moralischer Konflikt

Mardam

Mitglied
Das verräterische Foto

„Ich weiß, ich habe Sie das schon so oft gefragt, aber, sind Sie sich sicher, dass Ihnen nicht noch etwas einfällt?“
Er schüttelt wie immer den Kopf. Sie nickt wie immer. Ein Seufzer entgleitet ihr etwas zu laut und sie fügt hinzu: „Dann dürften wir nichts zu befürchten haben!“

Dienstag 6 Uhr. Normalerweise fühlte sie sich am frühen Morgen alles andere als fit. In der Regel schleppte sie sich mit aller Mühe aus dem Bett und erschrak sich jeden Tag aufs Neue über ihre verquollenen Augen. Üblicherweise machte sie sich auch nicht viel aus klassischer Morgenroutine oder irgendeinem Beauty Programm. Doch heute war alles etwas anders. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, war es seit geraumer Zeit anders. Es klang so hart, wenn sie zugab, dass sie nur mittelmäßig erfolgreich war. Ihr Studium hatte sie mit Ach und Krach absolviert und auch die Examen waren ihr alles andere als leicht gefallen. So einfach es doch in den Serien und Filmen ausgesehen hatte eine Staranwältin zu sein, (enge Kostüme, schicke Pumps und eine etwas biedere Frisur. Ständig unterwegs sein, ewig lange in der Kanzlei bleiben und haufenweise Geld verdienen) umso ernüchternder war die Wahrheit: Bewährungshelferin in einem 0815 Büro.
Kaum hatte sie sich geistesabwesend ihr Gesicht gewaschen, machte sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend breit. In letzter Zeit hatte sie das häufiger. Meistens kam es aus dem Nichts. Um das Unwohlsein schnell zu verdrängen, griff sie sich ihr Lieblingskleid und suchte hektisch nach der „Bauchweg-Strumpfhose“. Sie roch kurz an dem Nylonteil und beschloss dieses heute Abend endgültig zu waschen. Das Kleid schmeichelte ihr, daher er trug sie es so oft sie konnte. Sie hatte es schon so lange, dass es sich praktisch an den richtigen Stellen ihrem Körper angepasst hatte. „Curvy ist doch jetzt total im Trend“, dachte sie und begutachtete ihr Hinterteil im Spiegel. „Mit Baucheinziehen sogar ganz gut“, empfand sie.
Während sie ihr untypischerweise ihr Make-up auflegte, versuchte sie nochmal im Kopf alles durchzugehen: “Ich muss ihm deutlich machen, dass seine Bewährungsauflagen wichtig sind. Er darf mir auch nicht ständig lustige Geschichten aus seinem Privatleben erzählen. Das hat mich nichts anzugehen! Ich muss autoritär sein und er muss mich weiterhin ernstnehmen!“ Während sie die Parolen im Kopf herunterspulte, schämte sie sich irgendwie für sich selbst! Gott verdammter, was war eigentlich los mit ihr?
Tempo und Lautstärke. Das waren die Dinge, die sie momentan am meisten von ihren negativen Gedanken ablenkten. Sie setzte sich in ihr Auto, wählte ihren Lieblingssong aus und drückte beflügelt von Beth Dittos schmetternden Tönen aufs Gaspedal. Sie vergaß für ein paar Minuten alles um sich herum und fühlte sogar so etwas wie Vorfreude. In ihr Büro stürmend warf sie einen Blick auf die Uhr. „Noch zehn Minuten“, dachte sie und suchte hektisch in ihrer Schublade nach einem Kaugummi. Als sie aber keinen fand, wurde sie etwas nervös. „Ich hätte schwören können, dass ich gestern noch welche hatte.“, murmelte sie.
„So früh schon gestresst?“, wurde sie von einer männlichen Stimme aus den Gedanken gerissen. Augenblicklich rutschte ihr das Herz in die Hose. „Sie wissen doch, wie das ist! Ich habe jede Menge zu tun!“ antwortete sie und es klang als würde ihren Worte sich überschlagen. Manch einer hätte auch ‚überfordert‘ dazu gesagt. Ein anderer ‚verunsichert‘. „Wie ich sehe, nehmen Sie immerhin unsere Treffen ernst. Allerdings sind Sie ZU FRÜH!“ fügte sie gespielt genervt hinzu. Ein bisschen so wie in einem Theaterstück, in dem der Hauptakteur besonders sauer wirken muss.
Seine schneeweißen Zähne blitzten durch den mittlerweile mehr als 3- Tage alten Bart und er räusperte sich alibiverlegen „Wie Recht sie haben! Ich bitte um Verzeihung!“
Ihre nasskalte Hand verwies ihn auf den Stuhl gegenüber von sich. „Setzen Sie sich!“ murmelte sie. Während sein Lächeln in ihren Gedanken immer mehr Platz einnahm und ihr beinahe die Sicht trübte, legte sie einen Stapel Akten vor seine Nase.
„In diesen Unterlagen dokumentiere ich seit Wochen ihr Verhalten. Ich trage ein, ob Sie sich an alle Auflagen halten, ich protokolliere unsere regelmäßigen Treffen und wenn ich besonders gut gelaunt bin, schreibe ich sogar noch einen Kommentar dazu!“ Sie blickte auf seine Stirn. Sie hatte einmal irgendwo gelesen, dass das ein Gegenüber verunsichern kann. Wenig beeindruckt und etwas sarkastisch fragte er: „Okay, aber das ist doch ihr Job! Ich meine, dafür bekommen Sie verdammt viel Geld, oder?“
Sprachlos und gleichzeitig hocherregt vergaß sie den Trick mit der Stirn sofort und blieb wieder an seinem Lächeln hängen. „Ich… ich muss doch bitten!“ sammelte sie sich. „Der Grund, warum ich Ihnen das erzähle, ist der, dass all diese Dokumentationen im besten Falle 30 Prozent Wahrheitsgehalt besitzen!“ Schamesröte kroch langsam ihre Wangen hoch. Die Moralpredigt klang nicht gerade überzeugend. Oh Gott! Wie waren die Sätze denn noch gleich? Autorität… irgendwas mit ‚autoritär‘ wollte sie doch sagen und mit ‚lustigen Geschichten‘. Sie wollte gerade zu einem neuen Versuch ansetzen, da fiel er ihr ins Wort. Er gab ihr zu verstehen, dass er ihren Unmut absolut nachvollziehen könne und, dass er all ihre Bemühungen unheimlich zu schätzen wisse. Und während er sich seiner Dankes- und Entschuldigungsrede hingab, die größtenteils aus Gelöbnissen bestand, hatte sie wahnsinnige Schwierigkeiten ihm zu folgen. Sie sah ihn ganz genau an, war auch nicht von irgendetwas anderem abgelenkt, aber dennoch hörte sie nicht mehr zu. Sie erwachte ganz brutal aus ihrem Tagtraum als sie das Wort Revision hörte. Die gottverdammte Revision. Der Grund für ihre Magenschmerzen. Seit dem Tag, an dem sie das Schreiben in der Hand hielt, was sie darüber in Kenntnis setzen sollte, dass es ein erneutes Verfahren geben werde, fühlte sie zunehmend das, was man Panikattacken nennen könnte.
„Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, die Mutter des Opfers hat mitsamt des Staatsanwaltes Revision eingelegt! Sie stehen in 3 Wochen noch einmal vor Gericht! Es gibt scheinbar neue Beweise. Dem Opfer fehlt ein altes Polaroid Foto. Sie hatte es offenbar immer in ihrem Portemonnaie getragen. Ihre Mutter geht davon aus, dass es sich dabei um keinen Zufall handelt, sondern die Täter dies als Trophäe mitgenommen haben könnten. Ich bin der Meinung sie hat zu oft „Criminal minds“ geschaut.“ sagte sie verachtend und erschrak sich selbst wahnsinnig über diese respektlosen Worte.
Manchmal in ganz wenigen Momenten stellte sie sich die grausame Tat vor: Wie er und zwei weitere Männer die junge Studentin ermordet haben sollen. Sie sah das Opfer, eine rothaarige weibliche Person mit ein paar Kilos zu viel auf den Rippen (so wie sie selbst), einer Hornbrille und einem schüchternen Lächeln. Die Mutter hatte vieler solcher Fotos ausgegraben. Auf fast allen sah die junge Frau gleich aus. Unauffällig. Niemand, dem man Groll gegenüber hegen könnte. Dann fiel ihr Blick wieder zu ihm. Er saß ihr gegenüber und sie würde ihre Hand ins Feuer dafür legen, dass dieser Mensch niemals jemandem etwas zu Leide tun konnte. Mal abgesehen von ein paar kleinkriminellen Machenschaften, weswegen er regelmäßig zu ihr kommen musste. Nichts Wildes. Eigentlich sogar wirklich harmlos.

Erneut seufzt sie. Einen kurzen Moment herrscht Stille zwischen den beiden. Er ist er es, der diese unterbricht:
"Mir ist da doch noch etwas eingefallen! Wissen Sie,so viele Dinge habe ich in den letzten Jahren dem Zufall überlassen. Jeden Morgen bin ich aufgewacht in der Hoffnung, dass sich alles von alleine regelt. Damit ist jetzt Schluss!"
Sie versteht gar nichts mehr.
„Wie bitte?“ fragt sie irritiert.
Er lächelt sie an, steckt seine Hand in aller Seelenruhe in seine Jackeninnentasche und holt etwas hervor, was er ihr auf den Schreibtisch wirft. Ein Foto. Dreckig. Zerfleddert. Alt. „Sie entscheiden, wie es weitergeht!“
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Mardam, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 



 
Oben Unten