ohne titel (noch!?)

Deminien

Mitglied
Schweigend sitze ich hier, in Gedanken versunken.
Ein Schatten, kreisend, vor mir auf dem Blatt landet.
Schwarze Punkte auf rotem Rücken, emsig krabbelnd.

Dem ersten Frost des Winters ist er mit seinem Vordringen entronnen.
Nun sitzt er hier auf dem Blatt, das keines ist.
Glaubt sich in der Wärme meines Zimmers sicher.
Er irrt.

Ich schau ihm zu, wie er herumläuft, nehme ihn auf den Finger.
Kaum hochgehalten breitet er seine Flügel aus und beginnt seine Suche.
Die Suche nach dem, was er hier nicht finden wird.
Meine gepflegten Blumen werden ihn nicht nähren.
Ungeziefer hat hier keinen Platz.
Und so schaue ich ihm zu, wie er um die Lampe kreist und kreist und kreist.

Kein Mitleid, keine Neugier. Er stört nicht einmal.
Er wird verhungern, verdursten. Vertrocknet in der Ecke liegen.
Niemand wird es bemerken, so gehen meine Gedanken.

Da ist er wieder, landet auf der Wasserflasche. Sie ist verschlossen.
Immer dem Deckelrand folgend läuft er im Kreis.
Als würde er ahnen, daß das lebend Elixier so nah. Nicht wissend, daß es für ihn unerreichbar ist.
Was schert es mich, dieses kleine Leben unter Milliarden, das nicht mehr lang zu existieren hat.
Was kümmert es mich, was mit ihm passiert?

Schließlich nehme ich ihn auf, vorsichtig.
Geöffnetes Fenster und ein Fingerschnipsen.
Hinaus in die kalte Welt, wünsche ich ihm Glück dort.
Mehr Glück als mir vergönnt.

Wieder allein.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

deiner beschreibung nach könnte es ein marienkäfer sein, den man auch glückskäfer nennt. wie wäre es mit dem titel "Glückskäfer?" ? die geschichte gefällt mir sehr gut. ohne überflüssige schnörkel und treffend erzählt. ganz lieb grüßt
 
T

Tenshi

Gast
Überschrift?

Hallo Deminien!

Es ist ziemlich eindeutig ein Marien- oder auch Glückkäfer, wie ich meine. Aber liegt nicht auch eine Herausforderung des Textes darin, das selbst herauszufinden und nicht von Anfang an vor die Nase gesetzt zu bekommen?
Wie wär es denn mit dem Titel 'Begegnung' oder 'Berührung'. Dem ersten Titel (schlichte Variante) würde die Tatsache zusprechen, dass hier eine Begegnung zwischen Mensch und Käfer gezeigt wird. Für den zweiten Titel würde eine gewisse Zweideutigkeit sprechen: Zum Einen die tatsächliche Berührung der beiden Protagonisten, zum Anderen die emotionale Berührung des Menschen, wenn er denn Gefühle (positive oder negative, die Bewertung liegt nicht bei mir) zeigt bzw. würden diese Gefühle (wenn denn überhaupt vorhanden) zumindest durch die Überschrift impliziert.
Aber ist eine Überschrift denn wirklich von so großer Bedeutung? Ist ein literarischer Text erst durch eine solche ein komplettes Werk?
Viel wichtiger ist doch, wie der Text wirkt. Und das tut er. Er zeigt Wirkung durch seine Art des Erzählens und durch die Handlung, die spärlich, aber voller Bedeutung ist.

Lieben Gruß zur Nacht
Tenshi
 

Deminien

Mitglied
Hallo flammarion,

Du hast richtig erkannt, daß es sich um einen Marienkäfer handelt. Ursprünglich hatte ich dies während der Entstehungsphase auch als Titel. Doch er gefiel mir nicht. Vor Veröffentlichung bekam ich von anderer Seite Resonanz, die den Titel ebenfalls als unpassend bezeichnete (dazu unten mehr).


Hallo Tenshi,

es ist nicht schwer, zu erraten, um welches Insekt es sich handelt. Da es aber im Text nicht wirklich um ihn, sondern eher um den, der die Geschichte erzählt geht, fände ich "Marienkäfer" als zu vordergründig und sogar irreführend. "Berührung" kommt dem Inhalt da schon wesentlich näher. Ist aber nicht ganz das richtige (just imho).
Wie Du siehst ist der Titel für diesen kurzen Text schon wichtig. Bei längeren Geschichten ist der Titel nicht ganz so entscheident, da die Erzählung ausreichend Möglichkeit bietet, deutlich zu machen was ausgesagt werden soll.


"Einsames Käferglück" ist bisher das beste was mir eingefallen ist.


Vielen Dank für Eure Hilfe.


Deminien
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

deshalb habe ich ja auch das fragezeichen hinter glückskäfer gesetzt. damit der leser sieht, es ist nicht der käfer allein gemeint. ganz lieb grüßt
 
L

loona

Gast
Hallo Deminien :)

Eine sehr schön gezeichnete Atmosphäre. Dicht, bildreich, wohlformuliert (bis auf "lebend Elixier" - was ist das? Wasser, das atmet und Photosynthese betreibt? ;-) )

Erst im Nachhinein fallen die möglichen Um-Interpretationen des Käfers als Sinnbild für die Zustände und Vergangenheiten des lyrischen Ichs auf (ich hatte mich schon gefragt, weshalb der Käfer unbedingt erst einmal um die Lampe kreist und kreist und an der Flasche dann schon wieder...)

So richtig gelungen finde ich das Ende. Würde der letzte Satz fehlen, wär es einfach nur pathetisch. So wird's auf einmal knochentrocken. Fröstelnd. Leer.

Allein.

Und das war es ja, was Du transportieren wolltest. Oder?

Mit Gruß

loona
 

Deminien

Mitglied
Hallo loona,


ich versichere Dir, daß das Wasser (von mikroorganismen abgesehen) ganz unlebendig war ;-)

Danke für das Lob.

Deine Frage beantworte ich schlicht mit Ja. Ein wenig verlegen möchte ich auch zugeben, daß die Schilderung nicht erfunden ist.


Deminien
 



 
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