landeanflug (sonett)

4,60 Stern(e) 5 Bewertungen

Tula

Mitglied
landeanflug


ein flimmerndes netz wächst aus nächtlicher stille
und zieht uns hinab wie ein magischer sog
umsonst kreischt der vogel aus stahl seine hülle
erzittert im sturz in den gleißenden trog

in steter verzweigung unendlicher fäden
beleben jetzt perlen aus licht das gewebe
umsonst scheint das streben nach irdischem eden
denn über der stadt hängt ein schwert in der schwebe

im funkelnden meer zwischen hoffnung und sorgen
im kreislauf von lieben, verzeihen und rächen
bleibt manches im schatten der herzen verborgen

wird heut' noch der traum eines lebens zerbrechen
im grund von verzweifelt, vergessen, verloren ...
und wird auch ein neuer ins dunkel geboren
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ein daktylisches Sonett, deshalb eine Sonderform.
Aber in der Durchführung, im Inhalt, ganz sonettisch.
Gelungen!

Ja, sehr gut, gerade weil es nicht (bloß) irgendeine alte Form ausprobiert, sondern ein starkes Erfahrungsbild zeichnet und (durchaus formgerecht, wie beim Sonett üblich) darüber reflektiert.

Es ist eine besondere Sicht auf die Jewelenketten und Schatzkammern unten, vom Flugzeug aus, gerade bei der Landung. Das ist unbeschreiblich, - es sei denn, man schreibt so ein Gedicht darüber oder dazu.
 

James Blond

Mitglied
Ja, auch mir gefällt dieses daktylische Sonett sehr gut. Da ist zum einen das Thema der inneren Verzauberung bei einem nächtlichen Landeanflug, das durch den Daktylus ins Schwingen gerät.

Allerdings habe ich auch einiges kritisch anzumerken. :)

1. Die männlichen Kadenzen sind leider Mangelware, der schöne Wechsel in Q1 fällt in den folgenden Versen aus.

2. Die Kreuzreime in Q2 sind mir zu ähnlich, es entsteht so der Eindruck unsauberer Paarreime.

3. Die zurückhaltende Zeichensetzung erschwert in Verbindung mit der Kleinschrift ein sprachliches Verständnis, z.B. in V3.


Inhaltlich:

Ein Landeanflug über der nächtlichen Stadt ist faszinierend. Zugleich erhebt er die Gedanken in die Sphären einer allgemeinen Betrachtung über die Vielfalt der menschlichen Schicksale, die in Sekunden unter den Füßen vorbeirauschen. So gerät die Rückkehr in die menschliche Sphäre aus der Abgehobenheit des Höhenflugs zur philosophischen Betrachtung.

Das ist durchaus nachvollziehbar, allerdings wirkt der Schwenk aus der optischen Faszination der nächtlichen Stadt von oben in Q1 und Q2 zu den zerbrechenden Lebensträumen in T1 und T2 etwas hölzern und aufgesetzt.

Zweimal erscheint "umsonst" am Versbeginn, beide Male ist es nicht ganz nachvollziehbar. Wenn der "Vogel aus Stahl" seine Turbinen aufheulen lässt, sollte dies im Interesse der Passagiere nicht "umsonst" gewesen sein, und auch das schwebende Schwert über der Stadt wird nicht alles menschliche Streben negieren können.

Angesichts des optischen Faszinosums scheint die pessimistische Sicht auf zerbrechende Lebensträume nicht recht zu überzeugen. Wo Perlenschnüre im schwarzem Samt aufleuchten, zeigen sich Lebensräume von ihrer attraktiven Seite, gerade weil das Hässliche im Verborgenen bleibt. "im grund von verzweifelt, vergessen, verloren ..." ist daher nicht nur sprachlich etwas verrutscht; es kontrastiert auch das optische Erleben, verrät aber nicht seine Quelle. Warum vertieft sich der Text ausgerechnet in das, was gerade nicht zu sehen ist?

Grüße
JB
 

Tula

Mitglied
Hallo Mondnein, James und Patrick

Euch allen gilt mein herzlicher Dank für die ausführlichen Kommentare und super-Bewertungen! - Freut mich sehr, dass es euch gefallen hat. Die wohlwollende Kritik nehme ich ebenfalls gern an.

Das Gedicht verbindet in der Tat zwei Dinge – die Faszination des nächtlichen Landeanflugs und das menschliche Schicksal, d.h. mit Bezug auf das Verhältnis des Menschen 'als winziges Teil' mit dem 'großen Ganzen', die (anscheinbare) Nichtigkeit des einzelnen Individuums im Kosmos der modernen Gesellschaft, einer großen Stadt usw.

So wie es James treffend formuliert hat, überkommen mich immer wieder diese und ähnliche Gedanken, wenn das Flugzeug ins Lichtermeer eintaucht. Bei den Perlen, die das Netz beleben und sich wie in Ketten an ihren Fäden entlangziehen (also Autos auf den Straßen), denke ich daran, dass jede dieser Perlen mit (mindestens) einem Leben verbunden ist, mit seinen Träumen, Plänen und auch Verzweiflungen. Und auch daran, dass die 'Richtung' und das Streben jeder einzelnen augenscheinlich keinen (besser: kaum einen) Einfluss auf das Netz in seiner Gesamtheit hat.

So wie der Vogel sich (in meiner persöhnlichen Wahrnehmung) gegen sein Schicksal zu wehren scheint, ist auch der Mensch immer wieder unerwarteten Schicksalsschlägen ausgesetzt. Die gewollte Wiederholung von 'umsonst' sollte in dieser Hinsicht aber nicht als Behauptung stehen, sondern den Leser zu eigenen Gedankengängen zu dieser Frage einladen.

In einem Punkt, James, muss ich dir wirklich beipflichten: das Schwert ist blind, es teilt in beide Richtungen (Glück und Unglück) gleichermaßen aus. Dass am Ende des Gedichts die pessimistische Sichtweise zu überwiegen scheint, war nicht beabsichtigt. Eine inhaltliche Bindung zwischen den beiden letzten Zeilen könnte da helfen:

im grund von verzweifelt, vergessen, verloren
wird dennoch ein neuer ins dunkel geboren


Werde nochmal darüber nachdenken

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo Walther

herzlichen Dank für deine Worte und Bewertung

mit Wünsche für eine lyrische Woche

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Landeanflug


Ein flimmerndes Netz wächst aus nächtlicher Stille
und zieht uns hinab wie ein magischer Sog;
umsonst kreischt der Vogel aus Stahl, seine Hülle
erzittert im Sturz in den gleißenden Trog.

In steter Verzweigung unendlicher Fäden
beleben jetzt glitzernde Perlen das Spiel;
umsonst scheint ihr Streben nach irdischem Eden,
ein Irren durch wirres Geflecht, ohne Ziel.

Im funkelnden Meer zwischen Hoffnung und Sorgen,
im Kreislauf von Lieben, Verzeihen und Rächen,
bleibt manches für immer im Schatten verborgen.

Wird heut' auch der Traum eines Lebens zerbrechen,
im Abglanz der Lichter dort unten verloren,
wird anderswo sicher ein neuer geboren.
 

Tula

Mitglied
Hallo

wen es noch interessiert, habe mich nochmal rangewagt und auch einige Vorschläge berücksichtigt.
Hoffentlich nicht schlechter als das bewertete Original

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Landeanflug


Ein flimmerndes Netz wächst aus nächtlicher Stille
und zieht uns hinab wie ein magischer Sog;
umsonst kreischt der Vogel aus Stahl, seine Hülle
erzittert im Sturz in den gleißenden Trog.

In steter Verzweigung unendlicher Fäden
beleben jetzt glitzernde Perlen das Spiel;
umsonst scheint ihr Streben nach irdischem Eden,
ein Irren durch wirres Geflecht, ohne Ziel.

Im funkelnden Meer zwischen Hoffnung und Sorgen,
im Kreislauf von Lieben, Verzeihen und Rächen,
bleibt manches für immer im Dunkeln verborgen.

Wird heut' auch der Traum eines Lebens zerbrechen,
im Abglanz der Lichter dort unten verloren,
wird anderswo sicher ein neuer geboren.
 



 
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