noch ohne Titel

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mrjingle

Mitglied
Wenn du genauer hinsiehst, wirst du die Risse bemerken.
Sie ziehen sich über meinen gesamten Körper. Doch im Gesicht ist es am schlimmsten.
Ich beobachte sie schon eine ganze Weile. Zuerst sah es aus wie trockene Haut.
Allerhand Cremes und Hausmittelchen habe ich angewandt. Gebracht hat es nichts.
Ich bin schließlich dazu übergegangen die Risse mit Makeup zu überdecken. Niemand bemerkte was mit mir passierte. Vorsichtige Bemerkungen von meiner Seite wurden mit Überraschung und Unglauben beantwortet.
Ich bin ein Meister der Camouflage.
Ich bin nie zu einem Arzt gegangen. Zuerst war es die Scham, dann die Einsicht, dass mir kein Mensch dabei helfen kann.
Die Schichten Makeup wurden dicker. Die Kinder bei mir im Haus fingen an ihre Witze zu machen. Als sie merkten, dass von mir keine Gefahr auszugehen schien, wurden sie mutiger. Ich konnte nicht mehr über den Hof gehen, ohne eine Schar kleiner, schreiender Spötter hinter mir herzuziehen. Die Leute fingen an zu tuscheln.
Vor ein paar Monaten habe ich begonnen meine Wohnung nicht mehr zu verlassen.
Man kann sich alles liefern lassen, was man zum Überleben braucht.
Wusstest du das?
Wenn ich einen Boten erwarte, verschwinde ich zwei Stunden vorher im Badezimmer. So lange brauche mittlerweile um die Risse zu überdecken.
Ich ernte misstrauische Blicke für mein Bemühen. Aber solange das Geld stimmt, werden keine Fragen gestellt.
Das ist mir ganz recht.
Würde ich mich nicht schminken, sähe ich sie schreiend davon laufen.
Es ist wirklich schlimm geworden. Ich verbringe viel Zeit damit vor dem Spiegel zu stehen und den Rissen beim Wachsen zuzusehen. Sie pulsieren, als hätten sie ein eigenes Leben.
Doch ich spüre, dass es nicht sie sind, die leben. Da ist noch etwas anderes. Es ist in mir. Es wächst. Es wird seiner Hülle überdrüssig.
Die Wahrheit ist, ich bin nur noch ein Kokon, eine Hülle, ein Brutplatz.
Und die Zeit des Schlüpfens steht unmittelbar bevor.
Herauskommen wird allerdings kein Schmetterling. Dessen bin ich mir sicher.
Bisher war sein Wachsen schmerzlos. Aber ich habe Angst vor der Geburt.
Ich habe beschlossen den Moment nicht abzuwarten. Unser Haus ist hoch. Das höchste Gebäude der Stadt. Das sollte ausreichen.
Es sollte bald geschehen. Solange es noch auf mich als Wirt angewiesen ist.
Wenn ich gesprungen bin, werden sie die Risse nicht bemerken. Sie werden sagen, das käme vom Aufprall.
Aber du weißt es besser.
Du kannst sie warnen.
Sag ihnen, am Anfang sieht es aus wie trockene Haut.
 
G

Gelöschtes Mitglied 5196

Gast
hallo

nette gruselgeschichte. inhaltlich gefällt sie mir sehr gut, fällt mir jetzt so spontan gar nichts ein, was ich großartig ändern würde. klar, sie ist sehr kurz und demnach nur ein kleiner einblick, als eine kurzgeschichte, aber es hat ausgereicht, um spannung aufzubauen und vor allem der schluss ist dir, meiner ansicht nach, gut gelungen; ich denke, ohne den letzten satz
Sag ihnen, am Anfang sieht es aus wie trockene Haut.
wäre die geschichte möglicherweise nur halb so gut, aber so... mir gefällts. vor allem die direkte anrede
Aber du weißt es besser. Du kannst sie warnen. Sag ihnen [...]
geben dem text noch eine zusätzliche würzung: erscheint irgendwie wie ein abschiedsbrief, der zugleich eine warnung darstellt. interessant.

nur die kommasetzung könnte von sporadisch zu regelmäßig übergehen :)

liebe grüße

mye
 

mrjingle

Mitglied
Hallo mye!

Erst einmal herzlichen Dank für deinen Beitrag.

Es freut mich, nach langer Schreibpause (daher auch erst einmal ein kurzer Beitrag), dass die erste Kritik so positiv ausfällt.

Was die Kommasetzung angeht...
Ich gestehe*g* Asche auf mein Haupt.
Habe ich schon zu Schulzeiten gehasst.

Ich habe gehofft, durch den Schreibstil mit kurzen Sätzen um dieses leidige Thema herumzukommen;-)
Positiver Nebeneffekt: Die kurzen Sätze vermitteln meiner Meinung nach ganz gut das vorherrschende Gefühl der selbst gewählten Einsamkeit. (Wobei der Gedanke eines Abschiedsbriefes nicht falsch ist)

Der letzte Satz war auch als Klammer gedacht, den Kreis zu schließen.

Zu guter Letzt muss ich gestehen, dass die Grundidee nicht von mir ist.
Eine Kurzgeschichte von Stephen King (Der alte Astronaut dem Augen aus den Fingern wachsen) deren Titel mir leider gerade entfallen ist verläuft ähnlich.
Ich hoffe der Meister des Horrors sieht es mir nach.

Nochmals Danke

mrjingle
 
Keine Geburt

Hallo Mr. jingle,

deine Geschichte kommt athmosphärisch gut rüber. Man kann sich in die Protagonistin hineinversetzen, sieht die Szenen vor dem geistigen Auge ablaufen.

Eine Kleinigkeit jedoch:
Die Frau beschreibt das kurz bevorstehende Schlüpfen des Wesens als Geburt. Wenn ein Parasit voll entwickelt ist und den Gastkörper verlassen will bzw. muss, sprengt er ihn auseinander; er verlässt ihn nicht auf dem natürlichen Geburtskanal. Du schreibst, dass sich das Gesicht verändert, es entstehen Risse in der Gesichtshaut, die mit Make-up verdeckt werden. Danach müsste der Parasit den Körper durch den Kopf verlassen. - Aber das hat mit einem Geburtsvorgang gar nichts zu tun.
Die Sorgen, die sich eine Frau während der Schwangerschaft macht, können nicht mit dem verglichen werden, was deine Protagonistin durchmacht. Hier geht es um keine Geburtsrisiken, hier geht es darum, von einem Parasiten im wahrsten Sinne des Wortes aufgefressen zu werden. Es geht darum, dass der Parasit bald unabhängig ist und im Stande, sehr viel Unheil anzurichten.

M. E. ließe sich das Ganze noch am besten mit einer Made im Speck vergleichen.

Grüße
Marlene
 

mrjingle

Mitglied
Hallo Marlene,

Ehrlich gesagt, ging es mir gar nicht um einen realen Geburtsvorgang.
Meiner Ansicht nach habe ich , vielleicht liege ich da auch falsch, keinerlei Hinweis auf das Geschlecht des Protagonisten gegeben.
"Geburt" ist von mir nur als Wort genommen worden, weil es einmal auf das Heranwachsen bzw. das Beenden des Wuchses eines "neuen" Lebens anspielt.
Zum zweiten auch um die Vermutung des Protagonisten Ausdruck zu verleihen, dass es eine schmerzhafte Prozedur sein kann.

Zu den Rissen (bei denen ich mich frage, ob ich das Wort nicht etwas zu oft benutze, Hinweise oder Vorschläge willkommen):
Mir gefiel der Gedanke, dass sie nur in der Einbildung der Figur vorkommen. Sozusagen als Metapher für einen geistigen Verfall.
Aber wer weiß das schon*g*? Schließlich können wir den Verfasser des Briefes nicht mehr fragen.

Vielen Dank für deine Gedanken zum Text.

mrjingle
 
Alles deutet auf weiblich

Hallo Mr. Jingle,

danke für deine schnelle Antwort.

M. E. deutet alles auf eine Frau hin: Du sprichst von Cremes und Hautmittelchen, von Make-up, trockener Haut usw. Das deutet klar in Richtung Frau. Da Er/Sie nicht mehr das Haus verlässt, müsste er/sie sogar schon älteren Jahrgangs sein. Jüngere müssen zur Schule oder zur Arbeit, es sei denn, sie erledigen ihre Arbeit von zu Hause aus.

Leider schreibst du nichts über die Art und Weise, wie es zu der Zeugung/"Ei"ablage kam. Entstand der Parasit aus dem Nichts? Gab es seltsame Vorfälle? Kontakt mit einem fremden Lebewesen?

Über die Art der Entstehung, im Zusammenhang mit Geburt/Schlüpfen ließen sich doch Schlüsse über die Natur des Parasiten ziehen. Der Prot. könnte in seinem Brief eine entsprechende Warnung geben.

So, mehr fällt mir gerade nicht ein.

Grüße
Marlene
 

mrjingle

Mitglied
Re: Alles deutet auf weiblich

M. E. deutet alles auf eine Frau hin: Du sprichst von Cremes und Hautmittelchen, von Make-up, trockener Haut usw. Das deutet klar in Richtung Frau.

Da muss ich von meiner Warte aus widersprechen.
Make-up und andere Beauty-Produkte sind heutzutage auch für Männer zu haben und werden auch genutzt.
Ich habe schon mehrmals Gruppen jüngerer Leute erlebt (die Männer mit langen Haaren) die sich angeregt über das beste Haarwaschmittel unterhalten haben.

Da Er/Sie nicht mehr das Haus verlässt, müsste er/sie sogar schon älteren Jahrgangs sein. Jüngere müssen zur Schule oder zur Arbeit, es sei denn, sie erledigen ihre Arbeit von zu Hause aus.

Stimmt! Ein Schüler ist es bestimmt nicht. Also kommt alles in Frage nach 18 aufwärts (+ - 2 Jahre).

Leider schreibst du nichts über die Art und Weise, wie es zu der Zeugung/"Ei"ablage kam. Entstand der Parasit aus dem Nichts? Gab es seltsame Vorfälle? Kontakt mit einem fremden Lebewesen?

War Absicht.
Da die Figur den "Brief" selbst geschrieben hat, sollte sich auch alles stark auf sie beziehen. Dementsprechend geht der Text nicht auf die Unwissenheit des Lesers ein.

Ich habe absichtlich jegliche, in meinen Augen auch überflüssige, Informationen weggelassen, die genauer Beschreiben würden. Oder auch dem Leser die Chance nehmen seine eigenen Ängste in die Geschichte hineinzuprojezieren.

Es ist allerdings interessant zu sehen, wie jemand mit einem völlig anderem Sichtwinkel die Geschichte wahrnimmt.

Ich hoffe, wir bekommen noch andere Meinungen zu hören.
Auch Vorschläge hinsichtlich des Titels bin ich offen.

Gruß
mrjingle
 



 
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