nur ein anfang

Zeitenwechsel

„Sie müssen die verwelkten Blüten abknipsen“, sagt der Gärtner. Sein runder Rücken wirft einen schmalen Schatten auf die Margarite. Ich zupfe und biege an dem braunen Blütenkopf herum. Der Gärtner sagt: „Wenn sie die Blüte nicht abknipsen, denkt die Pflanze, sie hätte ihren Samen gesetzt und kann es sich nun gemütlich machen.“ Ich schaue stirnrunzelnd zu ihm auf. „Blumen blühen nämlich, um sich fortzupflanzen, nicht, um uns zu gefallen.“ Sein braunes, plissiertes Gesicht lächelt. Die welke Blüte liegt federleicht in meiner Hand.

Ich bezahle den Margaritenstock an der Kasse. Die Kassiererin trägt ihn mir zum Auto. Ich gebe ihr ein kleines Trinkgeld und starte den Wagen. Im Radio spielen sie „Time goes by“. Im Rückspiegel nicken weiße Köpfchen im Takt. Time goes by.

Jedes Leben setzt sich aus verschiedenen Zeitabschnitten zusammen. In dem meinen gibt es ein paar Jahre der Schwerelosigkeit, des Dahintreibens; die Erinnerungen sind dabei, sich aufzulösen, ihre Bilder verblassen bereits. Ich kann nicht sehen: Wo habe ich gewohnt? Was habe ich gegessen? Wer waren meine Freunde? Wie habe ich mich gekleidet? Es hat sich mir nicht eingeprägt, ich habe es vergessen. Vielleicht war diese Zeit bedeutungslos, vielleicht herrschte Stillstand? Vielleicht war sie voller Leid und Unglück. Man sagt, über die Zeit vergisst der Mensch das Schlechte und verklärt das Gute. Wenn ich sie also verdrängt habe, diese Zeit, muss sie minderwertig gewesen sein, etwas, woran man sich besser nicht erinnert.

Ich weiß noch – nein, ich weiß es nicht mit Bestimmtheit. Hörte ich später davon? Nahm ich es als namenlose Ahnung wahr? Es gab eine Zeit der Liebe. Ruhige Stimmen, innige Zuwendung, Töne, Gesten und Gerüche. Hände trugen behutsam von einem Ort zum nächsten, legten sich kühlend auf die Stirn oder wärmend auf rumorendes Gedärm, streichelten durch glühende Nächte. Schlafen an weichen Brüsten, an Schultern, die heißen Wangen auf kühlende Tischplatten gesunken, an Vaters Jacke rotgescheuert. Die Zeit, die mich empfing – nicht ich empfing die Zeit -, war voller Erwartung an mich, eine Zeit des Gewährenlassen, der zärtlichen Geduld, des Staunens. Ich nahm es hin, hatte genug mit mir selbst zu tun. Das erste Licht, der erste wirklich erlebte Tag, der erste Windhauch, der schon den Sturm erahnen ließ. Unendlich war alles und unfassbar, groß. Der Hund war ein Mammut, die Eltern Giraffen, die Nacht ein dunkles, sanftes Laken, das alle unter sich vereinte. In dieser Riesenzeit lebte ich unbeschwert. Alles war endlos und friedvoll und selbstverständlich. Nichts war unmöglich, es geschah einfach. Die Wunder wurden erst zu Wundern, weil die Erwachsenen dieses oder jenes als ein Wunder bezeichneten. Ebenso verhielt es sich mit der Furcht, mit Gefahren, mit dem Gehorsam und der Liebe. Und es geschah, dass alle Dinge, sobald sie ihren Namen bekamen, einen Wust an Pflicht und Ordnung im Gepäck führten. Man verlieh ihnen einen Beigeschmack und ruinierte ihren Glanz.

Schon bald folgte eine Zeit der Entdeckungen und Verbote. Was es da nicht alles zu erkunden gab: Treppen, Luken, heiße Töpfe, bunte Pillen, Farbeimer, Schuhcreme und technisches Gerät. Alles musste untersucht, bestiegen, gekostet, betastet werden. Doch meistens wurde es vereitelt. Die Hände, die einst so sanft streichelten, griffen energisch zu, trafen schmerzhaft die eigenen oder standen drohend überm Kopf. Die vertrauten Stimmen wandelten sich beständig, schnellten in die Höhe, schnitten sich wie Peitschenhiebe ins Trommelfell, begannen zu flüstern, stürzten tief, wurden dunkel, ungeduldig, bebend, wurden verstehend. Auch der Schlaf veränderte sich. Er erschien unruhig, kürzer, in limitierte Zeit gepresst, mal wurde man ihm entrissen, ein anders Mal bekam man ihn aufgenötigt. Mit der Zeit blieben Mutters Brüste verhüllt und von gekreuzten Armen verschlossen, ihr Bett wurde zu eng für zwei, die Welt begann zu schrumpfen.

Es begann die Zeit der Abenteuer, Heckenhöhlen, Vater-Mutter-Kind-Spiele, des Alphabets, der Wackelzähne.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
liebe katrin,

das ist so gut geschrieben, ich bekomme gar nicht genug. geht die geschichte noch weiter? würde mich freuen. aber auch so ist sie eine perle, die in meine sammlung kommt. ganz lieb grüßt
 
N

niclas van schuir

Gast
Gefällt mir, Sprache und Idee. Bitte mehr.
Liebe Grüße
Niclas
 



 
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