junge Liebe

Wie die Farbe von Sand

Am grauen Strand am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
kein Vogel ohne Unterlass;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzen Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir,
Du graue Stadt am Meer.

Theodor Storm, Die Stadt (1882)





Er sah sie an, lächelnd schaute er in ihr von der Sonne gebräuntes Gesicht, suchte die Liebe darin. Fand sie in ihren Augen, blaugrün wie der Ozean am Morgen. Fand sie auf ihren Lippen, weich wie die kühle Umarmung des Wassers oder das Gefühl von Sand unter den nackten Füßen. Fand sie in dem Rot ihrer Haare, wie ein Sonnenuntergang über dem glitzernden Meer oder das Dünengras im Wind eines anbrechenden Tages. Fand sie in ihrem Blick, neckisch und jung.
Ja, sie war noch sehr jung. Jung wie ein neuer Tag, jung wie jede neue Welle, die an den grauen Strand gepült wird. Viel jünger als er, auf dessen Schultern doch schon sechsundzwanzig Jahre lasteten. Auf ihren erst siebzehn. Siebzehn. So jung. Schön wie ein Drachen, fliegend im Wind der See.
Mit einem Schritt überwand er die Entfernung zwischen ihnen, zog sie an sich und presste seine Lippen auf ihre. Sie erwiderte seinen Kuss und in ihm wallte eine mächtige Sehnsucht nach diesem Mädchen und seinem Zuhause, dem Meer, auf. Endlich war er wieder hier.

Meghan Aylen, sechzehn junge Jahre alt, Schülerin, aufgewachsen in einer Stadt am Meer, deren Namen niemand weiß, schön in ihrer wilden Erscheinung; Rote Haare, blaugrüne Augen, gebräunte Haut und Sommersprossen, suchte nach etwas. Suchte nach dem Etwas, das ihr Leben lebenswert werden ließ. Das Meer brandete in ihren Gedanken, in ihren Träumen und sie vernahm von Tag zu Tag seinen betörenden Ruf, den sie nur bekämpfen konnte, indem sie suchte. Meghan Aylen war eine ewig Suchende.
Ihr Papa war Fischer, jeder zweite in der Stadt am Meer war Fischer, ein guter Beruf, wenn auch etwas übel riechend. Meghans Mama arbeitete in einem kleinen Café namens „Silbermöwe“ direkt am Strand, für die wenigen Touristen erbaut und im Sommer besser besucht als im Winter.
Meghans Leben war durchschnittlich, es war wie das Leben jedes zweiten Mädchens in der Stadt am Meer, sie ging morgens in die Schule zwei Orte weiter, machte am Nachmittag Hausaufgaben, ging mit ihren Freundinnen aus, aß zu Abend mit ihren Eltern. Meistens Fisch.
Das Leben war gut, aber es erfüllte sie nicht mit Begeisterung, sondern nur mit Resignation. Es war das Leben jedes zweiten Mädchens in der Stadt am Meer, dessen Namen niemand weiß.
Meghans Gedanken wanderten oft davon, dann rauschte der Ozean in ihren Gedanken und der Wind verwehte ihr Haar, obwohl kein Lüftchen blies.
Den Lehrern und den Eltern gefiel das nicht. Natürlich nicht. Meghan aber brauchte es, um ihr Leben auszuhalten. Das Meer und der Wind in ihrem roten Haar waren ihre Rettung, wenn auch nur kurzweilig. Auf Dauer musste etwas anderes sie retten. Und danach suchte sie tagein tagaus.
Im Sommer 2013 fand sie es.
Ihre Rettung trug den Namen Charlie Storm, fünfundzwanzig Jahre alt, amerikanischer Marine, im Kurzurlaub in der Stadt am Meer, ähnlich einem Fels in der Brandung in seiner Erscheinung; Kantiges Gesicht, hellbraune Stoppelfrisur, Militärhosen, nachtblaue Augen, muskulöse Arme und Beine. Ein Mann, anscheinend nur aus Kanten und Ecken bestehend, wie er im Bilderbuch gezeichnet ist. Eine Härte im Blick, die dem Meer in einem Gewitter gleicht.
Meghan und Charlie trafen sich in der „Silbermöwe“. Er trank einen Kaffee, sie saß an ihren Hausaufgaben. Mathe. Das Fach, über dem sie immer wieder verzweifelte und ihre Flüche in den Wind schrie, sodass sie über das Meer getragen wurden und schließlich darin ertranken.
Als er sich an den Tisch neben ihr setzte, bemerkte sie als erstes seine Militärhosen und die Stoppelfrisur. Sie machten ihr Angst, aber das Mädchen verspürte auch etwas wie Faszination, besonders, als sie die Narben sah, die seine Hände und die Arme ,ja, fast verzierten.
Ein harter Kerl, war das erste, was sie dachte.
Ein Mädchen, tief wie das Meer, war das erste, was er dachte als er Meghan sah, mit verkniffenem Gesicht; also zusammengekniffenen Augen, gerunzelter Stirn und aufeinander gepressten Lippen.
Er hatte gleich erkannt, dass sie keine Touristin war, er hatte von Anfang an gesehen, dass sie den Ozean in sich trug und zu seinen Füßen aufgewachsen sein musste. Die See war in ihr. Die See war ein Teil von Meghan.
Meghan war ein Teil der See.
Sie faszinierten ihn beide, die See, dieser endlose Ozean, den er manchmal in seinen Träumen sah, wenn er abends still lauschend auf seinem Lager auf den nächsten heißen, staubigen Tag wartete, und das Mädchen, das er zukünftig noch öfter als die See in seinen Träumen sehen würde. Selbst, wenn sein Leben bald wieder nur darin bestand, sich den Sand aus den Lungen zu husten und abends die Stellen zu verarzten, an denen das Waffenhalfter ihm die Haut aufgeschürft hatte. Jedenfalls wenn er Glück hatte. Wenn es nicht mehr zu verarzten gab, als nur eine aufgeschürfte Stelle. Wenn er noch lebte.
Falls er noch lebte.
Daran dachte Charlie auch, als er, den Kaffee schlürfend in der „Silbermöwe“ saß, dem Mädchen bei seinen Hausaufgaben zusah und dem Wind lauschte, der um das Stelzenhaus herum wehte und es fast unmöglich machte, ein Gespräch zu führen. Immer, wenn die Tür geöffnet wurde, hielt die Bedienung, eine dunkelhaarige Frau um die Vierzig, die Tischdekoration mit beiden Händen fest und verzog das wettergegerbte Gesicht in einem Anflug aus Ärger. Charlie Storm dachte über das Leben nach. Sein Leben. Und er dachte darüber nach, was nach dem Leben kam. Die Hölle, weil er so vielen Menschen mit seiner Glock das Leben genommen hatte? Oder der Himmel, weil er verhindert hatte, dass noch mehr Menschen umkamen? Seit er vor sechs Jahren den Dienst bei den Marines angetreten hatte, stellte er sich diese Frage. Doch erst seit dem Einsatz im Irak, zweieinhalb Jahre lang, gerade einen Monat lang vorbei, spukte sie fast ununterbrochen in seinem Kopf herum.
Himmel oder Hölle?
Genau als er das dachte, Himmel oder Hölle, geschah etwas sehr seltsames. Das Mädchen, das über seinen Mathaufgaben saß und wild war wie das Meer selbst, gab ihm eine Antwort. Eine Antwort, die er nicht mehr vergaß, auch wenn sie nicht absichtlich geantwortet hatte.
„Himmel!“, rief sie aus und er schrak auf. Die Bedienung rückte die Servietten zurecht, die eine neuerliche Windböe durcheinander gewirbelt hatte, und kam auf das Mädchen zu. „Meghan, sei doch bitte etwas leiser, wir haben Gäste!“, sagte sie und sah sich unbehaglich um. Schnell senkte Charlie Storm den Blick. Meghan hieß sie also. Ein Name aus seiner Heimat. Charlie konnte alles verstehen, was die beiden sagten, er war zweisprachig aufgewachsen, in seinen Träumen vermischten sich deutsche Wörter mit englischen und so dachte er auch: In zwei languages.
„Mama, das ist grauenvoll! Ich hab keine Ahnung, wie ich das rechnen soll, ich hasse Mathe! Verdammt, ich hasse es so sehr!“, rief Meghan aus und starrte ihre Mutter an. Ja, es war ihre Mutter, das wurde Charlie Storm jetzt ganz deutlich bewusst. Die Frau hatte den gleichen Mund wie ihre Tochter und auch bei ihr spürte er den Ozean im Herzen. Sie war schön, aber auf eine weichere Art als ihre Tochter. Meghan war rau wie die See, wie der Wind, sie erinnerte ihn an eine bunte Glasscherbe, die vom Meer und vom Sand zu einem Teil des Meeres geschliffen worden war. Die Mutter war wie Sand zwischen seinen Zehen, wie Sonne auf der Brust oder die leichte Berührung einer Möwenfeder. Und doch gefiel ihm die Art, wie Meghan schön war, besser. Sie war Meer. Ihre Mutter war lediglich eine kleine Welle am Strand. Schön, aber harmlos. Er vertraute nichts Harmlosem mehr.
Meghans Blick begegnete dem jungen Mann, der da über seinem Kaffee brütete und betont unauffällig zu ihnen herüber schaute. Der in den Militärklamotten.
„Was will der denn?“, fragte sie leise ihre Mama. Die sah zu dem Mann herüber, zuckte mit den Schultern, warf ihm ein höfliches Lächeln zu und flüsterte leise ihrer Tochter zu: „Sei jetzt ein bisschen leiser, Meghan! Der Mann möchte bestimmt nur etwas bestellen. Und mach endlich deine Aufgaben fertig, je lauter und mehr du schimpfst, desto länger sitzt du dran, glaub mir, Kind!“
Ihr war klar, dass ihre Mama recht hatte, aber im Moment kümmerte sie das wenig. Die Matheaufgaben waren so langweilig! Viel interessanter war doch der Typ in den Militärkleidern.
Einen Moment lang überlegte Meghan, wog die Möglickeit, ihre Hausaufgaben zu machen, gegen die Möglichkeit, den Typen anzusprechen, ab. Und entschied sich für letzteres.
„Sind Sie ein Soldat?“, war das erste, was das Mädchen, wild wie der Ozean selbst, zu Charlie Storm sagte. Ihre plötzliche Aufmerksamkeit überraschte ihn. Er hatte so lange kein richtiges, normales Gespräch mehr geführt. Eins, das nichts mit dem Krieg oder dem Tod zu tun gehabt hatte.
Sie sah ihn mit diesen wunderschönen Augen an und er dachte daran, dass er lange keine Augen mehr gesehen hatte, die so eine intensive Farbe gehabt hatten. Das gefiel ihm.
„Ich bin ein Marine“, antwortete er und lächelte leicht angesichts ihres erstaunten Gesichts. „Wohnen die nicht in Amerika?“, fragte sie und er nickte. „Ja, ich bin Halbamerikaner und Halbdeutscher. Mach im Moment Urlaub hier.“
„Mhm! Und müssen Sie auch in den Krieg und so?“
Charlie Storm nickte. „Ja. Ich war zwei Jahre lang im Irak. Im Herbst geht’s wieder los nach Afghanistan.“
Beeindruckt betrachtete Meghan den Mann. Wie alt er wohl war? So um die zwanzig, schätzte sie. Und dann war er schon im Irak gewesen, hatte viele viele Leute sterben sehen und ging noch einmal los nach Afghanistan? Das war verrückt.
„Das ist ganz schön mutig. Warum machen Sie das?“
Der Mann sah sie an und sein Blick war ernst. Ernst und voll mit Erinnerungen und Erlebtem.
„Weil ich verhindern muss, dass noch mehr Unschuldige sterben. Und weil ich meinen Bruder rächen will. Er ist da draußen gestorben.“
„Wow ... Das ist ...“, setzte sie an, aber er unterbrach sie. „Sag nichts, Meghan. Es ist auch nur ein Weg, irgendwie drüber weg zu kommen.“
Meghan starrte ihn an, völlig perplex, dass er ihren Namen kannte und sie außerdem damit angeredet hatte. Aus seinem Mund klang er ganz anders, als sie ihn jemals gehört hatte. Irgendwie weicher. Wie die Sonne, die auf dem Ozean ein Glitzern hinterließ, wenn sie diesen am Abend küsste.
„Oh ...“ Jetzt fiel auch Charlie auf, was er gesagt hatte. „Ich ... hab ihn eben aufgeschnappt. Also, den Namen.“
Sie nickte. „Jaja, ist gut, aber wenn Sie meinen kennen, will ich Ihren auch wissen, Marine!“ Charlie Strom musste grinsen bei dem frechen Ton, den das Mädchen zutage legte. Es fühlte sich gut, an, mal wieder zu grinsen. So gut, dass er am liebsten laut losgelacht und somit alle Sorgen und Ängste davon gespült hätte.
Aber anstatt das zu tun, wonach sich sein Körper, und insgeheim auch sein Geist, wenn nicht noch mehr der Geist, als der Körper, solange gesehnt hatten, beugte der junge Mann, in der Seele bereits ein Weiser, sich vor und sagte: „Charlie Storm. Mein Name ist Charlie Storm.“
Mit dem Lächeln, das Meghan Aylen ihm dann zuwarf, begann alles.

Das nächste Mal begegneten sich die beiden am Strand. Es war spät und es ging wild zu; Ein leuchtendes, rotes Feuer brannte und Inselbewohner wie Touristen in jungen Jahren hatten sich versammelt, um das Leben und den Sommer, der seit ein paar Tagen mit aller Hitze und Lust ins Land gezogen war, zu feiern. In den Körpern der Tanzenden, Lachenden sprühte die Lust auf Liebe, auf Hitze und, bei den meisten auch auf Eis. Für das sagenhafte Eis war die Stadt, deren Namen niemand weiß, weit bekannt.
Es war Charlies vorletzter Abend auf der Insel und anders als bei den anderen, wütete in ihm auch noch eine Sehnsucht, wenn er im Moment auch keinen Grund hatte, sich nach etwas zu sehnen. Noch war er ja hier.
Aber der Junge spürte, dass sie ihn hinab reißen würde,die Sehnsucht, sobald er auf der Fähre war. Er würde sich nach der Stadt, deren Namen niemand kennt, und nach dem Ozean sehnen, wie er sich noch nach nichts gesehnt hatte. Und, ja, das wollte er sich zwar nicht eingestehen, aber es stimmte, vielleicht sehnte er sich auch nach diesem Mädchen aus der „Silbermöwe“.
Meghan.
Eigentlich sehnte er sich nach ihr, seitdem er sie kennen gelernt hatte. Vielleicht hatte er sich sogar schon nach ihr gesehnt, bevor er sie kennen gelernt hatte.
Aber ihn plagten Zweifel, was diese seltsamen, neuen Gefühle anging. Meghan war noch so jung. Sie musste erst fünfzehn oder sechzehn sein, kaum älter. Sie könnte seine Schwester sein, aber war er als Freund, also, natürlich ganz theoretisch gesehen, nicht viel zu alt für sie?
Langsam kam er dem Feuer und den Tanzenden näher, hielt automatisch nach ihr Ausschau. Doch er fand nur seine andere große Liebe: Den Ozean. Er brandete in den dunkelsten Blautönen, übergehend in ein noch dunkleres, warmes Schwarz an den weißen, vom Feuer in rotes Licht getauchten Strand und er faszinierte Charlie. Der schwere Geruch nach Salz und verbrennendem Treibholz hing in der Luft und schwängerte diese, sodass es einfach nur nach Sommer roch.
Charlie Storm schloss in einem Anfall aus Liebe zu diesem Ort, diesem Abend, dieser ganzen Insel, die Augen und meinte, aus dem Rauschen der Wellen einzelne Zeilen aus Adeles Set fire to the rain zu hören. Das Lied hatte ihn immer schon restlos begeistert.

I set fire to the rain,
watched it pour as I touched your face,
Let it burn while I cry.
Cause I heard it screaming out your name,
your name.

„Hey Charlie!“, sagte da auf einmal jemand und er drehte sich um, ruckartig, auf einen Angriff vorbereitet. Seine Hand suchte nach einer Waffe, doch da war keine.
Meghan sah ein bisschen erschrocken aus, als sie seine Bewegungen registrierte. Er hatte da so ruhig gestanden, da hatte sie gedacht, sie könnte ihn ja mal ansprechen. Er kannte schließlich niemanden hier.
„Hallo Meghan!“, sagte er und seine dunkle Stimme vermischte sich mit dem Knacken des verbrennenden Treibholzes. Meghan lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Die Schatten um sie herum tanzten und mal legten sich tausend davon um die beiden, mal waren da nur einzelne, wenige von ihnen. Das Feuer spiegelte sich in den Augen des Marines, dunkel wie das Meer und das Mädchen lächelte. Lachte laut. „Was ist?“, fragte der Marine verwirrt, aber sie hatte ihn schon bei der Hand gefasst, ein warmer, fester Griff, wie er nur zu einem Mädchen, wild wie das Meer selbst passt, und zog ihn auf das Feuer zu, um das herum die Menschen tanzten wie um ein Fegefeuer. Es war bizarr und wunderschön zugleich. Es gefiel ihm.
Das schnelle, sommerliche Lied, das aus den Boxen dröhnte, klang aus, ein anderes Lied begann. „Set fire to the rain ... Das ist so schön ...“, murmelte Meghan und während die Noten in einer atemberaubenden Lautstärke über den Strand schallten und die Menschen restlos und vollkommen in ihren Bann zogen, sah Charlie das Mädchen vor sich lange an und dachte über sie dasselbe, was sie zu dem Lied gesagt hatte. Du bist so schön, dachte er.
Wieder lachte sie laut, zog ihn mit sich, schnell befanden sie sich unter den Tanzenden, da begann auch Meghan zu tanzen. Sie tanzte wild und frei und ihr Blut pumpte zum Rhythmus der Musik durch ihren zarten Körper. Sie schloss die Augen und wiegte sich im Tanz der Klänge, den Blick des jungen Marines auf sich spürend. Sie lächelte, als ihr Herz schneller klopfte.
Charlie Storm sah Meghan an und dachte, dass es das Meer war, das sie so tanzen ließ. Eine unendliche, tiefe Leidenschaft. Mehr ein Gefühl, als eine Naturgewalt. Er hielt den Ozean im Arm ... Ja, das wurde ihm erst jetzt bewusst, er hielt Meghan im Arm, tanzte ebenfalls im Rhythmus des Liedes, zu der benebelnden Stimme Adeles. Auch, wenn das Lied nicht vom Meer handelte, trug es dies in sich, wie auch Meghan das Meer in sich trug.
Sie öffnete die Augen und lachte ihn an, ihre weißen Zähne blitzen im Schein der Flammen, die so nah waren, dass sie fast seine nackten Beine streiften. Ihre Augen waren groß, ob vor Leidenschaft oder vom Alkohol, das konnte er nicht sagen. Sie waren tief wie die See selber und ebenso unergründlich wie wild. Meghans Haare wirbelten mit jeder Bewegung um ihren Kopf, flogen wie die Möwen über dem Watt, es war schön, es erweckte in Charlie Storm den Wunsch, ebenso frei zu sein, wie sie.
„Komm, Marine! Tanz! Lass mal alle deine Gefühle raus, das tut gut, glaub mir!“, schrie sie ihm über den Lärm hinweg zu und er dachte, da ist Alkohol in ihren Augen, doch auch so mochte er sie, fand sie anziehend, alles an ihr. Obwohl sie so jung war.
Charlie ließ sich mitreißen, begann zu lachen, laut und ebenso wild, wie sie, wie der Ozean; zu tanzen, als wäre es der letzte Tag seines Lebens, als würde er in einer Sekunde aufhören, zu leben.
Das Meer, diese See, die mal grau, mal blau, mal schwarz, mal rot, ach was, alle Farben haben konnte, umspülte sie, ihr Lachen brandete laut durch die Luft, verschluckte nicht das Rauschen des Ozeans, sondern mischte sich mit diesem, wurde zu einem lauten, unüberhörbaren Klang des Glücks. Nie hatte Charlie Storm sich besser gefühlt, als in dieser Nacht.
Nie war Meghan Aylen glücklicher gewesen als in dieser Nacht.
Später in der Nacht, es war schon beinahe Morgen, die Tänzer waren dem Tanzen müde, lagen Arm im Arm, nah dem Feuer, nah dem Wasser, im warmen Sand, sangen Lieder, labten sich an der Freude des Lebens und der Jugend.
Auch Charlie und Meghan lagen da, nah beieinander, genossen alles, genossen die Liebe zum Meer, die beiden inne wohnte.
„Marine?“, flüsterte sie leise und er wandte ihr den Blick zu und versank fast in ihren ozeantiefen Augen, die genau wie sonst auch die Farbe der See hatten: Zu dieser Stunde dunkelblau, oder doch, fast schwarz. Auch das gefiel Charlie.
Meghan sah seinen Blick, bemerkte sein Interesse, konnte es unmöglich abwenden, fast nur erwidern, wollte es erwidern. Eine Frage lag ihr auf den Lippen. Bist du glücklich, wollte sie ihn fragen, fragte aber etwas anderes, wichtigeres in diesem Moment. „Wie alt bist du?“, fragte sie.
„Fünfundzwanzig. Und du?“, antwortete er und seine Stimme war wieder tief, wie der Ozean. Meghan liebte diese Tiefe, auch wenn sie es sich nicht erklären konnte. Er war fünfundzwanzig. „Ich bin sechzehn.“ Sie war sechzehn. Neun Jahre Unterschied. Und doch lagen sie jetzt hier nebeneinander im Sand, sahen dem Himmel beim Hellerwerden, dem Mond beim Kuss mit dem Meer zu und fühlten sich einander näher, als Menschen sich fühlen können.
„Ich fahre Morgen nach Hause“, sagte er.
„Das ist schade. Ich mag dich.“, sagte sie.
Charlie Storm lächelte. Der Himmel war in einem dunklen Grau gezeichnet, weich, noch mehr Nacht als Tag. Eine schöne Zeit, um Ich liebe dich zu sagen. Aber Charlie und Meghan waren zu jung, zu kurz miteinander bekannt, hatten erst zu wenig miteinander erlebt, als dass sie dies sagen würden. Ich liebe dich.
„Ich mag dich auch, Meghan. Aber du bist so jung!“ Charlie bettete seine Wange auf seinem Unterarm und er klang traurig. Weich, aber traurig.
„In einem Jahr bin ich siebzehn, Charlie, dann bin ich nicht mehr so jung!“, erwiderte sie. Er seufzte und wickelte eine ihrer rostroten, wilden Strähnen um seinen Finger. „Aber ich bin in einem Jahr sechsundzwanzig, Meghan. Ich geh auf die Dreißig zu und du bist noch in der Schule. Wie soll das denn klappen?“
Jetzt seufzte auch sie, die junge Meghan Aylen, deren Leben zu wertvoll, zu aufregend war, um so etwas schwerwiegendes auszudiskutieren. „Lass uns nicht darüber reden. Wozu gibt es denn das hier und jetzt, Marine?“ Ihr Tonfall war erst weich, dann neckisch, sie rutschte näher, doch er hielt sie noch auf Abstand. „Willst du nur spielen oder ist es dir ernst? Was willst du wirklich, Meghan? Ich bin zu alt zum Spielen.“, sagte er und schaute erwartungsvoll in ihre graublauen Augen.
Die Gesichtszüge des jungen Mädchens glätteten sich, da war kein Lächeln mehr auf ihren Lippen, ihr Blick war ernst und warm. „Ich bin auch zu alt zum Spielen. Ich meine es genauso ernst wie du.“, sagte sie, flüsterte sie leise und lächelte ihn sanft an. Er nickte, seine Wangen wurden von der Wärme des anbrechenden Tages, ja, vielleicht auch von der Wärme des Glücks, überflutet.
„Es gibt ein Bootshaus.“, flüsterte Meghan. Charlie sah sie aufmerksam an. Sein Herz wummerte, wie das letzte Mal im Irak, kurz vor einer Hausstürmung. „Es gehört meinem Papa. Wenn man drin ist, hört man trotzdem noch das Meer.“, fuhr sie fort und Charlie spürte eine Erregung in sich, die er lange nicht mehr gespürt hatte. Auch der Krieg erregte einen, aber nicht so, wie es eine Frau vermochte. Nie.
„Gibts da Decken?“, fragte er leise und sie grinste frech. „Ja. Die gibt es. Und da steht ein Sofa ...“ Charlie Storm wusste, es war nicht richtig, aber er konnte nicht anders, die See drängte ihn zu Meghan, ließ ihn sie küssen, sie war in ihr, in ihnen beiden, erfüllte ihre jungen Körper mit einer Lust, die unbeschreiblich ist.
„Dann komm“, sagte er, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. Meghan lachte leise, ihr Haar federte auf und ab, als er sie auf die Füße zog, als sie über die schlafenden Tänzer, jungen erschöpften Leute hinweg stiegen, den Strand entlang liefen, bald Arm in Arm, bald Hand in Hand.
Meghan Aylen hatte ihre Suche beendet. Sie hatte ihre Rettung gefunden.
Und sie machten sich keine Sorgen mehr um das Alter, denn das spielte jetzt keine Rolle mehr. Solange sie das Meer rauschen hörten, in ihren Körpern, draußen am Strand, überall um sie herum, während sie sich ineinander bewegten und sich liebten, auf allen Ebenen, die man sich als Mensch vorstellen kann, war alles gut. Niemand hatte Zweifel an ihrer Liebe.
Die Sonne stieg höher, der Tag wachte auf, es wurde heller, doch die beiden konnten nicht voneinander lassen, sie liebten einander, sie lernten einander kennen, in jeder Weise. In allen Weisen.
Als sie endlich erschöpft waren, dicht beieinander in den Decken auf dem Boden des Bootshauses, in der Stadt am Meer, deren Name unbekannt ist, lagen, flüsterte Charlie: „Meghan. Du bist wie das Meer. Tief und wild. Ich will in dir ertrinken, aber bitte ertränke mich nicht.“ Seine Worte waren zunächst wirr, in dem Moment verstand das Mädchen sie nicht, wusste sie nicht einzuordnen. Wie auch? Es war zu viel passiert in den letzten Stunden. Mit der zarten Gewissheit, dass es richtig war, was sie tat, hatte sie sich von ihm ausziehen und sich entjungfern lassen. Und hier passt das Lied „Ich bereue nichts“, denn so war es. Meghan Aylen bereute nicht, was sie getan, welchen Schritt zum Erwachsenwerden sie heute gegangen war. Zusammen mit Charlie Storm, einem fünfundzwanzigjährigen Marine gegangen war.
Nie hatte sie einen schöneren Morgen erlebt, als den in seinen Armen, mit dem Blick in seine weichen, liebevollen Augen, die wussten, was Leid bedeutete.
„Pass auf, wenn du wieder da draußen bist. Und komm wieder, wenn es vorbei ist.“, sagte sie leise und er nickte. „Ja. Ich versuchs. Sei nicht böse, wenns nicht klappt. Da draußen hab ich keine Macht mehr. Niemand kann bestimmen, wer da wieder raus kommt und wenn es einen Gott gibt, dann spüren die Männer da draußen ihn nicht.“
Meghan wurde klar, dass er von „den Männern“ redete, weil er es nicht zu sehr an sich heranlassen konnte. Das, was da draußen, also im Krieg, passierte, musste ihm oft den Schlaf rauben. Vielleicht, auch das begriff Meghan jetzt mit erschreckender Schnelle, waren Freunde von ihm dort gestorben, vielleicht hatten sie in seinen Armen ihr Leben gelassen.
„Es tut mir Leid“, sagte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. Was sagte man in so einer Situation?
Charlie Storm lachte freudlos. „Das muss es nicht. Du kannst nichts dafür.“
Nein, dachte sie, das kann ich nicht, aber wer kann denn etwas dafür? Wer trägt die Verantwortung für die Menschen, die da für ihr Land um Leben und Tod kämpften.
Seufzend schmiegte sie sich in die Arme des starken Marines.
„Du riechst nach Meer“, flüsterte er nach einem Augenblick des Schweigens, in dem nur das Geräusch der an den Strand brandenden Wellen zu hören gewesen war.
Sie schnaubte kurz. „Du meinst, nach Fisch.“
Er schüttelte den Kopf, entsann sich, dass sie, die sie mit dem Rücken zu ihm lag, das nicht sehen konnte und sagte: „Nein. Ich meine, du riechst nach dem Ozean, nach Salz und Freiheit, nach Treibholz und Ewigkeit.“ Meghan Aylen drehte sich zu dem jungen Mann um, in dessen Armen sie lag, wie eine Perle in einer Muschel. „Das hast du schön gesagt, Charlie. Und weißt du was?“ Er schüttelte den Kopf, forderte sie auf, zu sagen, was sie sagen wollte. „Du riechst genauso. Du riechst auch nach ihr.“ Verwirrt zog er die Stirn kraus. „Nach ihr?“ „Nach der See. Nach unserer Mutter, dem Ozean.“ Sie grinste ihn an. „So betrachten wir das Meer hier. Nicht einfach als Wasser, sondern als Mutter. Als unsere Schöpferin. Sie ist etwas, das man respektieren muss. Sie war immer da und wird auch immer da sein. Egal, wie der Lauf der Zeit spielt, niemand wird je die See dazu kriegen, zu verschwinden. Sie war, ist und bleibt ein Teil dieser Welt, Charlie.“
Der junge Marine sah das Mädchen lange an, sah die Wildheit in ihren Augen, das Störrische in ihren Haaren, sie sich in roten Wellen über ihrem nackten, gebräunten Körper ausbreiteten. Dann lächelte er leicht. Einfach, weil dieser Moment zum Lächeln da war.
Sie erhob sich ein Stück aus den Decken und küsste ihn, sanft, er konnte nicht verhindern, wie das Feuer in ihm aufloderte, konnte es nicht zügeln, nicht verhindern, dass es ihn mitriss, wie eine Sturmflut Bäume mit sich reißt. Er vergrub seine Hand in ihren Haaren, keuchte auf bei ihren intimen Berührungen, die er einem so jungen Mädchen niemals zugetraut hätte. Der Kuss wurde drängender, er war dabei sich zu verlieren, schon schob sich sein Bein zwischen die Ihren, ihre Münder öffneten sich, sie atmeten einander ein, atmeten ineinander, konnten nicht aufhören. Meghan spürte diese Lust, sog seinen Duft nach Meer ein, fühlte sich Zuhause, gleichzeitig im Arm ihrer Mutter und in den seinen, die sie jetzt noch näher zogen. Nie zuvor hatte sie eine solche Begierde und einen annähernd starken Hunger nach einem anderen Menschen verspürt. Er machte sie wahnsinnig, ihr Blut rauschte mit den Wellen draußen am Strand um die Wette, während sie sich küssten und noch ganz andere Dinge taten, und sie sich erneut so nahe kamen, wie Menschen es nur vermögen. Meghan wünschte sich, in Charlie Storm zu ertrinken, wünschte sich, dass die plötzliche Flut sie beiden mit sich riss, hinaus aufs weite Meer, wo niemand sie stören konnte außer der See selber. Meghan liebte den Ozean, fühlte sich geborgen in seiner Nähe, fühlte sich dort Zuhause, wie im Schoße einer gütigen Mutter, doch wie jeder in der Stadt am Meer, deren Namen niemand weiß, wusste sie auch um die vielschichtigen Tücken, über die das endlose Nass verfügte. Und sie war stets vorsichtig, forderte den Ozean zwar gern heraus, nahm sich aber davor in Acht, von ihm herausgefordert zu werden. Denn es war immer das Meer, das den Kampf mit einem Menschen gewann.
Wer wusste das nicht spätestens nach dem Film Titanic?

Stunden später, die beiden waren nach dem Bootshaus ihrer Wege gegangen, mit der Vereinbarung, sich am Abend wieder zu treffen, und Abschied voneinander zu nehmen, sahen sie sich wieder. Meghan saß in einem kleinen Restaurant, sah nach der Nacht nicht annähernd müde oder erschöpft aus, während Charlie sich am liebsten sofort in seinem Bett verkrochen hätte, obwohl doch eher aus Angst vor dem Abschied, als aus Erschöpfung. Ein Marine war nicht so leicht zu erschöpfen. Eher im Gegenteil, je länger er wach war, desdo ausgeruhter fühlte er sich, auch wenn das Außenstehenden vielleicht ein bisschen unlogisch erscheint.
„Hallo“, sagte er, als er sich zu ihr an einen kleinen, hölzernen Tisch am Fenster gesellte. Sie erwiderte nichts, schaute hinaus auf den Ozean, der unter der tief stehenden Sonne glitzerte wie ein Diamant.
Charlie betrachtete das Mädchen lange, sie sah umwerfend aus, obwohl sie ihm gestern Abend am Feuer, als sie wild wie das Meer tanzte und er es in ihren Adern zu spüren glaubte, besser gefallen hatte.
Meghan Aylen trug ein schulterfreies, dunkelblaues T-Shirt aus Wolle, eine bunte Surfermütze und einen Jeansrock, der knapp über ihren Knien endete.
Er fragte sich, was sie dachte, während sie das Meer betrachtete, das in gleichmäßigen Wellen auf sie zugerollt kam. Es war Flut.
Seltsam, dass sie sich erst so kurz kannten, so wenig voneinander wussten und doch schon die intimsten Dinge miteinander erlebt hatten.
Endlich drehte sie sich zu ihm und lächelte ihm leicht zu. Mein Gott, dachte er, dieses Mädchen ist unglaublich. Und genauso undurchschaubar.
„Hi Charlie.“, sagte sie und bei dem Klang, wie sein Name sich aus ihrem Mund anhörte, wurde ihm warm.
„Ich hab über deine Worte von heute morgen nachgedacht. Das mit dem Ertränken, was du gesagt hast.“ Er nickte, als Zeichen, dass er wusste, was sie meinte. Sie brauchte es nicht weiter zu erklären.
Meghan. Du bist wie das Meer. Tief und wild. Ich will in dir ertrinken, aber bitte ertränke mich nicht. Das hatte Charlie gesagt und es auch genauso gemeint.
„Ich denke, ich habs verstanden.“, fuhr sie fort und er schenkte ihr all seine Aufmerksamkeit. „Das Meer nimmt, aber es zerstört auch. Manche Leute wissen es nicht, aber das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Zum Beispiel die Asche von Toten. Sie wird über dem Meer verstreut und dieses nimmt sie in sich auf. Das ist gut. Der Tote kommt dahin zurück, wo er her gekommen ist. Aber wenn das Meer zerstört, dann lernen die Menschen, es zu respektieren, wenn nicht gar zu fürchten ...“
Weiter kam sie nicht, denn der Marine bedeutete ihr, zu schweigen. Er beugte sich vor und sagte leise, sanft, vertrauensvoll, auch, wenn er wusste, dass er niemandem so einfach vertrauen sollte: „Nimm mich, wie ich bin, Meghan. Aber zerstöre mich nicht mit deiner Macht.“ Meghan sah ihn an, in ihren Augen funkelte das Meer, er spürte, dass sie tat, worum er sie gebeten hatte. Sie nahm ihn auf. Nie war er jemandem dankbarer gewesen.
„Ich hab keine Macht, Charlie.“, sagte sie dann und strich sich eine ihrer wilden, roten Strähnen aus dem Gesicht.
„Doch“, antwortete er. „Du hast Macht über mich. Ich bin dir erlegen. Du verfügst jetzt über mich, wie es sonst nur das Meer kann.“
Wieder lächelte sie, er sah zum ersten Mal, wie sie verlegen war, wie ihre Wangen von einem sanften, weichen Rotton überzogen wurden und sie ihren klaren Blick abwendete, nur, um ihn Sekunden später wieder ernst und erstaunlich erwachsen für ein so junges Mädchen anzuschauen.
„Wenn das so ist, Marine“, flüsterte sie, kaum merklich anzüglich, dies ungewollt, ernst uns stark. Immer noch wild wie das Meer. „Dann hast auch du Macht über mich. Ich will in dir ertrinken, aber bitte ertränke mich nicht.“, wiederholte sie seine Worte und lächelte leicht. Er nickte. „Ich verspreche, dass ich dich nie ertränken werde, Kleine!“, sagte er mehr zum Scherz als ernst gemeint. Sie nickte und meinte: „Gut. Ich versprechs auch. Lass uns was zu Essen bestellen, ich hab einen Bärenhunger. Du nicht?“
„Und wie ich einen Bärenhunger hab! Was gibt’s denn hier so?“ Sie zuckte mit den Schultern, dann blinzelte sie ihn neckisch über ihre Speisekarte hinweg an. „Alles, was du willst, Marine.“
Er grinste und sie bestellten sich beide Fischfilets frisch aus dem Meer.
Während sie schweigend das Essen genossen, wurden Charlie Storm zweierlei Dinge klar.
Erstens: der Fisch hier war unglaublich gut gewürzt und man merkte, dass er frisch war.
Zweitens: Das hier war nicht das letzte Essen, das er zusammen mit Meghan Aylen in der Stadt am Meer, deren Namen niemand kennt, zu sich nahm.
Ach ja ... und drittens, ein nicht ganz unwichtiger Punkt, der ihm in diesem Moment allerdings noch weit entfernt vorkam: Er hatte einen Grund gefunden, um in Afghanistan weiterhin um sein Leben zu kämpfen. Meghan war dieser Grund.
Und auch Meghan wurde so einiges klar, an diesem Abend. Nicht, dass der Fisch fantastisch war, das wusste sie schon lange. Nein, sie begriff, dass es eine Welt hinter dem Ozean, außerhalb dieser Stadt, dieser Insel gab. In ihr brannte der Wunsch, sie kennen zu lernen.
Außerdem wurde ihr klar, dass sie in Charlie Storm jemanden gefunden hatte, mit dem das Leben ein Abenteuer werden würde. Zwar nicht gerade ein Spielplatz, aber schön, voller Höhen und Tiefen, ein Leben, das mit dem Meer verbunden sein würde. Mutter, dachte Meghan und lächelte, als in dem Moment die erste Flutwelle gegen das Stelzenhaus schwappte.
Als sie sich nach dem Essen voneinander trennten, küssten sie sich. Lange.
„Hier, das ist für dich. Damit du mich wieder findest.“, sagte Meghan und gab dem Marine einen Zettel, er entfaltete ihn und fand ein Gedicht darin, geschrieben von Meghans Hand in einer krakligen, tintenblauen Schrift. Auch das Meer war mittlerweile tintenblau, fast wieder schwarz. In dieser Farbe, das gestand Charlie sich ein, mochte er es am Liebsten. Meghans Augen sahen ihn an, hatten, wie sooft die Farbe der Wellen angenommen. Er liebte diese Augen.
„Die Stadt am Meer“, sagte sie und riss ihn aus seinen, nein, nicht ganz jugendfreien Gedanken, in denen er gerade zu versinken drohte. „Was?“, fragte er verwirrt. Meghan lächelte und deutete auf das Gedicht. „Die Stadt. Sie ist wie diese Stadt. Wenn du das liest, weißt du, wo du mich findest.“
Charlie nickte, dann schüttelte er den Kopf, schließlich sah er sie einfach nur an. „Ich werde dich auch so finden, Meghan. Ich muss nur nach dem Meer suchen, dann suche ich auch automatisch nach dir. Und ich werde dich auch finden.“ Er wollte ihr den Zettel zurück geben, doch sie steckte ihn ihm ihn die Hosentasche, kniff ihn ganz zufällig, natürlich, gewiss nicht extra, in den Po und grinste. „Ich will aber, dass du es behältst. Es soll dir Glück bringen.“
Da küsste er sie, dieses Mädchen, fast noch ein Kind, so mit dem Meer verbunden, dass es dies sogar als Mutter bezeichnete. Mutter, dachte Charlie und lächelte, während sie sich immer noch küssten. Sie schob ihre Hände unter sein T-Shirt und ja, auch er wollte, ach was, verlangte nach mehr von ihr, von dem Gefühl, das sie ihm gab, wenn sie sich liebten. Doch er riss sich los. Das Meer war zu aufgewühlt an diesem Abend.
„Ich komm wieder, Meghan. Keine Angst, ich vergess dich schon nicht.“
Das letzte, was sie zu ihm sagte, waren seine Worte: „Lass mich in dir ertrinken, aber ertränke mich nicht. Geh.“ Er folgte ihren Worten, strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, küsste ihr die Träne von der Wange, die nicht dort blieb, wo sie sein sollte. Sie schmeckte nach Salz.
Mit diesem Geschmack im Mund, dem Geschmack nach Meghan und dem Ozean, drehte er sich um und ging fort, in eine ungewisse Zukunft, die aus Fressen und Gefressen werden bestand.
Meghan sah ihm lange nach, weinte, konnte die Tränen, die wie ein Fluss aus ihren Augen strömten, nicht aufhalten. Bitte lieber Gott, flehte sie, obwohl sie eigentlich nicht an Gott glaubte, bitte sei bei den Männern da draußen, hilf ihnen. Lass sie spüren, dass du da bist ...
„Und pass auf Charlie auf ... Meinen Marine ...“, flüsterte sie und wischte sich die Tränen, den Ozean von den Wangen.
Ihr schmaler Schatten bewegte sich lautlos auf das Meer zu.

Er hatte es nicht vergessen, das Gedicht, auch nicht den Sommer auf der Insel, in der Stadt am Meer, dessen Namen niemand weiß. Mittlerweile konnte er die Zeilen auswendig, hatte sie jeden Abend auf seiner Pritsche gelesen, laut aufgesagt, gesungen, manchmal auch geschrien. Hatte sie geweint. Schließlich hatte irgendwer sein Flehen erhört. Er war angeschossen worden, tiefer Schuss, nicht heilbar. Der Arm würde ihm sein Leben lang fehlen, dort, wo er einmal gewesen war, war jetzt ein dicker Verband. Die Protese trug er in seinem Koffer, sie hatte ihn viel gekostet, doch der Gedanke, nur noch mit einem Arm durch die Welt zu gehen, hatte ihn zu sehr geschmerzt. Was war schon das bisschen Geld? Wenigstens war er vom Kriegsdienst entlassen worden, zur Trauer seiner Kameraden. Er betete jeden Tag, dass er einmal mit ihnen an einem Strand in einer Stadt, deren Namen niemand kennt, sitzen, laut lachen und Bier trinken würde.
Am deutschen Flughafen kramte er es wieder aus der Tasche, das Gedicht. Er wusste es auswendig, ja, aber er schaute sich die Schnörkel der krakligen Schrift des Mädchens, an das er jeden einzelnen Tag gedacht hatte, das ihm in den schlimmsten Momenten Mut gegeben hatte, noch einmal an, atmete tief ein. Sah sich nach einem Taxi um.

Meghan war siebzehn. Seit dreizehn Tagen war sie siebzehn. Sie saß in der „Silbermöwe“ und lernte fürs Abi, als ein junger Mann in Militärhosen den Raum betrat. Die Militärhosen waren das erste, was sie bemerkte. Langsam hob sie den Kopf von ihren Blättern, starrte Charlie Storm eine lange lange Zeit an.
In seinem Kopf kreisten in dem Moment tausend Gedanken um die Wette. Sie erkennt mich nicht. Sie will mich nicht mehr ohne meinen Arm. Sie hat einen Neuen. Mein Gott, wie schön sie ist, war das immer schon so? Nein, sie ist erwachsener geworden.
„Hallo Meghan“, sagte er und wollte sich ihr gegenüber setzen, doch da sprang sie auf und kam aus ihn zu, blieb kurz vor ihm stehen und starrte ihn an.
„Wo ist dein Arm?“, fragte sie und sah ihn an. Jeder andere hätte jetzt auf den Stumpft gestarrt, doch Meghan Aylen war nicht wie jede andere. Sie sah ihm in die Augen und wie immer stockte ihm bei diesem Blick der Atem.
„Verloren. Aber nicht so schlimm, sonst hätt ich noch länger da bleiben müssen.“, antwortete er und zuckte mit den Schultern.
Draußen rauschte das Meer, ein Kinderlachen erklang, es war Frühling. Der Ozean hatte die Farbe ihrer Augen.
Er sah sie an, lächelnd schaute er in ihr von der Sonne gebräuntes Gesicht, suchte die Liebe darin. Fand sie in ihren Augen, blaugrün wie der Ozean am Morgen. Fand sie auf ihren Lippen, weich wie die kühle Umarmung des Wassers oder das Gefühl von Sand unter den nackten Füßen. Fand sie in dem Rot ihrer Haare, wie ein Sonnenuntergang über dem glitzernden Meer oder das Dünengras im Wind eines anbrechenden Tages. Fand sie in ihrem Blick, neckisch und jung.
Ja, sie war noch sehr jung. Jung wie ein neuer Tag, jung wie jede neue Welle, die an den grauen Strand gepült wird. Viel jünger als er, auf dessen Schultern doch schon sechsundzwanzig Jahre lasteten. Auf ihren erst siebzehn. Siebzehn. So jung. Schön wie ein Drachen, fliegend im Wind der See.
Mit einem Schritt überwand er die Entfernung zwischen ihnen, zog sie an sich und presste seine Lippen auf ihre. Sie erwiderte seinen Kuss und in ihm wallte eine mächtige Sehnsucht nach diesem Mädchen und seinem Zuhause, dem Meer, auf. Endlich war er wieder hier.
 



 
Oben Unten