memoiren 2. kapitel

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ida Seele

Zeit ihres Lebens nannte ich sie Oma. Nun ich aber - im Alter von über fünfzig Jahren - nicht mehr gewillt bin, die Vergangenheit zu verdrängen, kann ich diese Frau nur noch Ida nennen, denn heute weiß ich, daß sie mir keine Liebe gegeben hat, sondern daß ich für sie nur eine Beschäftigung war. Immer wieder ließ sie es mich spüren, daß ich nur eine Last für sie war; zu allem zu dämlich, für alles zu klein, ein nutzloser Esser und obendrein noch laut. Ich verdrängte die Erinnerung an diese Frau, um sie nicht hassen zu müssen. Wie in einer Zwingburg eingekreist von ihrem "Det dürfst de nich!", "Det sollst de nich!", "Det macht man nich!" und "Det brauchste nich!" wurde ich ein entscheidungs-unfähiger Mensch. Insbesondere hatte sie sehr radikale Vorstellungen davon, was ein MÄDCHEN darf und was nicht. Daher wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ein Junge zu sein. Jungs durften fast ebensoviel wie Erwachsene (nach dem, was ich aus Idas Äußerungen heraushörte). Ich wurde von allen Seiten bevormundet und gedemütigt, und ich hielt das für ganz normal. Es war mein Leben, ich hatte kein anderes, bis ich mir - bereits im Alter von vier Jahren - eine Traumwelt erfand, in der alles anders und vor allem besser war, weil ich selber darin nicht vorkam.
Als ich noch sehr klein war, war Ida der Umgang mit mir angenehm. Da war ich noch niedlich in meinem Kinderwagen, wo ich - in dem Alter, wo die sich normal entwickelnden Kinder laufen lernen - gewöhnlich angebunden wurde, damit ich nicht hinausfalle. Auch in der Wohnung hatte ich stunden-lang im Wagen zu sitzen. Laufen lernte ich durch Gerda, Irma und Waltraud. Ida war es zu mühselig, weil sie sich hätte bücken müssen, um bei den Gehversuchen meine Hände zu halten.
Die Prügelstrafe war für sie das Natürlichste der Welt. In der Bibel steht: "Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie!" Als Dreijährige versuchte ich einmal, ihr bei der Küchenarbeit zu helfen. Sie wollte etwas aus der Speisekammer holen und ich wollte in der Zeit den Pudding umrühren, wie ich es bei ihr gesehen hatte. Aber ich reichte nicht so recht an den Topf heran und riß ihn versehentlich vom Herd, wobei mir der heiße Pudding die Haut verbrannte. Aber damit war ich noch nicht genug ge-straft. Ida nahm den Rohrstock und schlug auf mich ein, bis ich wimmernd am Boden lag. Dann trat sie mich mit Füßen, bis sich ihre Wut über den Verlust des leckeren Puddings gelegt hatte.
Auch in den folgenden Monaten und Jahren drohte sie immer: "Wenn de nich aatich bist, denn sosste ma seehn, do, denn kannst de dein blauet Wunda aleehm, denn kannste dir aba freun, do, ick hau dir mit de Hand vakehrt in de Fresse, det die rote Suppe schpritzt!"
Natürlich habe ich Ida, Gerda, Irma und Waltraud sehr geliebt. Sie waren meine Fa-milie, ich kannte ja niemand anderes, und vermißte daher auch nichts. Namentlich meinen Va-ter habe ich nie vermißt, zumal ich später von anderen Kindern immer wieder hörte, daß Väter nicht so lieb und "in Ordnung" sind wie Mütter. Ich war der festen Überzeugung, daß es in anderen Familien genauso war wie bei uns. Kinder, die keine Oma hatten, habe ich heftig bemitleidet, und andere, die zwei Omas hatten, ebenso hef-tig bewundert und beglückwünscht.
Oft kletterte ich auf Idas Schoß, um mit ihr zu schmusen. Ihre Gesichtshaut war so zart und weich; ich wurde nicht müde, sie zu streicheln und zu küssen. Doch schon nach kurzer Zeit schob sie mich von sich und sagte mit öliger Stimme: "Na, du alte Schmierkatze, schmier man nich so dicke, sonst haste morjen nischt mehr." Dann wußte ich, daß die Minuten der gnädig entgegengenommenen Liebkosungen vorüber waren und wandte mich meinem Spiel-zeug oder meiner Traumwelt zu.
Häufig wurde ich von Waltraud oder Gerda geärgert. Wenn ich dann weinte, pflegte Ida in einem gewissen Singsang zu sagen: "Weene man nich, weene man nich, in de Röhre schtehn Klöße, die siehst de bloß nich!" Dann weinte ich noch heftiger, weil ich mich veräppelt fühlte, und Ida war ärgerlich.
Nahm die Streiterei mit Waltraud kein Ende, weil ich mich im Recht fühlte, sagten Ida und Gerda zu mir: "Mann, eh, der Klüjere jibt nach!" Waltraud war sechs Jahre äl-ter als ich, aber ich sollte der Klügere sein und nachgeben! Es war für mich der Gipfel der Ungerechtigkeit, daß nicht die Ältere, die obendrein der Angreifer war, sondern ich nachgeben sollte. Heute hoffe ich, daß Waltrauds Gezänk den Erwachsenen so kleinlich und lächerlich erschien, daß sie es nicht der Mühe wert hielten, sie zu ermahnen. Ich habe sehr darunter gelitten, daß Waltraud mich immer wieder ungestraft mit häßlichen Worten angriff.
Wenn Ida mir auf meine Fragen antwortete, dann meist mit Umschreibungen der Tatsachen oder gänzlich abweisend. Und ich hatte viele Fragen! Doch wenn ich diese Fragen dann an Gerda oder Waltraud richtete, bekam ich ähnliche Antworten wie von ihr (sie waren ja auch von Ida erzogen worden und wußten es nicht besser). So blieb ich unwissend und man amüsierte sich köstlich darüber, daß ich mit sieben Jahren noch an den Osterhasen, den Weihnachtsmann und den Klapperstorch glaubte und diese Ge-schöpfe gar heftig verteidigte, wenn jemand ihre Existenz anzweifelte.
Die ganze Familie fand es sehr niedlich, wenn ich in Babyworten sprach. Deshalb hatte ich mir diese Sprechweise richtig fest angewöhnt. Ich wollte, daß man mich lieb hat und man hatte mich lieb, wenn ich so plapperte. Ich merkte nicht, daß ich in Wahr-heit ausgelacht wurde.
Irma korrigierte meine Sprechweise, und ich haßte sie dafür, ich glaubte allen Ern-stes, daß sie mir die Zuneigung nicht gönnte! Noch im Alter von acht Jahren sprach ich manchmal "Babylatein", wenn ich erreichen wollte, daß Waltraud mit mir spielt.
War Waltraud nicht zu Hause, bat ich Ida, mit mir zu singen oder zu spielen. Mit dem Singen klappte es manchmal, meist sagte sie jedoch: "Mir is nich nach sing zumu-te." Oder sie stimmte ein Lied an, welches mir nicht gefiel: "Kommt de Panje Stadt hin-ein, ist so dreckig wie ein Schwein, dobsche, dobsche, dralla . . ." Ich erfuhr von Irma, daß "Panje" ein Pole ist, aber ich bezweifelte, daß alle Polen dreckig sind, denn auf ei-ner unserer Familienfeiern hatte Alfred gesagt: "Man kann nich ne janze Natzjon üba een Kamm scheern. Et jibt übaall so ne und solche." Und ich wußte, daß Polen und Frankreich die den deutschen Landen zunächst gelegenen Nachbarn sind. Mit Nachbarn stellt man sich "auf guten Fuß"; ich wunderte mich, daß Ida für die östlichen Nachbarn nur böse Worte hatte - in unserem Haus und auch in den benachbarten war sie bestrebt, in Frieden und Freundschaft zu leben. Aber die Polen waren für sie nur "Pollackn", die Franzosen jedoch ein achtbares Volk.
Mit mir zu spielen lehnte sie fast immer ab unter dem Hinweis auf ihr hohes Alter. Sie war sehr stolz darauf, so alt geworden zu sein und immer noch "rüßtich un fideel". Alle Bekannten und Verwandten sprachen ihr Komplimente für ihre aufrechte Haltung und ihren regen Verstand aus. So war sie damals für mich die liebste, beste und schön-ste Oma der Welt.
Ich war vier Jahre alt, als wir wieder einmal nach Pankow fuhren, um Gerda zu be-suchen. Wir mußten sehr lange auf den Bus warten. Wir standen dicht an der Bord-steinkante, weil Ida als erste einsteigen wollte, um einen Sitzplatz zu bekommen. Da sie mich zum Stillstehen zwang, begann ich, mir ein Märchen auszudenken und war bald tief in meine Träumerei versunken. Als der Bus urplötzlich direkt vor meiner Nase hielt, erschrak ich derart, daß ich aufschrie. Ida wunderte sich lautstark: "Du blödet Kamel, wat aschrickst du dir denn so? Wir sin doch schon efta mit den Bus jefahn!" Ich zitterte immer noch. Sie sagte: "Mein Jott, du hast aba ooch vor allet Angst! Wat soll dadraus bloß noch wern!" Als ich mich beruhigt hatte, erzählte ich ihr, daß ich mir gerade so ein schönes Märchen ausgedacht hatte. Daraufhin nannte sie mich eine "alte Drömdüte".
Kurz vor meiner Einschulung besuchte uns eine Amtsperson, um zu sehen, wie Ida - die ja immerhin die siebzig weit überschritten hatte - mit mir klarkam. Ida führte sie autoritär in die Stube und schlug mein Bett auf, damit die Amtsperson sehen konnte, daß sich keine dreckige Wäsche darin befindet, wie bei "anderen Leuten". Aber das wollte die Frau gar nicht wissen. "So?" meinte Ida, "denn jehn wa in de Kiche, da könn wa redn." Nun mußte Ida Fragen beantworten, auf welche sie nicht vorbereitet war. In der DDR gab es andere Kriterien als zu je-ner Zeit, wo sie Gerda bzw. Irma in ihre Ob-hut nahm. Unter anderem wurde sie gefragt, ob ich gestillt wurde? "Ja", krähte ich, "Oma saacht imma, det ick leise sein soll!" Die Frau lachte: "So ist das nicht gemeint." Ida wollte mich aus der Küche weisen, aber die Frau sagte: "Es ist in Ordnung, wenn die Kleine ihre Meinung sagt." Später - nach einem mir endlos erscheinen-den Gespräch - richtete sie die Frage an mich, wie es mir denn bei der Oma gefällt? Ich äußerte nur Lobendes. Sie bohrte weiter und wollte unbedingt etwas Negatives hören. So sagte ich schließlich weinerlich, daß Ida abends im Bett immer noch lange liest und ich bei Licht nicht einschlafen kann. Als die Frau gegangen war, verdrosch Ida mich für diese Worte und sagte: "Du krist jetz nich mehr von allet wat ab!" Mir blieb "die Spucke weg" - war es vorher anders? Dann suchte ich mich zu verteidigen: "Die Tante hat doch solange jefraacht un du hast imma jesaacht, det ick jehorchn soll, wenn Awachsne wat wolln!" und ich weinte mir die Augen aus.
Schon als Siebenjährige schickte sie mich, das Grab ihres Mannes (in welchem auch andere Familienmitglieder begraben waren) zu gießen. Ich goß die Pflanzen, denn ich kannte die Menschen nicht, die hier begraben wurden. Später sah ich mich auf dem Friedhof um. Da waren viele Gräber, die nicht gepflegt wurden. Das stimmte mich trau-rig. Sah ich auf Gräbern pflegebedürftige Pflanzen, goß ich sie. Wenn ich ausgeschickt war, die Pflanzen auf dem Grab eines mir unbekannten Mannes zu gießen und erst zum Glockenläuten zurück erwartet wurde, warum sollte ich mich dann nicht auch umse-hen? Einmal fragte mich eine Witwe, in welcher Beziehung ich zu ihrem Manne stand? Ich sagte, daß ich nur die Blumen gieße, damit sie nicht eingehen, denn sie sind ja so schön, müssen aber fast täglich gegossen werden. Ich fügte hinzu, daß ich auf dem ge-samten Friedhof alle Blumen mit Wasser versorge. Nach diesem Gespräch unterließ ich es, fremde Gräber zu begießen.
Oft sagte Ida: "Der Mensch kann allet, er muß nur wollen!" Aber ebensooft sagte sie auch: "Kinder haben jar nischt zu wollen!" So dokumentierte sie unbewußt, daß Kinder in ihren Augen keine Menschen sind.
Nachdem ich lesen gelernt hatte, wurde ich ein eifriger Leihbibliotheksbenutzer. Die Bibliothek befand sich nahe der Schule. Ich lieh mir u.a. auch das Märchen "Die zwölf Monate" aus. Als ich es zur Hälfte gelesen hatte, kam Ida in die Stube und fragte: "Wat schmökerste denn da?" Ich antwortete unwillig: "N russischet Volksmärchn." Ida schnob verächtlich durch die Nase. Da tat es mir leid, daß ich so abweisend reagiert hatte und wollte die liebe Oma aufheitern. Ich kicherte: "Weeßte wat, die Russn nenn ihrn Könich "Majeschtätt!" Ich war überzeugt davon, das Wort korrekt ausgesprochen zu haben. Ida sagte unwirsch: "Det hat dir janich zu intressiern, wie die Russn ihrn Kö-nich nenn!", ohne mir zu erklären, daß das "sch" in diesem Wort nichts zu suchen hat. Das erfuhr ich dann von Irma, als ich sie mit dem selben Satz zum Lachen bringen woll-te. Da ich das Wort nicht kannte, hielt ich es für lächerlich. Wer weiß, wieviele Fehler dieser Art ich noch begangen hatte!
Über meinem Bett hing ein Familienfoto von 1910, wo die gesamte Familie Seeger abgebildet war, meine Großeltern, sechs junge Mädchen und zwei junge Männer. Einer davon war mein Vater. Ich glaubte anfangs, daß die Mädchen alle den gleichen Hut tru-gen, dann sagte Waltraud: "Kiek ma richtich hin, det sin Zöppe, die haam se sich so jeschickt um n Kopp jewickelt, det det nu wie n Hut aussieht!" So war es auch, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß man so lange und dicke Zöpfe haben kann. Die Mutter auf dem Bild wirkte abgehärmt, der Vater müde, die jungen Männer stolz und zufrie-den, die jungen Mädchen unwirsch, mürrisch und verbittert. Immer wieder ließ ich mir erklären, wer wer war, denn über diese Fotografie redete Ida gern, bis sie mich eines Tages abwies: "So langsam müßteste det alleene wissn."
Über Idas Bett hing die Reproduktion eines Gemäldes. Ida nannte es "Der Mohr von Venedig". Es zeigte den Festsaal eines vornehmen Hauses. In der Mitte stand auf einem Podest ein Prunksessel, auf welchen sich ein edel gekleideter Mann mittleren Al-ters in hochmütiger und zorniger Haltung stützte, ein paar Schritte vor ihm stand ein ebenso edel gekleideter Schwarzer, die Hände anklagend und bittend erhoben, und am linken Bildrand stand eine Blondine in einem zauberhaften Brautkleid. Der Schleier war ihr vom Kopf gerissen worden und lag fast zu ihren Füßen (die unzähligen Rüschen hatten ihn festgehalten), und sie weinte in ihre Hände, die sie vor das Gesicht gelegt hatte. Ich fragte Ida nach der Bedeutung des Bildes und sie sagte: "Det bedeutt, det ne Weiße keen Neeja heiratn soll, sowat bringt nur Unjlück."
Als ich zwölf Jahre alt war und Ida schon seit längerem fast gar nicht mehr mit mir sprach, war ich ihr nicht mehr so zugetan. Sie erteilte nur noch Anweisungen: "Jeh inn-koofn!" - "Komm essn!" - "Räum det wech!" - "Jeh schlafn!" Sehr selten richtete sie andere Worte als diese an mich. Es gab nichts, worüber wir miteinander hätten reden können. Sie wies mich stets ab, wenn ich von meinen Erlebnissen erzählen wollte. Sie waren ihr unwichtig und lästig.
Ida benutzte viele ungebräuchliche Formulierungen. Z.B. hieß die Kasserolle bei ihr "Kastrolle", die Fußbank "Hutsche", die Hausschuhe "Mauken", die Füße "Quanten", der Kopf "Omme" und jeglicher Schmetterling "Mottnscheißa" (jegliches Insekt - außer den Bienen - galt ihr als Ungeziefer). Hielt sich jemand bei einer Tätigkeit ungebührlich lange auf, dann tat er es "bis Unnepfingsten". Gegenstände jeglicher Art hießen bei ihr "Bagaasche" oder "Rabeiken", und mit "Penunse" bezeichnete sie einen hohen Geld-betrag. Ein Karventsmann wurde bei ihr zum Karenzmann, der Veitstanz zum Feixtanz, an ihrem Kopftuch hatte sie Franjen anstatt Fransen und Kranke schickte sie in Qua-rankteene. Wenn jemand in einem "Mülljöh" (Milieu) lebte, sollte man keinen Umgang mit ihm pflegen.
Ich war etwa 13 Jahre alt, als Ida der Grete L. ihr Leid über meinen Wissensdrang klagte. Grete L. stauchte mich tüchtig zusammen und gebot mir, die liebe Oma in Ruhe zu lassen. Sie schloß mit den Worten: "Wat willst du eijentlich von die alte Frau?" Da-mals warf ich nur den Kopf zurück und schwieg. Ich war nicht in der Lage, meine An-klage in Worte zu fassen. Mir ging durch den Sinn: Ich will die Wahrheit! Ich will zu meiner Mutter und zu meinen Brüdern! Ich will eine richtige Schwester sein dürfen und nicht nur eine Adoptivcousine haben, die höher geachtet wird als ich! Ich will die Liebe meiner Mutter und nicht diese grauenhafte Bevormundung durch eine Tante und den Personen, die ihr genehm sind! Ich will mein Leben! Wenn ich all dies damals herausge-schrien hätte, hätte Grete L. mir empfohlen, einen Arzt aufzusuchen, denn ich hatte es doch so gut bei Oma Seele. Ich hatte ein sauberes Bett, satt zu essen und saubere, un-beschädigte Kleidung. Mehr braucht ein Mensch nicht. Erst recht nicht, wenn man nur ein Kind ist. Ich hätte glücklich sein müssen über dies schöne Leben. Was wollte ich also? Es hätte nur eines Satzes bedurft: "Wenn sie mich schon von meiner Familie trennte, dann soll sie sich gefälligst auch mit mir beschäftigen!" Hätte ich diesen Satz ausgesprochen, wäre mir geantwortet worden: "Wat hast du schon for ne Famielje!"
"Christa" war damals ein Modename. Also riet Grete L. dazu, denn ich war ja "kurz nach Weihnachten" - am 30. Januar! - geboren worden. Die Taufe fand später statt. Meine Mutter wollte, daß ich Rhebecka heißen sollte. Es war Januar 1944, keine Be-hörde gab dem statt. In den Kriegswirren wurde ich letztendlich - mit Grete L. als Tauf-patin - auf die Namen Christa Marie (wegen Weihnachten) und Elli (nach meiner Mut-ter) getauft. Es ist der blanke Hohn. Erst das Kind der Mutter wegnehmen und dann ihren Namen in falscher Schreibweise weiterreichen! Ich besitze den Taufschein meiner Mutter. Darauf steht: "Elly". Ich kämpfe noch heute um das im deutschen ungewöhnli-che "Y". Ich will es. In meinem Namen, im Namen meiner Mutter und im Namen ihrer Namensgeber. Ich habe ein Ypsilon. Und ich hätte viel lieber "Rhebecka" geheißen. Das ist ein wohlklingender Name, der darüberhinaus in der biblischen Geschichte zu finden ist. Der Name Christa ist in meinen Augen nichts weiter als frömmlerisches Getue. Mei-ne Brüder hätten sich dann zwar einen einen anderen Reim einfallen lassen müssen als "Christa, die pißt da", aber ich hätte gewißlich diesem Reim ebenso gelassen gegen-übertreten können wie jenem. Es fällt mir übrigens gar kein ebenso negativer Reim auf "Rhebecka" ein, obwohl ich mich redlich darum bemühe.
Abschließend kann ich nur sagen, daß Ida mich um meine Eltern und um meine Brü-der betrogen hat. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich nie von ihnen erfahren. Mein Vater hatte mich an sie verschenkt. Er hat nie ein Wort mit mir gesprochen. Erst kurz vor seinem Tod versuchte er, mit mir zu reden. Meine Mutter hatte keine Rechte nach dem Vater. Meine Brüder waren in Idas Augen derart minderwertig, daß ich von ihrer Existenz erst erfuhr, als sie aus dem Heim ausrissen und ausgerechnet bei ihr Schutz suchten. Und als ich bei Waltrauds Einsegnung nicht mit in die Kirche durfte, zerflatterte auch das Band des Glaubens im Winde. Ich bin bemüht, mich an Idas Positi-va zu erinnern. Sie war freigebig, großzügig und gutmütig. In den Grenzen ihres Bud-gets. Ich erkenne, daß ich damals zuviel verlangt hatte. Ich wollte, daß jemand meine Fragen beantwortete, daß man mir die Welt erklärt, daß man mit mir singt, mit mir spielt und mich lieb hat. Nichts davon hat Ida mir gegeben. Sie hat mich nur gefüttert, gewindelt und im Krankheitsfalle gepflegt. Was wollte sie nur von mir? Nachdem sie feststellte, daß ich zu allem zu klein, zu dumm und zu unbeholfen bin, hätte sie mich doch zu meiner Mutter zurückgeben können! Ich war ihr doch zu nichts nütze! Sie sprach ja letztendlich kaum noch mit mir! Was sollte ich noch bei ihr? Ich verstehe es nicht.
Ich sehe ja ein, daß meine Mutter mit dem Altstoffhandel meines Vaters einiges um die Ohren hatte, daß ihr auch meine Brüder einiges zu schaffen machten - so sind Kin-der eben - aber das ist doch kein Grund, ihr das dritte Kind zu "ersparen", indem man es ihr wegnimmt!
Irgendwann hatte ich (etwa siebenjährig) den Mut, die Ida zu fragen: "Warum haste mir denn aus de Schalottnburja jeholt?" und sie antwortete: "Weil du n Meechn bist."
Ich folgerte: Wenn ich ein Junge gewesen wäre, hätte Ida mich nicht zu sich geholt. Mein Wunsch, ein Junge zu sein, stieg ins Unermeßliche.
 
Liebe oldicke,
nun habe ich auch dieses Kapitel deiner Lebenserinnerungen gelesen. Wiederum schön und anschaulich geschildert. Gefällt mir sehr.
Kritikpunkte:
„Ich hatte viele Fragen...“ Achtung Doppelung.
Die Stelle mit dem Namen kam mir etwas zu ausführlich vor.
Ganz toll hingegen der Witz mit dem Stillen. Hab laut gelacht.

Lieb grüßt dich
Willi
 
Genuss

Guten Morgen, liebe Oldicke!

Habe zum Sonntagsfrühstück gleich beide Kapitel deiner Memoiren mit Genuss gekostet!

Wie Willi schon festgestellt hat, schilderst du die Szenen lebendig, eindrücklich, machst Appetit auf "meeeeeeehr!"
Das Einfließen des Berliner Dialektes in die Dialoge, in der Beschreibung der kleinen alltäglichen Szenen: toll!

Möchtest du die Memoiren eher aus deiner Sicht weiterschreiben, oder sollen sie ein Bild der Familien widerspiegeln? Dann (aber nur dann!) würde ich im Kapitel von "Oma" Ida deine Erzählperspektive noch mal etwas überarbeiten und aus deinen vielen "ich" die kleine Christa ab und zu in der 3. Person denken, sprechen und handeln lassen. Ist bestimmt schwierig, weil Christa ja selbst Hauptakteurin dieses Kapitels ist. Im ersten Kapitel ist es dir leichter gelungen, nach deiner persönlichen(genialen!) Einführung, die ich vergnügt grinsend genossen habe, die Handlung an Mutter und Vater weiterzureichen.

Da du das Folgekapitel Ida gewidmet hast, überleg mal, ob dir das sinnvoll erscheint.

Wann gibt es die Fortsetzung?? Ich schaue jetzt bestimmt häufiger vorbei um nachzuschauen...

Lieber Gruß

Femi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
vielen dank,

lieber willi, liebe femi. schön, daß es euch gefällt. liebe femi, ich hab die sachen schon seit jahren im compi und wie versprochen rede ich in den nachfolgenden kapiteln über die komplette verwandschaft und nähere bekanntschaft. es hat mir schon mal jemand gesagt, daß das ungewöhnlich ist, aber ich halte es für genau richtig. ich will nicht chronologisch erzählen. dann käme ich nämlich vom hundertsten ins tausendste und fände überhaupt kein ende und auch keine gliederung. ich sorge gleich für nachschub. ganz lieb grüßt
 
L

leonie

Gast
hallo oldicke

auch ich habe diesen text wiedermal genossen. das berlinern darin lockert das ganze schön auf, manchmal höre darin wieder meinen onkel, der viel berlinerte, was uns kinder viel spaß machte.
ganz liebe grüße leonie
 
W

willow

Gast
Hallo,

die Geschichte gefällt mir und macht mir traurig zugleich. Zu viele Fragen türmen sich in mir... ich bin schon auf die anderen Kapitel gespannt :).

Du schreibst sehr direkt und wertest bestimmte Äußerungen und Verhaltensweisen ("Schon als Siebenjährige schickte sie mich Blumen gießen.") oder auch Träume ("Junge sein wollen, Traumwelt, in der alles besser war, weil ich darin nicht vorkam"). Das würde kein Kind so beschreiben... da vermischen sich für mich die Erzählperspektiven der erwachsenen (wertenden) und der kleinen (fühlenden) Christa.

Ich fände es besser, diese eindeutigen Hinweise und Erklärungen rauszulassen und statt dessen fühlbar zu machen- am Beispiel: Statt des offenen Schlusses: "Ich wollte ein Junge sein!" eine fühlbare Emotion: "Ich war eifersüchtig auf Jungen, die dürfen alles und können alles. Mädchen wurde immer alles verboten!"
Dann erübrigt sich die direkte Schlussfolgerung, dass du ein Junge sein wolltest.

Das gleiche gilt für die Zeichnung der Ida... du machst sie ja schon ziemlich fühlbar, wenn du aber ihre Handlungen und Äußerungen für sich sprechen lassen würdest, könntest du sie damit noch lebendiger machen.

Du beschreibst das ja auch so, nur ziehst du dann häufig eben noch den (meiner Meinung nach überflüssigen) Schluss. Dort vermischen sich dann die Erzählperspektiven.

Das fiel mir auf - ich bin eigentlich weder in der Position noch in der Lage, das zu beurteilen. Ich hoffe, dass verständlich geworden ist, was ich meine, und dass dir das vielleicht weiterhelfen kann.

Und mich würde interessieren, ob nicht jemand der gleichen Ansicht ist und ob er das nicht besser erklären kann als ich...

Liebe Grüße,

willow
(die sich jetzt Kapitel 3 greift ;))
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
siehste,

liebe willow, da biste genau auf meine wunden stellen getreten. leider weiß ich nicht, wie ich es besser machen könnte. vielleicht bin ich emotional zu dicht dran. was meine damalige traumwelt betrifft: ich war stolz darauf, selber nicht darin vorzukommen, denn da agierten helden und ich war doch keiner. mich einen helden sein zu lassen, wäre strafwürdige überheblichkeit. und wenn ich - so wie ich war - darin vorgekommen wäre, wäre es eben nicht zauberhaft schön gewesen. ich hoffe, du verstehst, was ich meine. danke für deine aufmerksamkeit. man liest sich
 

Charima

Mitglied
Liebe Flammarion!

Endlich habe ich diesen Text von Dir gefunden und und mich richtig hinein "verlesen", dh., es ging mir sehr nahe. Wohl auch aus dem Grund, daß unsere familiären Situationen - wie Du ja weißt - und somit auch unsere Probleme sehr ähnlich sind.

Ansonsten möchte ich noch sagen, daß ich mich auf Mittwoch (Schreibwerkstatt bei KPW!) sehr freue und hoffe, daß Du auch da bist - ich habe nämlich Urlaub, und daher ist es mir tatsächlich vergönnt zu erscheinen!

Den Gruß des hereinbrechenden Morgens und hoffentlich bis Mittwoch,

Charima
 

Charima

Mitglied
ENTSCHULDIGUNG!

Liebe Flammarion!

Entschuldigung, daß ich Dich verwechselt habe (uuups!), weil eine Freundin mich auf die falsche Fährte gelockt hatte (Sie schrieb mir "Mit feurigen Grüßen, Marion", daher habe ich Deinen Text für ihren gehalten). Und weil ich nun mal noch "Neuling" hier bin, hatte ich noch keine Ahnung, wie ich die Profile lesen kann...

Das tut mir echt leid, aber andererseits - wenn ich sie nicht verwechselt hätte, hätte ich vermutlich nie Texte von Dir gelesen, und die sind nun mal ziemlich gut!!! Das finde ich nach wie vor unabhängig von der Identität. Also hat diese "Blamage" hier für mich auch etwas Positives.

Liebe Grüße,

Charima
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
oh,

heißen dank, charima! da ist wohl anzunehmen, daß du gewöhnlich auf der lyrikseite zu hause bist. da guck ich leider selten rein und in die erotik so gut wie gar nicht. profile rufe ich auch nicht auf, das dauert bei meinem dampfgetriebenen compi zu lange. naja, wir werden einander dennoch - wie ich hoffe - begegnen. ganz lieb grüßt
 
S

Sansibar

Gast
2. Kapitel

Hallo Flammi,
ich habe mich gleich auf deine "Familie zweiter Teil gestürzt und habe sie ausgedruckt.
Ich finde das du die Situationen und Empfindungen deiner Zeit sehr gut wider gibst,denn Kinder waren damals fast überall"unnötige und ungeliebte, unnütze Esser, die sich zum Teil durch Kartoffelkäfer sammeln, Rüben verziehen und Kartoffelernte "ihr Brot" verdienen mußten ". Damals hat das niemanden interessiert ob hier nun Kinderarbeit vorlag.
Die Lieb und Gleichgültigkeit gegenüber den schwächsten in der Gesellschaft war wie eine Krankheit und viele Kinder sind bis auf den heutigen Tag traumatisiert. Die meisten sind nun in dem Alter wo sie darüber - endlich - sprechen können, oder wie hier geschehen, schreiben.
Du beschreibst das so plastisch und lebendig, das sich das "janze Milliö" in mir spiegelt. Das du berllinerst macht es absolut authentisch. Allerdings scheint diese Generation wie ich mehrfach beobachtet habe, doch ein tatkräftiger und sehr häufig humorvoller Menschentyp geworden zu sein.
Nur eines solltest du noch verbessern.....in meinem Kinderwagen, wo ich in dem Alter, wo die sich....
Vorschlag;Da war ich noch niedlich. Die anderen Kinder konnten längst schon laufen.
Ich weiß es aus Erfahrung, man schreibt im Galopp, da sind solche "Pannen" normal und vor lauter Begeisterung das der Text in der Maschine sitzt übersieht man leicht.
Lieben Gruß
Sansibar
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
oh,

vielen dank, liebe sansibar! mit dem kinderwagen hast du völlig recht. jetzt, wo du es schreibst, fällt es mir auch auf. weißt du, ich fürchte, wenn ich das mit fremden augen lesen könnte, würde ich fast alles anders schreiben. ganz lieb grüßt
 
S

Sansibar

Gast
AndereAugen

Flammi,
das wäre nicht klug!Dann kannst du ja deine Geschichte schreiben lassen! Ich wollte nur "hilfreich" sein
Gruß
Sansibar
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

liebe sansibar, die gänsefüßchen kannste weglassen, du warst hilfreich. gerade mit diesem satz war ich nämlich noch nie so richtig glücklich! bis bald
 

Charima

Mitglied
Hallo, Flammarion!

Liebe Grüße zurück - und "Danke", daß Du nicht sauer bist...

Den Frieden der Nacht,

Charima

P.S.: Mit der Lyrik hast du recht!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

liebe charima - wie sagte schon der graf von monte christo? ich verzeihe immer einen irrtum, nie aber eine nachlässigkeit oder ein vergessen. naja, ganz so hochnäsig bin ich nicht, aber langsam interessiert mich deine bekannte. ging es ihr tatsächlich ähnlich wie mir oder vermutest du das nur? oh, 12 uhr, aufstehen, spuken! keine lust. ganz lieb grüßt
 

Charima

Mitglied
Liebe Flammarion!

Zu meiner Bekannten: Wir haben oft über die von Dir beschriebenen Familienthemen gesprochen, daher weiß ich, daß es ihr tatsächlich ähnlich ging, wenn auch nicht mit ihrer Oma, sondern - wie bei mir - mit ihrer Mutter. Bestimmte "Erziehungssätze" und "Erziehungsmethoden" können, wie es scheint, generationsübergreifend sein!

Den Gruß des hereinbrechenden Morgens,

Charima
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
oh

ja, liebe charima, das sind sie. das schlimme in meinem fall ist, daß meine mutter über erziehung und kinder überhaupt ganz anders dachte als diese tante ida. wenn sie mich bei meiner mutter gelassen hätte, wäre ein ganz anderer mensch aus mir geworden, und ganz bestimmt kein schlechterer, nur weil nicht jeden tag geputzt wurde.
übrigens - falls es dich interessiert - auf der nächsten seite sind noch zwei kapitel aus meinem leben. ganz lieb grüßt
 



 
Oben Unten