kleine Offenbarung

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S

Stoffel

Gast
Hallo,

liefert passende Bilder dazu..
musste auch schmunzeln am Schluß..*g*
Thats life live...

ein Vorschlag, denn ich halte es für überflüssig und es macht was kaputt..(ok, nur meine eigne Meinung)
DAS würde ich weg lassen:

"Und vielleicht
hat er die Treppe nur benutzt,
weil er auf der Rolltreppe
erst recht
gefallen wäre."

Warum weißt Du nicht und es gäbe noch andere Gründe, wieso dann den einen aufzählen? Auch wenn es dein Gedanke war.

lG
Stoffel
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo black sparrow,

Du schreibst hier eine interessante Beobachtung in gefälligen Worten auf. Allerdings vermisse ich komplett eine lyrische Seite.

cu
lap
 
Hallo Stoffel und Lapismont

Nun, Stoffel, ich denke über deinen Vorschlag nach.
Da ist was dran, glaube ich.
Und, lapismont, kann sein, dass es nicht sehr lyrisch ist,
aber es heißt ja PROSA- Lyrik, und ich dachte,
es passt dahin.
Es ist eben so passiert und aufs Papier gerutscht.
Mehr kann ich dazu nicht sagen. Hätte ich es lyrischer gemacht, als es war, würde es vielleicht nicht mehr echt
wirken. Das Schreiben passiert eben einfach, und dann
prüf ich die Rechtschreibung nach, mehr nicht.

Machts gut

black sparrow
 

Willibald

Mitglied
offenbarung

kleine Offenbarung

Tja, ein schöner Text, in mehrfacher Hinsicht

(1)
also zuerst zum schönen, zum lyrischen Bild:

Der Text stöckelt nicht auf hochhackigem Schuh oder gar auf Stelze daher. Das ist ein Alltagsgeschichte, ein Blitzlicht aus dem Bahnhof. Ein körperlich behinderter Mann steigt über eine Trep-pe nach unten. Das beobachtende Ich nimmt wahr, wie er Luft holt:. Das Risiko einer alltäglichen Handlung für einen, der nicht alle Körperkräfte einsetzen kann.

Dass gesunde, nicht behinderte Menschen die Rolltreppen benutzen, ist hier nur ein Schweifgedanke. Der nicht behinderte Zuschauer ist fasziniert, gleichzeitig gibt es eine kurze Begegnung mit zwei Freundinnen, die benutzen den saloppen Code, haben Kontakt miteinander, küssen sich, wollen wissen, wann und ob man zu Hause ist.

Ein bisschen ist das so: die zwei Freundinnen nehmen die Leistung des Krückenmannes nicht wahr. Das lyrische Ich nimmt sie wahr. Das, was mit dem Krückenmann nachher sein wird, bleibt außen vor. Die Beziehung der zwei Mädchen ist evident, die des Krückenmannes bleibt im Dunklen. Es gibt so etwas wie weitergehende Empathie beim lyrischen Ich: es würde den Krük-kenmann auffangen, eine weitere Beziehung, ein Kontakt zum Krückenmann ist angedacht, aber nicht realisiert. Er will auch - so das lyrische Ich - vielleicht gar nicht angesprochen werden: Mitleid, Exotik, was auch immer die Motive dafür sein mögen, der Krückenmann will sie nicht realisieren,

(2)
Auffallend ist das leicht philosophisch-religiöse Vokabular - kleine Offenbarung, magischer Knotenpunkt ...

Ich denke, den magischen Knotenpunkt sollte man weglassen, die Rezeptionslenkung läuft schon ausreichend und gar nicht knapp über "kleine Offenbarung". Was - so fragt man sich -wird hier offenbart?

Das Geheimnis scheint im Transitorischen zu stecken. Da sind Paare, Passanten. Da gibt es einen festen Ort, der mit "wenn" eingeführt wird. Da gibt es eine sehr individuelle Bildfolge an diesem festen Ort, der Krückenmann bewegt sich, einer schaut zu, zwei Freundinnen verabschieden sich. Das Bild ist vorüber, es bleibt im Gedächtnis des Erlebenden. Es bleibt, es sucht seinen Weg ins Bewusstsein, ins Gedächtnis des Lesers.

Bis zu einem gewissen Grad ist die Begegnung des Gedichtes mit dem Leser zufällig-transitorisch. Seltsamerweise hat diese schnelle Begegnung den Reiz der pathosfernen Vertie-fung. Da ist eine kleine Ansprache da, da ist ein Verharren im Bild. Da ist eine Leistung zu se-hen, die uns keine Schwierigkeiten macht, die wir gesund sind. Seltsam, aber, hier sehe ich einen kleinen humanen Reflex. Einfühlung, die eigentlich Dauer verlangt, in eine momentane Situati-on. Wie gesagt, der "magische Knotenpunkt" ist vielleicht ein bisschen zu massiv.

(3)

Nebenbei: der atmende Rhythmus z,B. in

Er wartete einen Moment,
atmete tief ein und aus,
nahm seine Stöcke
in die rechte Hand
und hielt sich mit der linken
am Geländer fest.
Dann begann er mit dem Abstieg.
Er brauchte ewig,
und je näher er mir kam,
desto mehr war ich auf dem Sprung,
ihn aufzufangen, falls er stürzte.

Aber er schaffte es
und stolperte an mir vorbei.

Ich wollte ihm sagen,
dass ich ihn bewundere,
aber ich tat es nicht,
denn er machte nicht den Eindruck,
überhaupt angesprochen werden zu wollen.

Und vielleicht
hat er die Treppe nur benutzt,
weil er auf der Rolltreppe
erst recht
gefallen wäre.

... dieser atmende Rhythmus, diese Folge betonter und unbetonter Silben, hat etwas mit nicht überhöhtem Alltag zu tun, aber er macht dieses Alltagserlebnis zu etwas Tragendem, und so zu etwas Besonderem, eine kleine Epiphanie, ein Erkenntnismoment, ein Berührungsmoment.

Fazit:

Ein sehr schönes prosaisches Gedicht, spielend mit der Poesie der Prosa. Und der Compassion seiner Passanten, der im Gedicht und der vor dem Gedicht, die sich bald im Gedicht finden..

Feiner Text, das, hat Aenigma und Levitation, hat Rolltreppe und Rolltreppenvermeidung. Und genaue Wahrnehmung. Thanks!
w
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Willibald,

Du schreibst :
dieser atmende Rhythmus, diese Folge betonter und unbetonter Silben, hat etwas mit nicht überhöhtem Alltag zu tun, aber er macht dieses Alltagserlebnis zu etwas Tragendem, und so zu etwas Besonderem, eine kleine Epiphanie, ein Erkenntnismoment, ein Berührungsmoment.
Das habe ich nicht verstanden. Ich kann keinen besonderen Rhythmus entdecken. Die Hebungen verlaufen den Sätzen entsprechend in bester Prosa.
Eine "göttliche Erscheinung" ist doch recht übertrieben.
Und das der Rhythmus das vermitteln soll, sehe ich nicht so. Eher gibt die Schriftform dem Text einen Rhythmus und da sehe ich die Rolltreppe nicht.

cu
lap
 

Willibald

Mitglied
Prosarhythmus und Epiphanie

Dear Lapismont,

Du hast sicher weitgehend Recht: Wenn man die vage Formulierung "Wechsel von betonter und unbetonter Silbe" im Wortsinn nimmt, dann liegt in dem Rolltreppengedicht kein alternierendes Metrum vor. Da hab ich mich schlampig ausgedrückt.

Im Hinterkopf hatte ich, was es an freien Rhythmen so alles gibt, der junge ("Prometheus") und der alte Goethe haben so etwas geschrieben, Brecht hat dazu einen theoretischen Aufsatz gefertigt ("über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen"), dazu war in meinem Hinterkopf der


Albertsen, Leif Ludwig: Neuere deutsche Metrik
(Germanistische Lehrbuchsammlung, Band 55 B)
ISBN 3-89693-455-4 (2. überarb. Aufl. 1998)
190 Seiten, Kt., EUR 27,00

mit seinem 7. Kapitel:

Freie Rhythmen und Verwandtes (§§ 51-62)
§ 52: Über Poesie und Optik
§ 53: Der frühe Klopstock
§ 54: Der späte Klopstock
§ 55: Goethe, Schiller etc.
§ 56: Klopstockepigonentum in unserer Zeit
§ 57: Die Mittelachse, besonders bei Arno Holz
§ 58: Brecht über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen
§ 59: Zunehmendes Aufgeben der festen Leserichtung
§ 60: Konkrete Lyrik
§ 61: Heute
Nachbereitung des 7. Kapitels (§ 62)


Hier die Skandierung vom aktuellen Text

Er wartete einen Moment,
- x - - x - - x
atmete tief ein und aus,
x - - x x - x
nahm seine Stöcke
x - - x -
in die rechte Hand
(x) - x - x
........
Und vielleicht
x - x
hat er die Treppe nur benutzt,
x - - x - x - x
weil er auf der Rolltreppe
- x - - x - -
erst recht
- x
gefallen wäre.
- x - x -


Hier zwei Beispiele von "Hochwertlyrik" in freien Rhythmen, wobei der Jandl-Text sich in ein rhythmisches Wiederholungsmuster einschwingt.

BERT BRECHT
Lob der Vergeßlichkeit
Gut ist die Vergeßlichkeit!
Wie sollte sonst
Der Sohn von der Mutter gehen, die ihn gesäugt hat?
Die ihm Kraft seiner Glieder verlieh und
Die ihn zurückhält, sie zu erproben.
(....)
Wie sollte der sechsmal zu Boden Geschlagene
Zum siebenten Mal aufstehen
Umzupflügen den steinigen Boden, anzufliegen
Den gefährlichen Himmel?
Die Schwäche des Gedächtnisses
verleiht dem Menschen Stärke.


ERNST JANDL
was sie dir tun können
was können sie dir tun?
dir die zunge ausreißen.
ein besonderer redner warst du nie.
dir die augen ausstechen.
hast du nicht genug gesehen?
dich deiner mannbarkeit berauben.
viel hast du als mann nicht gegolten.
deine finger abtragen.
du solltest ohnehin nicht in der nase bohren.
dir die füsse abhacken.
in deinem alter wird man seßhaft.
dich bis zum irrsinn foltern.
für verrückt wurdest du schon längst gehalten.

Zum Epiphaniebegriff:

Er wird ursprünglich in dem mystisch-religiösen Sinnbezirk angesiedelt, hat aber inzwischen eine Ausweitung erfahren, die ihm vielleicht auch die Trennschärfe nimmt: Joyce spricht in dem tollen - weil nicht so avantgardistisch zerissenen - Roman "Porträt des Künstlers als junger Mann" mehrfach von der "plötzlichen Erfahrung" der Heiligkeit des Alltäglichen, ob das jetzt Lektüreerfahrungen, Eros-Erfahrungen oder anderes ist, was die katholische Kirche sicher nicht als Epiphanie bezeichnen würde.

Mit hat die Joyce-Formel "Sakralisierung des Profanen" recht gut gefallen. Auch die moderne Diskussion um das "Erhabene" (das Sublime), die gerade an Unis läuft, zielt in diese Richtung.

Das Transitorische, das ich so betone, hat Berührungen zu Botho Strauß und zu Baudelaire und Mallarme. Die haben eine Ästhetik daraus entwickelt.

Kurz und gut, Dein Einwand ist mehr als berechtigt, dies hier ist ein Präzisierungsversuch. Hoffentlich wird er nicht als hochhackige Promenadenstelzerei verstanden.

Sei herzlich gegrüßt und Vale
w
 

Willibald

Mitglied
lyrisches ich und so

Dear scriptor, black sparrow!


Dein schöner Text überlässt es dem Leser zu erschließen, worin die Offenbarung für das lyrische Ich besteht.

N.B.

Ich denke, man verwendet den Begriff am besten im tecnischen Sinn: Es ist ein Pronomen und bezeichnet die Orientierungsfigur, welche man als Leser ansetzt, um alle Bilder, Reflexionen u.ä., die sich in den Textzeilen befinden, auf einen Träger zurückzuführen.

Auch falls das Pronomen fehlt, setzen wir unbewusst eine latente Orientierungsfigur an, in deren Bewusstsein uns der Text führt.

Bei der Bestimmung der Botschaft habe ich sehr stark das Transitorische betont, also die schnelle Zufallsbegegnung ohne vertieften Kontakt und die "geheimen" Botschaften, die wir in solchen Momenten empfangen oder zu empfangen glauben.

Im Hintergrund steht der Gedanke, dass es einen geheimnisvollen Zusammenhang aller Dinge gibt, sei er religiös fundiert, sei er durch den Zufall und die Evolution bedingt. Auf jeden Fall gibt es das Erlebnis "magischer Momente" im Alltag oder auch in besonderen Situationen. Die wählen sich dann gern den Sprecher und dessen Text.

Dass die schwere Behinderung des Mannes dem lyrischen Ich die Geringfügigkeit eigener Probleme in zurechtrückender Weise offenbart, ist im Subtext kaum angedeutet (man vergleiche das "bewundert"). Vielleicht wäre für diese Lesart ein kleiner Hinweis einzubauen. Damit würde sich das Deutungsangebot in diesem schönen Text erweitern und vertiefen.

Sei gegrüßt

w aes
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Willibald,

freie Verse sind in Deutschland auch nie problematisch gewesen. Da hattens die Italiener schon schwerer.

Deine Ausführungen zu Epiphanie sind sehr interessant.
Also das magische im Moment.
Ein Ereignis das dich staunend nur zuschauenlässt. Ja das trifft den Text hier sehr gut.
Wieder was gelernt.

Dankeschön und
cu sagt
lap
 

Stefan_Senn

Mitglied
finde den text gut, kleine beobachtungen des alltages sind es die bei bemerken den unterschied ausmachen zwischen einem ignorant, der diese nicht bemerkt hätte und einem nennen wirs mal "guten menschen". allerdings habe ich eine winzigkeit zu bemängeln: diese genaue beschreibung der lokalität finde ich eher überflüssig
 
Hallo lapismont und willibald,
zu euren Antworten kann ich nur sagen, ich hab
auch was gelernt! So kann ich den Begriff
"Lyrisches Ich" akzeptieren.

Hallo Stefan, danke für die Kritik, der ich aber nicht
so ganz zustimmen kann.
Ich finde die Beschreibung des Ortes schon wichtig,
und ich bin leider kein guter Mensch...

Machts gut

black sparrow
 
S

Stoffel

Gast
guten Abend,

lange Zeit hatte ich null Ahnung, was das "lyrische ICH" ist.
Dann wusste ich es und war froh, dass es diese Bezeichung gibt.
Manchmal nämlich, wenn meine Gedichte, NICHT authentisch sind mit mir, ich etwas allgemein halte, etwas erlebtes eines anderen erzähle, oder gedachtes, was nicht mit MIR zu tun hat, dann erzähle ich vom "lyrischen Ich".
Beinhalten meine Gedichte MICH...dann gibt es das nicht. Dann bin ICH das, nicht das "lyrische Ich".
Ist das so ok?

Du hast wunderbare Kommentare bekommen, sehr gut ausgedrückt..wieder etwas zum nachdenken und dazulernen.Finde ich:)

lG
Susanne
 

Willibald

Mitglied
lyrisches Ich

Hm, noch mal ein bisschen was zum lyrischen Ich

Orientierungsfigur in der Textwelt und in der Kommunikation mit dem Leser:

der Leser setzt bei jedem Gedicht voraus, dass es einen Sprecher gibt, der einen bestimmten Standort einnimmt, einmal in seiner Welt der Impressionen, dann in seiner Beziehung zum Leser.

Das heißt, wir erleben mit seinen Augen Raum und Zeit der Welt, die im Text angesprochen wird. Außerdem hat dieser Sprecher vielleicht so etwas wie eine mehr oder weniger deutliche Einstellung zur Welt, vielleicht sogar so etwas wie eine "Weltanschauung". Auch die ist mehr oder weniger deutlich spürbar. Das lyrische Ich ist so die Orientierungsfigur, die in einem Gedicht eingebaut ist.

Das gilt auch dann, wenn wir den Eindruck haben, dass die Orientierungsfigur für sich allein die Welt ausbreitet, also sozusagen für sich meditiert. Gedichte sind zunächst einmal kleine Selbstgespräche. Zunächst einmal.

Textsignale:

Oft, aber nicht immer taucht im Text das Pronomen "ich" auf, dann haben wir sozusagen ein deutliches Signal für die Anwesenheit der Orientierungsfigur. Das Signales kann auch verdeckt dasein, etwa bei dem Imperativ "schau". In dieser Befehlsform gibt es einen Sprecher, der einen anderen anspricht ("Ich sage dir, du sollst schauen").

Auch wenn es überhaupt keine Pronomen-Signale gibt, spüren wir die Anwesenheit eines solchen lyrischen Ichs oder setzen sie voraus. Das ist einfach unsere aus dem Alltag abgesicherte Kenntnis, dass es keine sprachliche Äußerung ohne Sprecher gibt.

Beziehung zum realen Autor:

Ähnlich wie in einem Nachttraum oder in einem Tagtraum Figuren auftauchen können, die in sehr enger Verbindung zum träumenden Ich stehen (man träumt von sich selber) oder aber fremder sind, aber eben doch vom realen Ich geträumt werden, ähnlich ist die Beziehung des realen Autors zum Gedicht und dessen lyrischen Ich. Enger, ganz eng oder weiter.

Ich denke, dieses "lyrische Ich", dieses "Poetische Ich" ist für uns Leser eine Art von Einstiegsstelle in den Text. Besonders schnell zugänglich, wenn wir eben ein deutliches Textsignal finden, wie es die Pronomen der ersten Person sind.

Das "poetische Ich" und das "Ich" in Alltagskommunikation

Das "poetische" oder "lyrische" Ich ist ein bisschen anders als das "Ich" der Alltagskommunikation. Hier wird oft von einem sehr individuellen Ich eine Aussage gemacht, das Ich ist ganz konkret.

Das "poetische Ich", das "lyrische Ich" ist zwar auch sehr individuell, wird aber vom "Gesprächspartner", der sich ja für kurze Zeit aus seiner Alltagswelt von Beruf und Arbeit und drängenden Fragen bei der Lektüre zurückzieht, als ein "offenes Ich" verstanden. Es schenkt uns die Option, uns auf Standort und Standpunkt einzulassen, uns sozusagen für die Zeit der Textlektüre mit dem lyrischen Ich zu identifizieren und in einer Art von meditativer Trance den Bildern, Gefühlen und Erinnerungen nachzugehen, die das lyrische Ich formuliert und die beim Leser ausgelöst werden.

Dass wir oft auch in der Alltagskommunikation, wenn sie tief und herzlich ist, unser Ich öffnen können und dass wir umgekehrt oft Gesprächspartner finden, die sich ganz auf unsere momentane Situation einlassen, das ist kein logischer Bruch oder Widerspruch in den vorigen Ausführungen: Vielmehr zeigt es, wie aus dem Alltag bekannte Erscheinungen, wenn sie sich besonders verdichten, das entsteht, was wir Literatur nennen.

Poetischer Mehrwert:

Sprache ist eine System von Worten und Wortverbindungsregeln. Worte sind eigentlich gemeinsame Abkürzungen für gemeinsame Vorstellungen. Vorstellungen, das wissen wir, können oft sehr umrisshaft bleiben.

Ein Adler ist in der Normalsprache erstmal nur ein großer Vogel mit ganz bestimmten biologischen Merkmalen, die ihn von anderen Vögeln absetzen. Daneben schafft es aber die Sprache auch, all das, was noch in einem Adler "drinsteckt" anzuskizzieren: Seine Bedrohlichkeit, seine Wildheit, seine Majestät. Vielleicht kann man diese Zusatzvorstellungen als "poetische", als bildsatte Vorstellungen bezeichnen.

Poesie ist oft - nicht immer - darauf aus, mittels Sprache die Alltagsvorstellungen und ihren poetischen "Mehrwert" zu fassen. In der "Kleinen Offenbarung" ist so ein "Mehrwert" da, es leuchtet ein magischer Moment auf, der plötzlich für das lyrische Ich Bedeutungen entfaltet, die im oberflächlichen Schauen beiseitebleiben (müssen.

Magische Momente und Epiphanien:

Naja, und wir erleben und entdecken das, weil das lyrische Ich uns an seiner tieferen Vorstellungswelt teilhaben lässt. Weil es eine Situation aufbaut, die sehr genau gestaltet ist, da gibt es ein setting, da gibt es wie in der Musik Leitmotive, Entsprechungen und Kontraste. Da gibt es einen Zeilenumbruch, der bestimmte Wörter plötzlich isolierter hervortreten lässt. Da gibt es einen freien Rhythmus, der doch bestimmte Wortfolgen markiert.

Eine kleine Epiphanie, eine wunderbare Erscheinung, ein Erkenntnismoment ohne abstrakte, nüchterne oder gar wissenschaftliche Sprache.

Wenn man heutige Forschungen zum Religiösen anschaut, dann findet man schon eine Übereinstimmug in den Schulen: Es scheint Bewusstseinregionen zu geben, die bei bestimmten Signalen angeregt werden: Es gibt bei der Beobachtung der Natur das Gefühl, es mit etwas Erhabenem zu tun zu haben, sei es wild oder gütig oder indifferent. Es gibt das Gefühl, dass es eine unsichtbare Macht gibt, die uns schützt oder uns vernichtet oder was auch immer.

In der Musik, in der Meditation, in Gebeten, in der Dichtung, vielleicht besonders stark in der Lyrik, entstehen solche Ahnungen voneiner Macht außerhalb von uns. Versteckt, aber fühlbar in den "Dingen" der Welt.

Ob so eine Macht wirklich existiert, lässt sich kaum prüfen. Ob sie eine Illusion ist, die unser Gehirn uns vorgaukelt, ist kaum entscheidbar. Dass Texte uns ansprechen, dass sie solche Bilder und Modelle in unserem Bewusstsein wachrufen, ist sicher real.

Die Sehnsucht und die Bedürfnisse vieler kann man in diesem Forum erleben, auch kann man erleben, dass Texte Sehnsüchte ein bisschen stillen. Das ist gar nicht wenig.

Salute

mit der Bitte, die vielen Zeilen nicht als oberlehrerhafte Belehrung zu verstehen, selbst wenn es dem bedenklich nahekommt.

Einen wunderschönen Tag, auch wenn er grausam heiß ist, wünscht
 



 
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