwortet. Hörte sich an, als ob er kein Ziel hätte.
Die Landschaft huschte vor ihren Augen vorüber, der Motor brummte gutmütig und monoton vor sich hin und die Räder summten zufrieden ihr Lied von der Freiheit der Straße.
"Kyle, mein Name ist Kyle" antwortete der Anhalter nach einem Moment des gegenseitigen Schweigens auf ihre unausgesprochene Frage. "Ich bin ... unterwegs auf der Wanderschaft."
Susan zuckte ein wenig unbehaglich zusammen. Sie fühlte sich ertappt. Hatte sie etwa laut gesprochen? Oder hatte er nur ihre Gedanken erraten?
"Oh!" sagte sie. Nichts weiter. Nur dieses eine Oh! Sie sah zu Kyle, der hatte aber die Augen geschlossen. Sein Gesichtsausdruck war entspannt, als ob er friedlich schlafen würde.
"Ich habe kein bestimmtes Ziel, oder eine bestimmte Richtung." unterbrach er ihre Gedanken. "Ich gehe wohin der Wind mich führt." Susan lächelte. "Oder wohin ich sie bringe."
"Ja", Kyle lächelte fröhlich zurück, ohne die Augen zu öffnen. "Wohin Sie mich bringen", und nach einem kurzen Zögern. "Wo immer das auch ist."
Susan zögerte ein wenig, dann bemerkte sie leise. "Ich weiß es nicht." Sie überlegte einen Moment, bevor ihr klar wurde, dass sie es tatsächlich nicht wusste.
"Hmmh", brummte Kyle. "Einverstanden." Nach einer Weile öffnete er die Augen und blickte Susan an. "Sie sind schon ein merkwürdiges Mädchen, wissen Sie das?" Er betrachtete sie interessiert und grinste verschmitzt.
"Warum? Wie meinen Sie das?" fragte Susan verblüfft.
"Na ja", Kyle drückte sich wieder in seinen Sitz und beobachtete die vorbeifliegende Landschaft. "Sie nehmen Landstreicher mit dem Wagen mit, obwohl ihnen ihre Mutter sicher des öfteren erklärt hat wie gefährlich das ist. Sie wollen nach Vidum, wissen aber nicht wohin Sie mich bringen werden, oder vielleicht wie Sie mich wieder los werden wollen. Und:
Sie wollen mit diesem Riesending von einem Kanu das Sie auf ihrem Autodach spazieren fahren die Ache hinunter ... allein ... obwohl dieser Fluss sogar für zwei gute Fahrer genügend Aufregung bieten würde. Also wenn das nicht merkwürdig ist, will ich auf der Stelle sesshaft werden." Er lachte amüsiert über seinen Vergleich.
"Ach", Susan winkte ab. "Ich denke, ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen." Und fügte nach einer kurzen Phase des Nachdenkens hinzu: "Außerdem hat man mir versichert, der Fluss sei ohne nennenswerte Schwierigkeiten zu befahren."
"So, so, hat man das" meinte Kyle. Sie sah zu ihm und ihre Augen blitzten vergnügt. "Die Ache ist kein reißender Fluss, sondern ein friedliches Flüsschen, sagte man mir." Sie zwinkerte ihn an. "Den schafft man auch allein."
"Na, wenn sie es sagen!" beteuerte Kyle und hob abwehrend die Arme. Er sah sie an und lächelte sein breites charmantes Lächeln. Sie verspürte einen Stich unter ihrem linken Busen, dass ihr fast die Luft wegblieb, doch allmählich spürte sie auch große Freude in sich; warmes, grenzenloses Entzücken, das sich in ihrem Bauch wohlig ausbreitete und ihr Herz flattern ließ. Ihre Wangen färbten sich zum zweiten Mal an diesem Tag mit diesem zarten Rosa von frischen Pfirsichblüten.
"Macht sicher mächtig viel Spaß, mit so einem Ding unterwegs zu sein." sinnierte Kyle, lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen.
"Oh ja" antwortete Susan und strahlte. "Oh ja, mächtig; und ich freue mich auch wirklich auf die Fahrt."
Eine Weile fuhren sie schweigend, in Gedanken versunken. Die Straße führte sie nach und nach immer weiter den Berg hinauf. Ausgedehnte Wälder lösten die saftigen Wiesen und weiten grasbewachsenen Hänge ab. Der Fluss war weit hinter ihnen zurückgeblieben. Ein matt glitzerndes blaues Band, weit unter ihnen. Eingebettet zwischen sattem Grün von Wiesen, Bäumen und Sträuchern, über dem sich der abendlich dunkelblaue Himmel spannte, in dem die ersten funkelnden Sterne aufblitzten.
"Sie sagten, Sie sind auf Wanderschaft. Darf man fragen woher Sie kommen?" nahm Susan den Faden ihrer Unterhaltung wieder auf.
"Hm, ja darf man." nickte Kyle und ein sanftes Lächeln lag auf seinem Gesicht. "Ich komme aus Krems. Aus einer großen alten Stadt an einem großen alten Fluss." Versonnen betrachtete er die Berge, die sich vor ihnen und um sie erstreckten, und die schneebedeckten Gipfeln, denen sie stetig näher kamen.
"Und wohin führt der Weg?" hakte Susan nach, als Kyle wieder schwieg. Die Abenddämmerung war längst hereingebrochen und sie wurde sich nun bewusst, dass sie ihr Ziel an diesem Tag nicht mehr erreichen würde. Sie hatte nun doch zu sehr getrödelt. Mit einem leichten Anflug von Unruhe ärgerte sie sich, weil sie für einen winzigen Moment das Gefühl hatte, einen Termin verpasst zu haben. Doch so schnell wie die Stimmung in ihr aufwallte, verflüchtigten sich diese Gedanken auch schon wieder.
"Ich bin im Urlaub." sagte sie bedächtig und merkte zu spät, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte.
"Das freut mich für Sie." bemerkte Kyle und grinste. "Sie stehen in ihrem Job wohl ziemlich unter Stress, nicht?"
Irritiert warf Susan einen Seitenblick zu ihrem Beifahrer und seufzte. "Tja, kann man wohl sagen." Sie lächelte ein wenig bekümmert. "Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, heute Abend an meinem Ausgangspunkt zu übernachten und morgen früh loszufahren. Aber ich habe offensichtlich die Fahrt und die Zeit ziemlich unterschätzt. Das passiert mir sonst nie. Ich hasse Unpünktlichkeit." Susan lachte über ihre eigenen Worte. Ein silbernes Lachen der Erleichterung, das aus ihrem Mund sprudelte wie klares Gebirgswasser an einer frischen Quelle. "Ich muss mir wohl noch einige Male vor Augen führen, dass ich jetzt für drei Wochen nicht unter Zeitdruck stehe." Sie atmete tief durch und wiederholte ihre Worte ganz bewusst. "Ich bin im Urlaub."
diese story ist rein fiktiv – ähnlichkeiten mit lebenden oder anwesenden personen sind zufällig und nicht beabsichtigt
Die Straße begann gemächlich anzusteigen. Hinter einer Kurve breitete sich ein lange hingestrecktes Dorf aus. Die Häuser waren hübsch, gepflegt, mit viel, von den Jahren und der Witterung nachgedunkeltem Holz verkleidet und passten sich harmonisch an die Umgebung an. Freundliche Blicke folgten Susans Wagen, ein kleines Mädchen
in einem bunten, rot-gelbem Kleidchen, das am Straßenrand saß, winkte fröhlich und unbeschwert. Susan hob lächelnd die Hand und winkte unwillkürlich zurück.
"Oh wow, ich hatte keine Ahnung wie schön es hier draußen ist." Ohne dass es ihr bewusst wurde, hatte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen. Sie wollte diese Freude, die sie erfüllte, gerne mit irgend jemand teilen, jemand mitteilen. Aber alle ihre Freunde, ihre wenigen Freunde, saßen jetzt in ihren Büros und hinter ihren Schreibtischen und ärgerten sich mit Problemen herum, die sie als dringlich und wichtig erachteten; und die sie so viel Energie kosteten, aber endlich gelöst, doch so wenig davon wieder zurückgaben.
Susan seufzte. Auf beiden Seiten der Straße breiteten sich blühende Obstgärten aus. Es sah ein bisschen aus, als ob die Bäume unter einer dicken, weichen, weißen Schneeschicht begraben wären. Wieder andere hingegen sahen aus wie in rosa Wolken aus bauschiger Watte
gehüllt. Sie öffnete weit ihr Fenster um auch den überschwänglichen Duft dieser Pracht zu genießen. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen, um nur den Duft des Frühlings, die warme Sonne auf ihrem Gesicht und den leichten Fahrtwind, der in ihren Haaren spielte, zu genießen. Susan lachte hell auf. So unwirklich glücklich hatte sie sich schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr gefühlt.
Verspielt drehte sie an den Knöpfen ihres Radios, um einen neuen Sender zu suchen. Die ruhige Musik, die sie die letzten Kilometer berieselt hatte, war einem störenden statischen Rauschen gewichen. Als sie nach einiger Zeit keinen Erfolg hatte, schaltete sie kurzerhand mit einem Schulterzucken ab. Sie wollte sich ihre gute Laune durch nichts verderben lassen.
Die Obstgärten wichen wieder Wiesen, die sich in sanften Hängen den Berg hinauf zogen. Die Straße führte sie an verschiedenen Kreuzungen vorbei, Autos überholten sie und kamen ihr entgegen; der Verkehr wurde langsam dichter. Susan begann sich, fast widerwillig, wieder auf ihre Fahrt zu konzentrieren. Der Abend rückte unmerklich näher und sie würde sich nun doch ein wenig beeilen müssen. Falls sie es überhaupt schaffen sollte, ihr Ziel heute noch zu erreichen. Mit einem Seitenblick auf die Karte, die aufgeschlagen neben ihr lag, versuchte sie sich die Orte ins Gedächtnis zu rufen, an denen sie noch vorbeikommen musste bis sie die Kreuzung nach Vidum fand.
"Okay, das dürften noch an die fünfzig bis siebzig Kilometer Fahrt werden." murmelte sie vor sich hin. Die große Euphorie, die sie noch eine halbe Stunde zuvor so himmelhoch schweben ließ, verwandelte sich langsam in eine satte Zufriedenheit, die sie ausfüllte und ein leises Summen in ihrem Kopf und einen leichten Glanz in ihren Augen zurückließ.
Weit vor ihr, neben einem breit ausladenden Baum, unter dem eine Bank stand, konnte sie eine Gestalt erkennen. Sie stand lässig, aber ein wenig verloren neben der Straße und winkte. Susan verlangsamte ohne sich im Klaren darüber zu sein, was sie tat, ihre Geschwindigkeit.
Die Gestalt entpuppte sich als ein junger Mann in leicht abgerissenen und staubigen Jeans und einem zerknautschten Pullover undefinierbarer Farbe. Sein kastanienbraunes Haar leuchtete in der tief stehenden Abendsonne. Susan wollte schon wieder beschleunigen, als sie seinen Gesichtsausdruck, in dem sie meinte so etwas wie Hoffnung aufleuchten zu sehen, bewusst wurde.
Hart trat sie auf die Bremse und blieb stehen.
"Hallo, wohin soll’s denn gehen?" fragte sie, als der junge Mann seinen Kopf beim Fenster hereinstreckte.
"So weit sie mich mitnehmen." erwiderte dieser und schenkte ihr ein breites, charmantes Lächeln, öffnete die Tür und warf einen großen jeansblauen, verbeulten Rucksack, der einen grauen Militärschlafsack oben auf geschnallt hatte, auf den Rücksitz, während er neben ihr Platz nahm.
Allein für dieses Lächeln war er es wert, mitgenommen zu werden, dachte sie und ein schwacher Hauch von Pfirsichblütenrosa färbte ihre Wangen. Sein Gesicht war offen und freundlich, mit dunklen Augen die ein wenig wirkten als ob sie mit einem Kranz aus zerstoßenem Glas eingefasst wären, über einer schön geschwungenen Nase. Das lange braune Haar war vom Wind zerzaust und gab ihm insgesamt ein verwegenes Aussehen, das den Abenteurer in ihm hervorkehrte. Susans Herz klopfte ein Spur schneller. Sie spürte eine zitternde Freude, die sich in ihrer Brust ausbreitete. Sie merkte nicht, dass sie lächelte.
"Ich fahre nach Vidum, und noch ein bisschen weiter den Fluss rauf, um mit dem Kanu die Ache hinabzufahren." erklärte Susan mit mühsam erzwungener ruhiger Stimme und sah dem Anhalter in die Augen, während sie den Wagen wieder anfuhr. Ihr Puls flatterte wie ein kleiner Schmetterling und sie fühlte ein Kratzen im Hals.
"Hmmh", machte der Anhalter und musterte sie eingehend. Er hatte sich halb an die Beifahrertür gelehnt und betrachtete sie ungeniert. Strich mit seinen seltsamen Augen die Konturen ihres Gesichts nach, verweilte eine Weile an ihrem Mund und ihrem Hals und ließ dann seinen Blick über ihre Figur schweifen, ohne dabei ungebührlich lange an ihrem Busen oder ihren Schenkeln hängen zu bleiben. Dann beugte er den Kopf nach vor, schüttelte seine Mähne und fuhr mit den Fingern beider Hände durch die Haare.
"Danke, dass sie mich mitgenommen haben." Er sprach leise, in einem angenehm, singenden Tonfall, gerade so laut, dass sie ihn verstehen konnte. "Ich mache ja nicht gerade einen seriösen Eindruck." Sein Blick wanderte durch den Wagen und blieb an ihrem Gesicht hängen.
"Außerdem bringe ich eine Menge Schmutz in ihren Wagen."
"Oh ... oh das macht nichts", beeilte sich Susan zu versichern. "Ich habe ihn schon eine Weile nicht mehr sauber gemacht. Das ist kein Problem." Sie wagte einen kurzen Seitenblick auf den Anhalter. Erdbraun, das ist die Farbe von seinem Pullover, und seine Schultern sind nicht mal so breit, und seine Augen sind grün, nicht dunkel, dachte sie, grün; und blickte schnell wieder auf die Straße. Der Anhalter lächelte. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Er sieht ein wenig müde aus. So um die dreißig, vermutlich oder ein paar Jahre älter, also nicht mehr ganz so jung, wie er auf den ersten Blick wirkte. Verstohlen musterte Susan ihren Fahrgast, sah auf die Straße und wieder auf ihren Beifahrer. So weit sie mich mitnehmen, hatte er auf ihre Frage nach seinem Ziel geantwortet. Hörte sich an, als ob er kein Ziel hätte.
Die Landschaft huschte vor ihren Augen vorüber, der Motor brummte gutmütig und monoton vor sich hin und die Räder summten zufrieden ihr Lied von der Freiheit der Straße.
"Kyle, mein Name ist Kyle" antwortete der Anhalter nach einem Moment des gegenseitigen Schweigens auf ihre unausgesprochene Frage. "Ich bin ... unterwegs auf der Wanderschaft."
Susan zuckte ein wenig unbehaglich zusammen. Sie fühlte sich ertappt. Hatte sie etwa laut gesprochen? Oder hatte er nur ihre Gedanken erraten?
"Oh!" sagte sie. Nichts weiter. Nur dieses eine Oh! Sie sah zu Kyle, der hatte aber die Augen geschlossen. Sein Gesichtsausdruck war entspannt, als ob er friedlich schlafen würde.
"Ich habe kein bestimmtes Ziel, oder eine bestimmte Richtung." unterbrach er ihre Gedanken. "Ich gehe wohin der Wind mich führt." Susan lächelte. "Oder wohin ich sie bringe."
"Ja", Kyle lächelte fröhlich zurück, ohne die Augen zu öffnen. "Wohin Sie mich bringen", und nach einem kurzen Zögern. "Wo immer das auch ist."
Susan zögerte ein wenig, dann bemerkte sie leise. "Ich weiß es nicht." Sie überlegte einen Moment, bevor ihr klar wurde, dass sie es tatsächlich nicht wusste.
"Hmmh", brummte Kyle. "Einverstanden." Nach einer Weile öffnete er die Augen und blickte Susan an. "Sie sind schon ein merkwürdiges Mädchen, wissen Sie das?" Er betrachtete sie interessiert und grinste verschmitzt.
"Warum? Wie meinen Sie das?" fragte Susan verblüfft.
"Na ja", Kyle drückte sich wieder in seinen Sitz und beobachtete die vorbeifliegende Landschaft. "Sie nehmen Landstreicher mit dem Wagen mit, obwohl ihnen ihre Mutter sicher des öfteren erklärt hat wie gefährlich das ist. Sie wollen nach Vidum, wissen aber nicht wohin Sie mich bringen werden, oder vielleicht wie Sie mich wieder los werden wollen. Und:
Sie wollen mit diesem Riesending von einem Kanu das Sie auf ihrem Autodach spazieren fahren die Ache hinunter ... allein ... obwohl dieser Fluss sogar für zwei gute Fahrer genügend Aufregung bieten würde. Also wenn das nicht merkwürdig ist, will ich auf der Stelle sesshaft werden." Er lachte amüsiert über seinen Vergleich.
"Ach", Susan winkte ab. "Ich denke, ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen." Und fügte nach einer kurzen Phase des Nachdenkens hinzu: "Außerdem hat man mir versichert, der Fluss sei ohne nennenswerte Schwierigkeiten zu befahren."
"So, so, hat man das" meinte Kyle. Sie sah zu ihm und ihre Augen blitzten vergnügt. "Die Ache ist kein reißender Fluss, sondern ein friedliches Flüsschen, sagte man mir." Sie zwinkerte ihn an. "Den schafft man auch allein."
"Na, wenn sie es sagen!" beteuerte Kyle und hob abwehrend die Arme. Er sah sie an und lächelte sein breites charmantes Lächeln. Sie verspürte einen Stich unter ihrem linken Busen, dass ihr fast die Luft wegblieb, doch allmählich spürte sie auch große Freude in sich; warmes, grenzenloses Entzücken, das sich in ihrem Bauch wohlig ausbreitete und ihr Herz flattern ließ. Ihre Wangen färbten sich zum zweiten Mal an diesem Tag mit diesem zarten Rosa von frischen Pfirsichblüten.
"Macht sicher mächtig viel Spaß, mit so einem Ding unterwegs zu sein." sinnierte Kyle, lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen.
"Oh ja" antwortete Susan und strahlte. "Oh ja, mächtig; und ich freue mich auch wirklich auf die Fahrt."
Eine Weile fuhren sie schweigend, in Gedanken versunken. Die Straße führte sie nach und nach immer weiter den Berg hinauf. Ausgedehnte Wälder lösten die saftigen Wiesen und weiten grasbewachsenen Hänge ab. Der Fluss war weit hinter ihnen zurückgeblieben. Ein matt glitzerndes blaues Band, weit unter ihnen. Eingebettet zwischen sattem Grün von Wiesen, Bäumen und Sträuchern, über dem sich der abendlich dunkelblaue Himmel spannte, in dem die ersten funkelnden Sterne aufblitzten.
"Sie sagten, Sie sind auf Wanderschaft. Darf man fragen woher Sie kommen?" nahm Susan den Faden ihrer Unterhaltung wieder auf.
"Hm, ja darf man." nickte Kyle und ein sanftes Lächeln lag auf seinem Gesicht. "Ich komme aus Krems. Aus einer großen alten Stadt an einem großen alten Fluss." Versonnen betrachtete er die Berge, die sich vor ihnen und um sie erstreckten, und die schneebedeckten Gipfeln, denen sie stetig näher kamen.
"Und wohin führt der Weg?" hakte Susan nach, als Kyle wieder schwieg. Die Abenddämmerung war längst hereingebrochen und sie wurde sich nun bewusst, dass sie ihr Ziel an diesem Tag nicht mehr erreichen würde. Sie hatte nun doch zu sehr getrödelt. Mit einem leichten Anflug von Unruhe ärgerte sie sich, weil sie für einen winzigen Moment das Gefühl hatte, einen Termin verpasst zu haben. Doch so schnell wie die Stimmung in ihr aufwallte, verflüchtigten sich diese Gedanken auch schon wieder.
"Ich bin im Urlaub." sagte sie bedächtig und merkte zu spät, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte.
"Das freut mich für Sie." bemerkte Kyle und grinste. "Sie stehen in ihrem Job wohl ziemlich unter Stress, nicht?"
Irritiert warf Susan einen Seitenblick zu ihrem Beifahrer und seufzte. "Tja, kann man wohl sagen." Sie lächelte ein wenig bekümmert. "Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, heute Abend an meinem Ausgangspunkt zu übernachten und morgen früh loszufahren. Aber ich habe offensichtlich die Fahrt und die Zeit ziemlich unterschätzt. Das passiert mir sonst nie. Ich hasse Unpünktlichkeit." Susan lachte über ihre eigenen Worte. Ein silbernes Lachen der Erleichterung, das aus ihrem Mund sprudelte wie klares Gebirgswasser an einer frischen Quelle. "Ich muss mir wohl noch einige Male vor Augen führen, dass ich jetzt für drei Wochen nicht unter Zeitdruck stehe." Sie atmete tief durch und wiederholte ihre Worte ganz bewusst. "Ich bin im Urlaub."
diese story ist rein fiktiv – ähnlichkeiten mit lebenden oder anwesenden personen sind zufällig und nicht beabsichtigt