memoiren 3. kapitel

flammarion

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Waltraud

Sie wurde Waltraud, Trautchen, Traudel, Trauteken oder Walle gerufen, je nachdem, wer nach ihr verlangte.
Ida hatte mich zu sich geholt, damit Waltraud nicht allein sei. Ich vermute, daß Ida mich lediglich sauber hielt und mir die Mahlzeiten verabreichte, alles übrige blieb Waltraud und anderen überlassen. Natürlich konnte Waltraud sich nicht den ganzen Tag mit mir beschäftigen, so wurde ich oft im Kinder-wagen auf den Balkon geschoben, wo ich mich in den Schlaf schrie. Ich schrie, weil ich zu fest gewickelt worden war. Ida wollte verhindern, daß ich mich bloßstrample und mir eventuell eine Erkältung zuzog, deshalb legte sie die Windeln so fest an, daß ich im Endeffekt einen leichten Hüftschaden davontrug.
Waltraud war diejenige, von der ich das meiste lernte in meinen frühen Kindertagen. Ihrer Obhut war ich ständig anvertraut. Ich vermute, daß sie mich anfangs sehr gern hatte, denn ich habe noch Idas Keifen im Ohr: "Wißte woll det schweere Jör nich immaßu rumschleppn, du krißt n krummet Kreutz davon!!!"
In jener Zeit sang Waltraud mit mir alle einschlägigen Kleinkinderlieder, wobei sie mich in ihren Ar-men wiegte. Das war für mich die reine Wonne. Manchmal fiel Ida mit ein in ein Lied, das war dann der Höhepunkt des Wohlbefindens für mich. Ich hatte in diesen Minuten den Eindruck einer vollkommenen Harmonie und war später immer wieder bestrebt, eine ähnliche Situation herzustellen. Wenn jemand mit angenehmer Stimme sang, hatte er bei mir schon einen riesigen Vorteil allen anderen gegenüber.
Da Waltraud meine Herkunft nicht erklärt wurde, hielt sie mich anfangs für ihre Schwester und ent-wickelte große Zärtlichkeit für mich. Als ihre Mutter sie einige Jahre später dafür auslachte, schlug dies Gefühl ins Gegenteil um.
Nachdem Gerda ihren Alfred geheiratet hatte und sie in eine schöne große Wohnung einzogen, durfte Waltraud wieder zu ihrer Mutter zurück. Aber sie sperrte sich mit allen Mitteln gegen den Stiefvater - sie hatte mit dem wachen Verstand des Kindes seinen wahren Charakter durchschaut -, sodaß ein "Familien-leben" unmöglich war. Sie wurde nach wenigen Monaten wieder zur "Oma" zurückgebracht.
Inzwischen war mein Kinderbett ausrangiert, weil ich ihm entwachsen war und mir wurde Waltrauds Bett als Schlafstatt zugewiesen (da bin ich anfangs oft hinausgefallen. Anfangs lachte mich Ida gemein-sam mit Grete L. dafür aus, daß ich aus dem Bett fiel und weiterschlief. Zuletzt zog ich die Zudecke so mit mir, daß ich weich fiel. Das wurde freundlich belächelt.) Nun sollten wir beide in diesem Bett schla-fen. Das machte mir nichts aus, nachdem ich daran dachte, daß bei Familie L. die Kinder sogar zu dritt in einem Bett schliefen! Es war Waltrauds Bett. Ich freute mich darüber, daß Waltraud wieder bei mir war. Sie würde wieder mit mir singen! Ich war inzwischen egozentrisch. Stets hatten Ida, Grete L., Doris L. und Gerda mich angewiesen, mich "um mir selba zu kümman", sodaß ich mir meine eigene Welt erschaf-fen hatte. Waltraud war mein Tor ins Diesseits, denn ich spürte, daß Ida sich selber schon lange "abge-schrieben" hatte und mir war beigebracht worden, daß Irma nichts taugte. An sie durfte ich mich eigent-lich nicht wenden mit meinen Fragen. Gerda hatte keine Zeit. Ihre Gründe kannte und akzeptierte ich. Sie war jung und wollte das Leben genießen. Sie hatte keine Zeit für mich; sie hatte ja nicht mal Zeit für ihre Tochter! Um so mehr freute ich mich über jedes Geschenk von ihr: Bekleidung, Süßigkeiten, Spiel-zeug, Bücher.
Waltraud war lange Zeit mein Halt. Aber sie wollte es nicht sein. Sie wollte nicht Verantwortung auf-diktiert bekommen. Ich war nicht ihre Schwester. Ich war eigentlich eine Fremde für sie. Vielleicht hatte sie sogar schon Parallelen gezogen zwischen ihrer Mutter und Irma sowie zwischen ihr und mir und eine ähnliche Entwicklung befürchtet. Eigentlich trennten uns Welten. Ihre Mutter war Idas Adoptivtochter, also war sie Idas Enkelin. Ich war Idas Nichte. Wie hat hat sie wohl meine Anwesenheit erklärt? Wal-traud hatte ja nicht wie Gerda das Vergnügen, sich ein Geschwisterchen aussuchen zu dürfen!
Als Gerda ihre Tochter wieder bei Ida abgeben mußte, verabschiedete sie sich ganz lieb und lange. Ich sah atemlos zu und konnte dem Geschehen kaum folgen, denn es gab keinen besseren Ort für Wal-traud, als bei Oma! Warum mußte sie nun wieder und wieder geküßt werden von ihrer Mutter? Es sah ja fast so aus, als ob einer von den beiden stirbt! Gerda wollte vor Alfreds Rückkunft in der gemeinsamen Wohnung sein, so blieb uns Kindern Zeit zum Spielen. Ich wunderte mich, daß Waltraud so still und zu-rückhaltend war. Dann gab es Abendbrot, danach wurden wir zu Bett geschickt. Waltraud hätte das Bett gern für sich allein gehabt, aber sie mußte sich fügen. Ihr einziger Trost war, daß sie eine eigene Zudecke hatte. Ich schlief gleich ein und erwachte erst morgens. Ich stellte mit Entsetzen fest, daß das Bett naß war. Ida schimpfte und verdrosch mich. Sie war fest überzeugt, daß ich der Urheber war. Ich heulte und beteuerte meine Unschuld, doch es half alles nichts. Am anderen Morgen war das Bett wieder naß und ich bekam wieder Prügel. So ging es zwei Wochen. Dann kam Gerda zu Besuch und erkundigte sich, wie Waltraud den Umzug vertragen habe. Ida erklärte: "Waltraud jeht det jut, so jut, wie t nur jehn kann. Die fühlt sich sauwohl hier. Warum ooch nich? Se hat ja schon vorher lange jenuch hier jewohnt! Aba die Christa, det jottvadammte Jör, die pullat jede Nacht ein, det olle Schwein det, un ick dachte, die is drocken, wie sich det jehört mit drei Jahre!" Gerda schniefte leise und sagte mit rotem Kopf: "Det ha k vajessn, dir zu saaren, Mama, det is neemlich so, die Waltraud is undichte, weil se sich mit den Alfred nich vadraaren kann. Ick hatte aba jehofft, det se nich mehr einmacht, wenn se bei dir is!" Ida knirschte mit den Zähnen: "So, det afah ick jetze also so nehmbei! Konntste denn det nich jleich saaren? Weeßte, det ick die Christa jedn Tach vadroschn habe für t Einpinkeln un jetz wa se det jar nich?!" Sie wandte sich erregt zu Waltraud: "Un du saachst ooch nich, det du det waast un kieckst zu, wie die Christa Keile kricht?!" Waltraud wurde blaß und versteckte sich hinter mir. Gerda sagte: "Der Alfred hat die Waltraud ooch jeedn Tach vadroschn, det nützt aba iebahaupt nischt." - "So", sagte Ida versöhnlich, "denn hat ja die Waltraud ihre Schdrafe schon lange wech." Nun fragte sie, wann das Bettnässen begann und kam zu dem Schluß, daß diese Krankheit sich ärztlich behandeln läßt. Am anderen Tag ging sie mit Waltraud zu einem Arzt. Binnen kurzem war das Kind genesen.
An jenem Tag jedenfalls gab Gerda mir als Trostpflaster eine kleine Tafel Schokolade mit den Wor-ten: "Die Lale ha k ja eijentlich für Traute mitjebracht, aba du bist villeicht so lieb un jibst ihr wat ab!" Selbsverständlich gab ich ihr etwas ab, denn die Schläge, die sie vom Stiefvater bekam, waren mit Si-cherheit schmerzhafter als die mir von Ida zugeteilten. Wir aßen jeder vier Karos von der köstlichen Karina-Schokolade. Dann sagte Waltraud: "Det jroße Schtück heeb ma für schpeeta uff, du mußt nich allet mit eenma uffessn." Das hielt ich für sehr vernünftig und war dankbar für den Hinweis. Als ich Stunden später nach der Schokolade suchte, hatte sie sie aufgegessen. Auf meine Tränen erwiderte sie: "Na und? Meine Mutta hatte doch mir die Lale mitjebracht! Kannst froh sein, det de übahaupt wat davon abjekricht hast!"
Da Waltraud in der Schule Schwierigkeiten mit dem Lesen hatte, mußte sie mir abends Märchen vor-lesen, das liebte ich sehr. Wenn das Märchen zu Ende war, hatte ich noch tausend Fragen, die sie höch-stens zur Hälfte beantwortete. So spann ich die Märchen in Gedanken weiter, bis ich eingeschlafen war.
Bald war ich ihr lästig. Kein Wunder, es waren sechs Jahre Altersunterschied zwischen uns, sie hatte logischerweise andere Interessen als ich. Anfangs war ich absolut nicht gewillt, das zu akzeptieren. Ich forderte mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln meine "Rechte". Ich wollte, daß Waltraud ebenso "meine" war, wie ich "ihre" war. Sie fand jedoch in allen Erwachsenen Beistand in dieser Frage und ich wurde darauf vertröstet, daß sie sich mit mir abgeben wird, so oft sie kann. Da konnte ich oft lange war-ten! Wenn sie dann mit mir spielte, mußte ich tun, was sie wollte, andernfalls würde sie nie wieder mit mir spielen. Das wollte ich selbstverständlich nicht riskieren.
Auf die Straße hinunter durfte ich sehr selten alleine; ich war auf Waltraud als Spielkameradin ange-wiesen. Oft behandelte sie mich wie eine lebendige Puppe und ich war es zufrieden. Für mich war sie die liebste, beste und hübscheste Cousine, die ich mir wünschen konnte. Selten ging sie auf meine Spielvor-schläge ein. Da mußte ich mir schon etwas Außergewöhnliches einfallen lassen, in der Gefahr, von ihr als "verrückt" bezeichnet zu werden.
Ging sie mit mir zum Spielen auf die Straße, war ich oft ein Vorzeigeobjekt für sie. Sie demonstrierte den anderen Kindern an mir, daß sie sehr gut mit Kindern umgehen kann und sehr lieb ist. Wenn sie dann die anderen für sich gewonnen hatte, durfte eines der Kinder mit mir spielen. Meist sah es so aus, daß ich in irgendeine Ecke gesetzt wurde, wo ich auf die Puppen der großen Mädchen aufpassen durfte, wäh-rend sie Verstecken oder Einkriegezeck spielten. An der Art, wie manche Mädchen mir ihre Puppen übergaben, wurde mir bewußt, daß mitunter die schäbigste Puppe das größte Heiligtum eines Mädchens sein konnte und ich behandelte die Puppen ihrer "Stellung" entsprechend, d.h. ich drückte die Puppen an mein Herz, von denen ich glaubte, daß sie der allerliebste Besitz ihrer Puppenmuttis sind und gab sie nur an diese ab, und setzte alle anderen auf die bereitgelegten Kissen.
Einer der etwas wohlhabenderen Nachbarsjungen hatte zum Geburtstag ein Fahrrad bekommen. Stolz ließ er alle Freunde das neue Spielzeug ausprobieren. Waltraud wäre gern die erste gewesen, aber sie stand auf der Sympathie-Skala nicht an erster Stelle. So konnte sie beobachten, daß die Fahrlehrlinge meist schon nach wenigen Metern stürzten. Als die Reihe zu fahren an sie kam, antwortete sie schnip-pisch: "Ach, weeßte, so n Ding, wat nich richtich steht und wennt mal steht, jleich wieda umkippt, nehm ick nich zwischen de Beene!"
Als Teenager entdeckte sie ihre Freude am Show-Tanz und übte mit Doris L. Steppen. Auf der Stra-ße brachte sie den Kindern unserer "Gang" eine Tanzszene bei mit dem Gesang: "Laura, Lauralett (Step-Step), ich schwärme für s Ballett (Step-Step)." Der weitere Text ist mir entfallen, denn ich Fünfjährige konnte nicht gleichzeitig tanzen, singen und schnalzen.
Peter, der Sohn einer Freundin von Irma, besuchte uns. Der Vierzehnjährige war sehr belesen und unterhielt uns mit einer Abhandlung über ausgestorbene Tiere und Pflanzen unter Verwendung der latei-nischen Bezeichnungen. Waltraud sagte bewundernd: "Eh, du bist ja akademisch beschlagen!" Doris L., der die Fossilien völlig gleichgültig waren, höhnte: "Ja, echt akademisch beschlackert!" Ich war erst fünf und hatte dem Gespräch kaum folgen können, aber daß "beschlackert" soviel bedeutete wie "bekloppt" oder "bescheuert", das wußte ich schon. Auch, daß Ackerbauern bekloppt sind, hatte man mir schon bei-gebracht. Als ich Tage später mit einem Nachbarskind Streit hatte, schleuderte ich ihm das neue Schimpfwort entgegen: "Du bist ja ackerdämlich beschlackert!" Für mich war das eine Steigerung ähn-lich "saudoof".
Irgendwann hatte Waltraud auch die Indianer-Romantik entdeckt. Als besagter Peter uns wieder ein-mal besuchte, schlug sie vor, daß wir Indianer spielen. Peter sollte der Indianer sein und wir beide eine Farmerfamilie. Peter "überfiel" uns und fesselte Waltraud an die Tür. Er spielte den Indianer sehr über-zeugend. Als er dicht vor Waltraud hintrat und mit drohendem Ton sagte: "Weiße Frau müssen ster-ben!", schrie ich angstvoll: "Nein!" und stürzte mit derartiger Kraft auf ihn ein, daß er sich in die äußer-ste Küchenecke verkroch. Ich hatte meine liebe Waltraud befreit und das Spiel war aus. Bei seinem näch-sten Besuch weilte Doris gerade bei Waltraud. Mit Peters Erscheinen stand fest: Wir spielen "Wilder Westen". Rasch waren die Namen "Old Shatterhand", "Old Firehand" und "Old Shurehand" verteilt. Pe-ter fragte: "Und wie soll Christa nun heißen?" Die Mädchen sahen sich fragend an. Da sagte ich: "Icke? Na, janz einfach, "Old Icke". Alle lachten, doch der Name wurde anerkannt. Ich verwendete ihn später so oft, daß sich auch andere Kinder gelegentlich so nannten.
Da ich alles mit Waltraud zu teilen hatte, war ich der Meinung, daß sie auch alles mit mir zu teilen hat. Das tat sie nur, wenn sie dazu angewiesen wurde. Peter schenkte mir damals zu meinem Geburtstag ein herzförmiges Flakon mit rotem Parfüm. Das war das erste und für lange Zeit einzige Geschenk, das mir ein Junge machte. Ich konnte gar nichts damit anfangen. Parfüm halte ich für unnatürlich und lächer-lich. Ich bemitleide die Damen, die da glauben, nicht ohne parfümiert zu sein aus dem Haus gehen zu können. Waltraud fand den Geruch zu süß, so wurde es verbraucht, wenn sie mit anderen Mädchen "fei-ne Dame" spielte. Das leere Herz besaß ich, bis Ida es in den Müll warf.
Gerda schenkte uns ein Kinderlieder-Spiel. Es bestand aus mehreren festen Pappen mit großen Karos darauf. Auf die Karos waren Kärtchen zu legen, auf denen Liedanfänge gedruckt waren. Wer das Lied kannte, mußte es zu Ende singen und durfte das Kärtchen auflegen, aber mit dem Rücken nach oben. So entstanden auf jeder Pappe Märchenbilder. Dieses Spiel liebte ich sehr, aber wir kannten nicht alle Lie-der, so legten wir die verbleibenden Kärtchen einfach zum Schluß der Logik des Märchenbildes entspre-chend auf. Waltraud und Doris spielten das Spiel häufig in meiner Gegenwart, ohne mich mittun zu las-sen. Es war ihnen manchmal eine reine Freude, mich zum Weinen zu bringen. Wenn ich nicht mehr wein-te, legten sie das Spiel zur Seite, ohne es zu beenden und wandten sich anderen Dingen zu. Z.B. einem Brettspiel namens "Puff". Es wurde bei Familie L. oft gespielt, so liebten es auch Waltraud und Doris. Einmal erklärten sie mir die Spielregeln, aber ich war „wieder einmal zu blöd“, sie zu verstehen. Es wird auf einem Backgammon-Brett gespielt und ist vielleicht damit identisch. Ich kenne Backgammon nur von Abbildungen.
Zu jener Zeit war es "in", daß jedes Kind einen Spitznamen hatte. Waltraud in "Walle" zu verwandeln und Christa in "Krille" genügte nicht mehr. So wurde aus der einen "Wallemimi" und aus der anderen "Krillepipi", womit Waltraud nachträglich dokumentieren wollte, daß ich und nicht sie der Bettnässer war. Ich trug es mit Gelassenheit, denn ich wußte, daß jeder die Wahrheit kannte. Und ich wollte, daß es vergessen wird, denn ich sah, daß Waltraud mit dem Stiefvater nicht einverstanden war, daß der fremde Mann ihr Leben ändern wollte, ein Leben, mit dem sie vollauf zufrieden war. Und daß das Einpullern das letzte Mittel war, sich seiner zu erwehren. Aber Gerda hat das nicht erkannt. Sie setzte ihre Gemeinsam-keit mit Alfred über das Schicksal ihres Kindes.
Ich konnte es absolut nicht vertragen, wenn man mich "Christel" oder gar "Christelchen" nannte. Ich fühlte mich durch diese Schmeichelei verhöhnt. Wenn Waltraud mich so ansprach, nannte ich sie "Krall-kraut". Übrigens steigerten wir in jener Zeit "auweia" zu "auwacka", "auwatka" oder gar "auwatteka".
Waltraud lehrte mich viele Küchenlieder, die wir mit Inbrunst sangen, bis uns die Tränen kamen. Na-mentlich das Lied "Ein Kind von viereinhalb Jahr" trieb mir so regelmäßig die Tränen in die Augen, daß es mir jetzt nicht mehr in voller Länge erinnerlich ist. Ich hatte großes Mitleid mit dem armen Kind, es war genau so alt wie ich, doch ihm ging es ja soviel schlechter als mir! Zwar wuchs auch ich ohne Mutter auf, aber dafür hatte ich ja die "liebe Omi, die liebe Tante Gerda, die liebe Waltraud, die liebe Familie L., die lieben "Moabiter" und die "olle Tante Irma". Auch ich litt Schmerzen, wenn ich frisiert wurde, aber bei den Sonntagsspaziergängen bekam ich doch genau wie Waltraud einen Kranz aus künstlichen Blüten ins Haar! Ich fühlte mich gekrönt. Und ich bekam fast alles das zu essen, was Ida aß; wenn sie einmal etwas alleine aß, entschuldigte sie sich: "Det is nischt for kleene Kinda!" Und mir wurden Schlaflieder gesungen und sogar Märchen vorgelesen . . . Ich weinte herzzerreißend über das traurige Schicksal der besungenen Halbwaise, worüber Waltraud lachte. Es war ihr nicht bewußt, das diese Texte in mir Emo-tionen freischlugen. Warum auch? Meine Eltern lebten ja noch - aber ich hatte davon keine Ahnung. Und sie bekam gerade einen neuen Vater.
Oft richteten wir uns unter dem Stubentisch eine Höhle ein. Unsere Fußbänke, die Puppenkissen und vieles andere fand darin Platz. Wir träumten uns zu Räuberbräuten, Hexen oder Teufeln. Natürlich war es dunkel in unserer Höhle, direkt ein wenig gruselig. Da redete sie einmal (ich war vier Jahre alt) mit tiefer Stimme auf mich ein: "In einem duunklen, duunklen Waald, da steht ein duunkles, duunkles Hauu-us, und in dem duunklen, duunklen Hauus, da ist ein duunkler, duunkler Keller, und in dem duunklen, duunklen Keller, da steht ein duunkler, duunkler Sarrrg, und in dem duunklen, duunklen Sarrrg, da liegt ein duunkler, duunkler Mannn, und in dem duunklen, duunklen Mannn, da schläägt ein duunkles, duun-kles Herrrz, und auf dem duunklen, duunklen Herrrz, da steht mit duunkler, duunkler Schrift - erschreck dich nicht!" Mir war während der langen Rede in dem ungewohnten Hochdeutsch schon ganz ängstlich zumute. Als sie nun den letzten Satz mit schrillen Tönen ausstieß und mit den Händen auf mich zufuhr, erschrak ich dermaßen, daß ich laut aufschrie und beinahe einnäßte. Waltraud kringelte sich vor Lachen, ich hatte ihr ein großes Vergnügen mit meinem Schreck bereitet.
Ida bemerkte einmal, daß Waltraud mich wie eine von ihren Puppen behandelte. Sie wies Waltraud zurecht: "Du mußt nich denkn, det die Christa dein Schpielzeuch is, merk dir det!" Darüber war ich sehr froh. Nun schikanierte Waltraud mich nur noch, wenn Ida nicht in der Nähe war.
Als ich Fünfjährige mich wieder einmal von Waltraud ungerecht behandelt fühlte, heulte ich: "Det saare ick allet Oman, denn wißte schon seehn, wat de davon hast!" Sie warf den Kopf zurück und lächel-te höhnisch: "Det kannst de ruhich machn. Da passiert jar nischt. Det is neemlich MEINE Oma; un duuu - du hast jar keene!" Verdutzt schwieg ich. Die Ungerechtigkeit war vergessen. Ich forschte nach. Die von Waltraud behauptete Ungeheuerlichkeit bewahrheitete sich: Die Frau, die ich zärtlich "Oma" nannte, war meine Tante. Die Mutter meines Vaters war verstorben, die Mutter meiner Mutter war unbekannt. "Onkel Otto" und "Tante Elly" waren in Wirklichkeit meine Eltern und meine Brüder Manfred und Paul wurden mir tunlichst vorenthalten. Kann man so etwas verkraften? Ich mußte es versuchen.
In der Regel bekam ich all das, was Waltraud auch bekam. So auch einen lebenden Maikäfer zum Spielen. Waltraud und Doris besaßen mehrere Käfer und beschäftigten sich stundenlang mit ihnen. Ich durfte mit meinem Käfer an einem anderen Ort spielen, ich hatte zufrieden zu sein, überhaupt einen be-kommen zu haben. Aber ich wußte nicht, was man mit einem Käfer spielt. Ihn mit seinen krummen Bei-nen in der Schachtel herumstaksen zu sehen, war mir bald langweilig, so setzte ich ihn auf die wilden Triebe eines Lindenbaums vor unserer Haustür. Hier bewegte er sich wesentlich eleganter. Als ich sah, daß er Luft unter seine Flügel pumpte, fing ich ihn rasch ein, denn hätte ich ihn davonfliegen lassen, wäre ich wieder einmal ausgelacht worden. Es machte mir nichts aus, daß der Käfer ein paar Tage später tot in seiner Schachtel lag. Ich gönnte ihm seinen Frieden und begrub ihn bei jenem Lindenbaum.
Im Sommer 1950 hatten Waltraud und Doris sich ein kleines heiteres Theaterstück ausgedacht, wel-ches sie den Nachbarskindern vorführen wollten. Rasch war auf einem nahegelegenen beräumten Rui-nengrundstück ein kleiner Hügel zur Bühne deklariert, und die beiden Mädchen begannen, den "Zu-schauerraum" zu gestalten. Sorgsam legten sie aus Ruinen herausgebrochene Ziegelsteine als Sitzplätze im Halbkreis aus. Plötzlich sagte Doris: "Der Mäcky is noch soo kleen, für den leje ick zwee Steine hin." Da erwiderte Waltraud (um eine kürzliche Meinungsverschiedenheit im Nachhinein zu ihren Gunsten zu entscheiden): "Christa is ooch kleen, für die leje ick ooch zwee Steine hin." Damit war Doris nicht ein-verstanden. Obwohl ich einwandte: "Ick setz mir als letzta hin, ick kann ooch an de Erde sitzn, wenn nich jenuch Steine da sin!", legte Doris für ihren Bruder immer noch einen Stein mehr auf, als Waltraud für mich anhäufte. Ich wiederholte meinen Einwand laut, doch die Mädchen waren total in ihren Streit vertieft. Er war so absurd; Mäcky konnte noch nicht freihändig laufen und hätte den für ihn bestimmten Steinstapel niemals erklettern könen und überdies blieben nunmehr für die anderen Zuschauer kaum noch "Sitzplätze" übrig. Ich hätte die beiden großen Mädchen gern zur Vernunft gebracht, aber ich wußte nicht, wie ich Waltraud ihr - in meinen Augen - Unrecht erklären sollte, nachdem sie sich für mich ein-setzte und wußte auch nicht, worum es in Wirklichkeit ging. Die Steinstapel waren inzwischen so hoch und wacklig, daß sie unter ihrem eigenen Gewicht einzustürzen drohten. Waltraud hielt den für mich be-stimmten Stapel bereits mit beiden Händen fest. Ich ertrug den Streit nicht länger und stieß den für Mäc-ky bestimmten Stapel um. Leider machte Doris gerade einen Schritt in seine Richtung und bekam die fallenden Steine gegen ihr Schienbein. Sie hüpfte wehklagend im Kreis herum. Es tat mir sehr leid, aber ich wußte, sie würde meine Entschuldigung nicht annehmen, sondern mich verprügeln. So rannte ich nach Hause. Waltraud hetzte mir nach und gratulierte mir für meinen "Mut". Wenn ich nicht eingegriffen hätte, hätten sich die beiden Mädchen wieder geschlagen, wobei Waltraud meist den kürzeren zog. Ich wollte sie nicht mit einem blauen Auge sehen. Das Stück, welches die beiden spielen wollten, fiel aus.
Am Sonntag gingen wir Kinder oft zur Kindervorstellung ins Kino, wo eine Eintrittskarte damals nur fünfundzwanzig Pfennige kostete. Mir gefielen die russischen Märchenfilme am besten. Nachdem wir wieder einmal einen ganz besonders ergreifenden Film gesehen hatten, entspann sich auf dem Heimweg folgendes Gespräch:
Waltraud (ebenso höhnisch wie mitleidig): "Na, Krille, haste wieda jeweent?"
Ich (aufschluchzend): "Na, wenn det doch so traurich is, det der Jute zuletzt imma schtirbt!"
Doris (kalt): "Hätt a sich nich injemischt, weer ihm ooch nischt passiert."
Ich (aufgebracht): "Aba denn hätte doch der Drachn weita jedet Jah n Meechn jeholt un die Felda va-brannt!"
Doris (schnippisch): "Na und? Det is Schicksal."
Ich war nicht bereit, mich mit solch einem Schicksal abzufinden und keifte: "Denn wär det woll ooch ejal, wenn jetz hier n Besoffna uns dreie mit sein Auto dootfeehrt?" (Kürzlich hatte Irma aus der Zeitung vorgelesen, daß ein betrunkener LKW-Fahrer in eine Kindergartengruppe gerast war, wobei sechs Kin-der getötet wurden.)
Waltraud (ergeben): "Wenn det unsa Schicksal is . . ."
Ich (hämisch): "Denn brauch man woll bloß so vor sich hin zu leehm un uff sein Schicksal zu waatn, wat?"
Waltraud (munter): "Nee, nee, man muß sein Schicksal ooch schon n bißchen selba in ne Hand nehm!"
Ich (heftig gestikulierend): "Na, det hat Iwanuschka doch jemacht un dabei Jutet for sein Dorf areicht!"
Doris (höhnisch): "Ja, aba selba hat a übahaupt nischt davon!"
Ich hatte den Eindruck, daß Doris den Filmhelden verachtete und fragte: "Un wat saachst de zu Jesus? Der hat so ville Jutet jetan, det man heut noch zu ihm beetet!" (Genaugenommen wollte ich sagen: „Wenn Iwanuschka ein Blödmann war, dann ist Jesus umsonst gestorben!“)
Waltraud (lachend): "Der war ja keen richtja Mensch! Und außadem mußte er denn selba ooch sei m Schicksal folljen, du weeßt doch, det er ant Kreuz jeschlaaren wurde!"
Ich war der Ansicht, daß sich uns das Schicksal trotz aller göttlichen Fügung meist in Gestalt eines Men-schen begegnet und wählte rasch ein neues Beispiel: "Un Hitla? Der hat doch jleich det Schicksal der Natzjon in de Hand jenomm!"
Doris (unwillig): "Det Schicksal der Natzjon! Du quatschst heut wieda een dußlijet Zeuch zusamm! Halt bloß endlich die Klappe, du alte Zanktippe (so verstand sie Xanthippe. Keiner von uns wußte, wer Xan-thippe war. Für sie war sie ein Quälgeist, ein ständig Streit suchendes Individuum, streitsuchend an Stel-len, wo alles klar war).
Waltraud: "Loof ma n Schtück vor, Krille, wir wolln uns üba wat andret untahaltn."
Sie schob mich an der Schulter vorwärts, und ich gehorchte, nachdem ich das böse Funkeln in Doris` Augen sah.
Als ich der Freundin meiner Mutter Jahre später von dieser Begebenheit berichtete, kommentierte sie: Gegen Dummheit kämpfen selbst Götter oft vergeblich.
Im Sommer vor meiner Einschulung gab es einen Tag, an dem Waltraud mich als "Anstandsdame" zu ihrem ersten Rendezvous mitnahm. Sie verplauderte sich mit dem Knaben und wir hatten es nun sehr eilig, nach Hause zu kommen. Beim Überqueren der Charlottenburger Str. lief Waltraud einem Radfah-rer direkt ins Rad. Beide stürzten, das Rad zerbrach, der Radfahrer hatte ein Loch in der Hose und eines im Ärmel, somit also gewiß auch etliche Wunden. Waltraud brüllte wie am Spieß. Rein äußerlich be-trachtet hatte sie nur Hautabschürfungen, aber die am Kopf blutete stark. Der Mann befürchtete innere Verletzungen, weil Waltraud sich den Leib hielt und unablässig schrie, als litte sie allergrößte Schmerzen. Er bat mich, seine Tasche zu tragen - sie enthielt wichtige Dokumente, wie er erklärte -, ließ das Fahrrad ungesichert zurück und trug Waltraud nach Hause. Ich wies den Weg. Waltraud schrie noch eine Weile, dann schluchzte sie nur noch. Auf der Treppe schmiegte sie sich selig an den Samariter. Sie genoß es sichtlich, getragen zu werden. In der Wohnung angekommen, wurden Waltraud und der Radfahrer von Ida verarztet. Er war sehr besorgt und ließ seine Adresse zurück, damit er im Bedarfsfall für den Scha-den aufkommen könnte. Als Ida hörte, daß Waltraud selbst den Unfall verursachte, befand sie: "Det is nett, aba nich nötich." Waltraud hatte wirklich nur ein paar Kratzer abbekommen, die rasch verheilten.
Eines Tages sagte Waltraud zu mir: "Uff deine Familie jibt et n Jedicht." Ich lächelte glücklich und sie fuhr fort: "Sechs ma sechs is sechzndreißich, is der Mann ooch noch so fleißich un die Frau is liedalich, taucht die janze Wirtschaft nich!" Was sollte ich dazu sagen? Verletzt zog ich mich zurück. Sie machte immer wieder derartige Bemerkungen. Sie sah nicht, daß sie mir wehtat. Wenn ich mich jedoch ihrer glit-zernden Augen bei ihren häßlichen Worten erinnere, dann möchte ich meinen, daß es ihr Spaß machte, mich zu demütigen.
Einmal sagte sie höhnisch zu mir: "Ih, dein Vata is ja soo alt un häßlich!" Ich blickte sie ernst an und überlegte, ob es jetzt vielleicht angebracht war, einmal gleiches mit gleichem zu vergelten und zu ant-worten: "Ja, ja, so is det, ick hab n altn un häßlichn Vata un du hast zwee junge, wovon de den een nich kennst un den andan nich leidn kannst. Mein Vata kümmat sich nich um mir un deine Väta kümman sich nich um dir. Is denn nu eene von uns beede bessa dran?" In der Furcht, sie als Ansprechpartnerin zu ver-lieren, schwieg ich. Und als sie ein paar Tage später höhnisch kicherte: "Ih, deine Mutta is ja Linkshänd-la!", war es mir zu blöd, ihr noch einmal zu erklären, daß es "Linkshänder" heißt (kürzlich war bei dem üblichen Sonntagnachmittagkaffee, an dem außer Ida, Waltraud und mir auch Grete L. teilnahm, davon die Rede, daß meine Mutter diese Besonderheit aufweist. Alle sagten "Linkshändler". Ich versuchte, zu korrigieren. Daraufhin war meine Mutter eben ein "Linkpoot". Es könnte mich interessieren, ob dieses Wort einer lebenden Sprache entstammt!) Ich schlug also jetzt Waltraud gegenüber in Klatschtantenma-nier die Hände über dem Kopf zusammen und rief mit verdrehten Augen und gequetschter Stimme aus: "Wat det nich allet so jibt!" Waltraud blieb der Mund offen, dann winkte sie verächtlich ab und ließ mich stehen. Nun hatte ich meine Ruhe. Um ihrer Schönheit und ihres ungewöhnlichen Schicksals wegen hatte ich ihr vieles verziehen, aber einmal mußte Schluß sein mit den entwürdigenden Gemeinheiten. Ich konn-te und wollte ihre häßlichen Bemerkungen, die vielen Lügen und Verdrehungen der Tatsachen betreffs meiner Familie nicht länger ertragen. Damals war ich elf Jahre alt, Waltraud also siebzehn.
Waltraud sagte damals oft: "Appel fällt nich weit vom Schdamm!", womit sie andeuten wollte, daß ich meiner Mutter charakterlich sehr ähnlich sei. Sie kam nicht auf die Idee, daß der Satz auch auf sie selber zutrifft. Aber da alle so waren wie sie, war ich der Außenseiter, das erziehungsbedürftige Kind, wo jedes Mittel recht war, es zur Raison zu bringen.
Waltrauds Einsegnung war ein großes Fest. Zum Festakt in der Kirche durfte ich nicht mitgehen. Man sagte mir, daß jeder nur wenige Familienangehörige mitbringen darf. Gerda als Mutter natürlich und Alfred gingen hin und "die Moabiter". Ich weiß nicht mehr genau, welche von "den Moabitern" es wa-ren. Vielleicht waren es nur Christa und ihre Mutter. Ich war so unglücklich darüber, nicht mit in die Kir-che zu dürfen, daß ich stundenlang weinte. Ida fluchte: "Die Kirche is voll; da sin unheimlich ville Leute, jeeda, der heut einjeseejenet wird, hat ne jroße Vawandtschaft, die alle jerne dabei sein möchtn, nich JEEDA kann an die Einseejenung teilhabn, eena muß ooch for t Essn sorjen!" Wenn Ida geahnt hätte, daß das die letzte Gelegenheit war, mich freiwillig in eine Kirche gehen zu sehen, hätte sie ihre Meinung wahrscheinlich geändert. So sorgte ich nun also für das Essen, indem ich ihr half, das Gekochte nach Pankow zu transportieren, wo die Feier in Gerdas Wohnung weiterging.
Ich war so verärgert, daß ich mich nicht an Waltrauds Einsegnungskleid erinnere. Ich weiß nur noch, daß sie sagte: "Det Kleid krichst Du nich, Krille,det is mein Einseejenungkleid; und eha schterrb ick, als det du det krichst!" Sie sah wunderschön aus mit ihrer neuen Frisur. Insgesamt wirkte sie auf mich wie eine Kronprinzessin. Nie hatte ich sie über so viele Stunden hinweg bei so guter Laune gesehen! Obendrein legte sie ein tadelloses Benehmen an den Tag, war keinen Moment schnippisch, sondern zu jedermann freundlich und liebenswürdig, sogar zu ihrem verhaßten Stiefvater.
Wenn es an der Tür klingelte, lief sie rasch, um zu öffnen. Das war sonst immer meine Aufgabe. Seit ich groß genug war, um an die Türklinke heranzureichen, durfte ich die Tür öffnen und JEDEN in unsere Wohnung einlassen. Diese Aufgabe war mir so in Fleisch und Blut übergegangen, daß ich auch in ande-ren Wohnungen aufsprang, um meine Pflicht zu tun. Als ich es auch an diesem Tage beim ersten Klingeln wie gewohnt tun wollte, herrschte Gerda mich an: "Du bist hier heute nich die Hauptperson!" - als wäre ich es sonst IMMER. Ein paarmal waren es keine Gäste, sondern Musiker oder Sänger, die dem Konfir-manden ein Ständchen brachten in der Hoffnung auf ein gutes Trinkgeld (Namen und Adressen der Kon-firmanden waren an der Kirchentür angeschlagen). Den ersten gab Waltraud etwas, das sie allerdings erst von ihrem Stiefvater erbitten mußte. Danach verbat er sich die Bettelei und Waltraud wies die Musizie-renden im Tonfall ihrer Eltern ab. Ansonsten ging es auf Waltrauds Einsegnungsfest genau so zu wie auf all unseren anderen Familienfeiern.
1952 bekam Waltraud eine neue Deutsch-Lehrerin, die den berliner Jargon im allgemeinen und Walt-rauds im besonderen vor der Klasse kritisierte. Waltraud mokierte sich zu Hause darüber: "Is denn det nu soo wichtich, wie man schpricht?" Ihre Mutter, die zufällig bei uns zu Besuch weilte, antwortete sanft: "Det is schon wichtich, Engelchen, wenn de nich oondlich schprichst, kannst de nie int Büro aa-beitn, un du willst doch woll nich wie deine Mutta in die olle dreckje Fabrik jehn müssn?!" Waltraud er-rötete leicht und sagte mit gesenktem Kopf sehr bestimmt: "Nee!" Sie war tatsächlich später nie als Pro-duktionsarbeiterin tätig.
Einmal - wir waren damals 11 und 17 Jahre alt - kam Waltraud nach Hause und sagte unvermittelt zu mir: "Wenn ick denn schpeeta ma vaheirat bin, laß ick mir von mein Mann n zartrosanet seidich schim-mandet Nicklischee (Negligee) koofn. Weeßt du, wat n Nicklischee is? Nee, wa? Naja, kannste ja ooch nich wissn, bei dir sin ja Fremdwörta Jlückssache!" Sie wollte an mir vorübergehen. Ich wußte, was ein Negligee ist, ich hatte das Wort kürzlich in einer Illustrierten gelesen und die Freundin meiner Mutter nach der Bedeutung gefragt (sie erzählte mir dazu eine ihrer Kindheitserinnerungen, daß ihre Lehrerin seinerzeit die Schüler aufforderte, Wörter mit doppel- "e" zu nennen und ihr ausgerechnet das Negligee in den Sinn kam, woraufhin sie von der Klasse ausgelacht wurde). Ich beschloß, mich diesmal nicht ver-letzt zurückzuziehen und rief ihr nach: "Du hast Recht, Walle, Fremdwörta sind bei mir Jlückssache. Du hast neemlich det Jlück, det ick deine Fremdwörta vaschtehe!" Das war an jenem Tag unsere gesamte Unterhaltung; sie verließ die Wohnung gleich wieder. Im Übrigen wäre mir nie eingefallen, ein Wort zu benutzen, dessen Bedeutung mir unklar ist. Wenn sich mir schon einmal die Gelegenheit bot, mit jeman-dem zu reden, dann wollte ich auch verstanden werden.
Ein paar Tage später wollte sie die erlittene Schlappe ausgleichen und begann mit mir zu stänkern, was darin gipfelte, daß sie mich ein Kuckucksei nannte. Diese Bemerkung tut mir heute noch weh, denn weder hatte ich darum gebeten, bei Ida aufzuwachsen, noch hatte mich meine Mutter freiwillig zu Ida gegeben. Ich vermute heute, daß sie ihren Schmerz über die eigene Trennung von der Mutter an mir aus-ließ. So kam ihr auch einmal in den Sinn, mir gegenüber schlecht von ihrer Mutter zu reden. Bissig zählte sie alle Fehler auf, die sie an ihrer Mutter zu bemerken glaubte. Getreu Idas Maxime: "Man soll immer mit den Wölfen heulen!", wagte auch ich, etwas Negatives hinzuzufügen: "Deine Mutta hat Achselje-ruch!" Waltraud sah mich giftig an und keifte: "Du dreckjet Mistschtück bist nischt weita als n infama Nestbeschmutza!" Ich erwiderte aufgebracht: "Eh, wir schprachn ehmmd ausnahmsweise mal üba DEI-NE Mutta, nich üba meine!" Aber es half alles nichts, ich war - wie immer - im Unrecht.
Dann wohnte sie wieder eine Weile bei ihren Eltern. Als sie nach vielen Streitigkeiten mit ihrem Stief-vater wieder zu Ida zurückehrte, hatte ich alle Ungerechtigkeiten längst vergessen. Ich freute mich, sie wieder bei uns zu wissen. Ich glaubte, daß alles wieder so wird, wie es war, denn sie war ja nur zwei Jah-re weggewesen. Ich hatte ja keine Ahnung, was sie alles durchmachen mußte im Elternhaus. Sie sprach auch nie mit mir darüber. Ich war für sie "die kleene Doowe". Das habe ich stets ignoriert. Sie war sechs Jahre älter als ich, logisch, daß sie entsprechend mehr wußte. Erst heute wird mir klar, daß sie nicht mei-nen Bildungsgrad meinte, sondern meine Unfähigkeit zur Cleverness. Sie verehrte clevere Leute, ich ver-abscheute dieselben. Damit es hier keine Mißverständnisse gibt: Als "clever" galten ihr jene Leute, die es verstehen, andere zu übervorteilen, ohne daß sie sich auch nur im Geringsten dagegen wehren können. Clever ist, wer einen Vorteil wittert und schonungslos für sich nutzt. Erst Jahrzehnte später erkannte ich die Variante, daß man auch clever ist, wenn man am richtigen Ort zur richtigen Zeit mit Worten eine un-heilvolle Situation zum Guten wendet.
Ich weiß nicht mehr genau, ob ich zwölf oder gar schon dreizehn Jahre alt war, als ich erstmalig Idas Erlaubnis bekam, mit einem jüngeren Nachbarskind in unserer Stube zu spielen. Die etwa zehnjährige war kürzlich in unsere Gegend gezogen, und kaum, daß ich auf der Straße ihre Bekanntschaft gemacht hatte, begann es zu regnen. Ich nahm sie mit, weil ich mich ausgezeichnet mit ihr unterhalten konnte. Wir begannen ein Rollenspiel, wo die Dialoge nicht festgelegt zu werden brauchten, weil das Mädchen akku-rat so reagierte, wie ich die Szene vor meinem geistigen Auge sah. Ida blickte mehrfach argwöhnisch zur Tür herein, sah uns aber jedesmal beim friedlichsten Spiel. Dann kam Waltraud nach Hause. Ich hoffte, daß sie wie gewöhnlich nur ihre Kleidung wechselt und dann wieder ihren Vergnügungen nachgeht, aber die hatten an jenem Tage wohl Zeit. Sie unterbrach unser Spiel und fragte das Mädchen nach Namen und Herkunft und zeigte ihr dann ihre Kleider und Schmuckstücke und was weiß ich nicht noch alles. Ich ärgerte mich grün und blau, weil Waltraud mir die einzige Spielkameradin, die so wunderbar zu mir paß-te, abspenstig machte. Waltraud spielte schon lange nicht mehr mit mir, warum nun mit diesem Mäd-chen, das viel jünger war als ich? Ich versuchte vergebens, Waltraud von ihr abzulenken. Es endete da-mit, daß Waltraud mich beschuldigte, herrschsüchtig zu sein. Wütend ging ich in die Küche. Später führ-te sie das Mädchen zu mir: "So, ick muß jetz los. Nu spielt ma wieda schön." Ich war außer mir. Ich rief: "Nee, du hast se übanomm, nu bring se ma ooch nach Hause!" Waltraud lachte: "Ick weeß doch nich, wo die wohnt!" Das war mir egal. Ich dachte nicht mehr an das Mädchen, ich ärgerte mich zu sehr dar-über, daß Waltraud mir den Tag verdorben hatte. Ich spuckte Gift und Galle. Das Mädchen ging alleine nach Hause. Ich hab sie nie wieder gesehen und mir leider nicht ihren Namen gemerkt. Aber daß sie ein hübsches und phantasievolles Geschöpf war, weiß ich noch heute. Und ich bitte sie um Vergebung für die ungerechte Behandlung, die ich ihr zuteil werden ließ.
Als ich Waltraud fünfzehn Jahre nach Idas Tod zufällig begegnete, wußte sie noch immer nicht, was sie mir angetan hatte. Sie war der Meinung, stets wie eine ganz liebe Schwester zu mir gewesen zu sein. Ja, sicher hatte sie mich lieb. Auf die Weise, die sie von ihrer Mutter, von Ida und von Familie L. abgese-hen hatte, wo häufig Kampf bis aufs Messer angesagt war. Ich begegnete ihr in der Straßenbahn. Sie fuhr zum Einkauf, ich zur Arbeit in die "Kinderkombination", wo meine Söhne untergebracht waren und wir knüpften unse-re Verwandschaft neu. Ich besuchte sie, sie besuchte mich, jeweils einmal. Da ich Waltraud sehr gern hatte, besuchte ich sie abermals und bot ihr an, kostenlos Nickies für sie und ihre Kinder zu stricken. Mit "kostenlos" war gemeint, ohne Stundenlohn zu nehmen. Sie gab mir nicht den Preis für die Wolle. Ich hatte gearbeitet und das Material bezahlt. Waltraud hatte einen Mann, der - nach ihrer Aussage - gut ver-diente, ich, die drei Kinder zu ernähren hatte, hoffte, an jenem Tag den Preis für die Wolle zu bekommen, um meine Kinder ernähren zu können. Waltraud aber sagte: "Du hast gesagt, daß du kostenlos für mich strickst." Ein Mißverständnis. Nur diesmal war es finanziell. Dennoch verschaff-te ich ihr eine Arbeitsstelle in der "Kinderkombination", wo ich als Reinigungskraft beschäftigt war. Sie bekam eine Anstellung als Hilfserzieherin, was ihr sehr gut gefiel. Eines Tages ertappte ich sie dabei, daß sie krippeneigene Bettwäsche in ihre Tasche steckte. Sie sagte: "Na und? Ick bring se ja wieda, wenn se dreckig is!" Clever, die eigene Bettwäsche unbenutzt zu lassen und stattdessen die volkseigene Wäsche zu benutzen und auch noch das Waschen zu sparen! Ich wäre nie auf so etwas gekommen und folgte Waltrauds Beispiel nicht. Ich bin eben blöd.
 
Liebe Oldicke,

nu weeß Oldfemi wie de zu dein Namen jekommen biss..

(Na, an mein berlinerisch muss ich als Rheinländerin wohl noch feilen...)

Hab wieder mit Vergnügen beide Kapitel über Waltraut und Gerda gelesen!

Da mir dort ein paar kleine Stellen aufgefallen sind, die ich beim ersten Lesen als "knurpselisch" empfinde, wie das bei uns in Düsseldorf heißt, melde ich mich später noch ausführlicher dazu.

Wollte nur ganz schnell das Feedback "ick habs jelesen un janz toll jefunden" rübergeben.

Liebe Grüße

Oldfemi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ei,

das ist ganz süß von dir, femi. und knurpselig laß ich mir einrahmen, hab ick noch nie jehört. ganz lieb grüßt
 
da bin ick

Liebe Oldicke,

jetzt wie versprochen noch eine Rückmeldung zum 3. Teil. Den vierten schaffr ich vielleicht morgen.

Wie Willi schon geschrieben hat, ist der ganze Text sehr flüssig und die Schilderungen lebendig gelungen! So sind es nur Kleinigkeiten, wie wiederholungen hier und da, die du vielleicht nochmal anscchauen solltest.

besonders berührt haben mich im 3. Kapitel die seltenen Stellen, an denen es mal eine Harmonie zwiscchen Ida, Waltraud und Christa gab - besonders die Stelle, als beide dir vorgesungen haben.

Waltrauds "Verantwortung" für die kleine Christa und Idas Beschränkung auf die leibliche Grundversorgung wiederholst du an manchen Stellen, wo die nachfolgende Beschreibung der Szene dies ohnehin deutlich macht und wesentlich eindrücklicher! Oder wenn du nach solch einer Szene diese wieder mit solch einem Hinweis zusammenfasst. Der Schmerz der kleinen Christa kommt in deiner wundervollen Schilderung ohne alle weiteren Erklärungen oder posthumen Interpretationen der großen aus. Lass dir dafür eventuell Raum in einem Extrakapitel am Schluss der Memoiren, wo du all diese Stellen, die die erwachsene Christa zur Erkenntnis der "wahren Gesichter" ihrer Figuren geführt haben, zusammenträgst.

Mit einem "weeichen Bauchgefühl" habe ich eure Kinderspiele begleitet, die frohen ebenso wie die mit den Kinderstreitereien. Es gibt wohl keinen Leser, den du damit nicht in dieses Gefühl des Kindseins zurückführen würdest.

Den internen Kampf der beiden "Schwestern die keine waren" um die Gunst der Oma, der "richtigen" Familie usw. eint - so widersprüchlich sich das anhören mag - diese beiden Mädchen für den Leser. Man ist Waltraud weniger gram,da man die Hintergründe ihrer "kaputten" Familie kennenlernt und dies alles an der schwächeren Kleinen auslässt um nicht selber draufzugehen. Und dann dieses sensible kliene Mädchen, das diese Kindheit - wenn auch nicht ohne Narben - so doch bestimmt "heiler" und "gesünder" als viele andere in dieser Familie übersteht: weil es die Welt von Anfang an mit anderen Augen sieht, weil es sich von Beginn an distanziert und damit rettet, obwohl gleichzeitig alles in ihm danach schreit, "echt" dazu zu gehören ....

Stimmt mein Eindruck,Oldicke?

Das vierte Kapitel schaffe ich heute leider nicht mehr. Ich habe es aber schon gelesen.

Schöner Abend! Es grüßt dich lieb

deine Femi
 
Liebe oldicke,
dieser Teil gefällt mir besonders gut, weil du uns hier geradezu hautnah an den Erlebnissen deiner Kinderzeit teilhaben lässt. Deine Berliner Mundart ist unübertroffen. Wiederum eine echte oldicke-Leistung.
Zu kritisieren gibt es fast nichts. Einmal eine Doppelung: oben 2X Anfangs (hier, aber wirklich nur an dieser Stelle, ist ein wenig Feinarbeit noch nötig). Ja, und leider die vorhin so gelobte Berliner Mundart. Wirst kaum einen Verleger finden, der Passagen in dieser Länge zulässt. Einzelne Wörter oder hin und wieder einen kurzen Satz vielleicht, mehr aber nicht.
Doch das sind Überlegungen, die erst später geklärt werden müssen.

Auf den Inhalt hat Femi ja schon treffend geantwortet, hier kann ich mich nur voll anschließen.

Es grüßt dich herzlich
Willi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

ja, ich sehe, hier steht mein text richtig. vielen dank für eure aufmerksamkeit und hilfe. ick seh mir die stellen gleich an. ja, wegen der berlinereien habe ick ooch bedenken, aba ick besteh druff! das is das schlimme . . . ganz lieb grüßt
 
L

leonie

Gast
liebe oldicke

schön zu wissen woher der name kommt, und er gefällt mir sehr. ich denke das dieses träumen von einer eigenen welt, oder märchen, hat christa sehr geholfen. ich lese deine geschichten sehr gerne und werde heute nach Chor kapitel 4 lesen.
femi und willi haben schon alles gesagt, da bleibt mir nicht mehr, als es mit genuss zu lesen und mit spannung auf neue kapitel zu warten, ganz gleich wie lang sie sind denn du schreibst so, dass man in diese welt eintauchen kann und mittenmang dabei ist.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
vielen

dank für deine lieben worte. das macht mut. vielleicht schick ich die sachen jetzt wirklich an einen verlag, aba erst, wenn alles von euch durchgesehen wurde. ganz lieb grüßt
 



 
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