sich auf Neues einlassen

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Brunn

Mitglied
DER SCHÜTZE

Peter war pleite und nach dem gerade beendeten Gespräch würde sich daran demnächst nichts ändern. Gleichmütig verließ er das Arbeitsamt und versuchte den Blickkontakt mit zwei am Eingang herumlungernden Typen zu vermeiden. Aus dem Augenwinkel sah er sie übertrieben grinsen und mit billig kopierten Flyern herumwedeln. Peter war vollkommen klar, warum sie ihre Jobs außerhalb der Behörde anboten. Meist handelte es sich um kostenpflichtige Schulungen, in denen man lernte, den Leuten sinnlose Strom- und Versicherungsverträge aufzuschwatzen. „Schönen guten Tag, schauen Sie sich bitte mal unser Angebot an.“ Fast eine Aufforderung, nicht schlecht; sie knüpften direkt an den Ton im Arbeitsamt an. Peter schüttelte den Kopf und beschleunigte seinen Gang, musterte im Vorbeigehen die beiden Typen. Mit schwarzen Anzügen und modischen Vertreterkrawatten unter übergroßen Mänteln versuchten sie krampfhaft seriös zu wirken; ihre Lackschuhe standen halb auf dem knirschenden Streukies und halb im verdreckten, fast weggetauten Restschnee. Kaum hatte Peter die Zettelwinker hinter sich gelassen, wurde er plötzlich von der Seite von einem großen älteren Mann angesprochen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Peter war so verblüff, dass er spontan stehen blieb. Junge Leute ließ Peter gerade noch durchgehen, die brauchen immer ein paar Euro und müssen lernen, was es heißt, Geld zu verdienen. Alte Menschen in diesen Hilfsjobs zu sehen, machte ihn dagegen traurig. Allerdings wirkte dieser Mann nicht besonders hilfsbedürftig. Er trug einen eleganten kapuzenlosen Regenmantel mit Lederkragen, hatte seitlich über den Kopf gekämmte weißgraue Haare, dichte graue Augenbrauen und sehr gleichmäßige weiße Zähne. Falls sich noch jemand an Dr. Best erinnert, dann hat er ein recht genaues Bild des Mannes. Seine Worte waren sorgfältig gewählt, kurz und präzise legte er sein unmissverständliches Angebot dar. Er arbeite im Auftrag einer Organisation, die sterbenskranken Menschen hilft, würdevoll aus dem Leben zu scheiden. Es handele sich um Menschen, die sich gegen lebensverlängernde Maßnahmen entschieden haben, deren Tod unausweichlich sei und die daher zwangsläufig mit dem Leben abgeschlossen haben. Es blieben ihnen nur Schmerzmittel; der komplette Verlust von körperlicher und geistiger Kraft stehe unmittelbar bevor. Die Fahrt in ein Sterbehospiz in der Schweiz sei ihnen zu aufwendig; die ausführliche und langwierige Todesvollstreckung mache ihnen Angst. Selbstauslöschung komme für sie aus unterschiedlichen Gründen nicht infrage; sie wollen kurz und schmerzlos aus dem Leben scheiden. Irgendjemand muss das nun erledigen. Daher spreche er Menschen an, die er nicht kenne, die ihn nicht kennen, die die Kunden nicht kennen, die also vollkommen anonym diesen Job gegen Bezahlung erledigen könnten. Er empfahl Peter, sich das Angebot zu überlegen, eine Nacht darüber zu schlafen, gründlich die moralischen und finanziellen Aspekte abzuwägen und im Falle einer Zustimmung ihn morgen gegen zehn Uhr an derselben Stelle zu treffen. Der Mann trug seine Sätze so selbstverständlich und emotionslos vor wie ein Notar ein gerade geöffnetes Testament. Als Zeichen, dass das Gespräch beendet war, nickte er kurz und freundlich. Peter hatte sich den Vortrag vollkommen reaktionslos angehört nur bei der Passage mit dem Sterbehospiz war ihm ein verständnisvolles Brummen entwichen, ein Brummen wie er es gerade vor zehn Minuten von sich gegeben hatte, als seine Sachbearbeiterin ihn über seine Pflichten belehrt hatte. Trotz dieser kleinen Parallele fühlte er sich dem älteren Mann gegenüber weniger ausgeliefert als der Dame im Amt. Peter schaute dem Doktor in die Augen, nickte ebenfalls und setzte seinen Weg in Richtung Bushaltestelle fort. Nach wenigen Schritten drehte er sich um, aber Dr. Best schaute ihm nicht nach, ebenso wenig sprach er weitere Kandidaten an. Er schlenderte langsam auf der Mitte des Fußweges in der entgegengesetzten Richtung davon und sah aus wie ein Rentner, dessen Hund irgendwo in der Näher herumtobte. Die Bushaltestelle lag schräg gegenüber vom Arbeitsamt auf der anderen Seite einer lauten sechsspurigen Straße. Normalerweise wäre Peter brav bis zu nächsten Ampel vorgegangen und dann auf der Gegenseite den Weg zur Haltestelle zurückgewandert. Doch plötzlich hatte er keine Lust dazu. Vielleicht gab ihm das seltsame Gespräch oder vielmehr der Vortrag des Mannes einen kleinen waghalsigen Kick, jedenfalls überquerte er todesmutig und ohne übertriebene Eile den Highway-to-hell auf direktem Weg.
Während er auf den Bus wartete, wunderte er sich, wie wenig skandalös ihm das Angebot vorkam. Natürlich zog er es nicht in Betracht. Er tötete weder Fliegen noch Mäuse und niemals würde er sich anmaßen, das Leben eines Menschen zu beenden. Im weitesten Sinne sah er sich als Pazifist.
Der Bus war fast leer, Peter konnte sich ganz nach hinten setzen und den Innenraum überblicken, wie er es als Kind immer gern getan hatte. Noch einmal schaute er aus dem winterverdreckten Fenster in Richtung Amt, aber der Blick war durch die Silhouette einer liegenden nackten Frau auf dem Werbebanner des Busses der Gegenrichtung verdeckt. Über dem Slogan eines Flatrate-Bordells drückten sich Schulkinder an die Scheiben und glotzten zu ihm herüber. Wer weiß, was auf seinem Bus geschrieben stand. Als die Puff-Kampagne aus dem Bild rollte, war Doktor Best nicht mehr zu sehen, an der Stelle wurde bereits ein anders Stück aufgeführt: Ein junges türkischen Paar stand sich gegenüber. Sie klammerte sich mit gesenktem Kopf an ihre weiße Kunstlederhandtasche und schluchzte herzerweichend, während er gestenreich auf sie einredete. Die Türen rumsten zu, der Bus fuhr ab und Peter sah gerade noch, wie sich die beiden an die Hand nahmen und eilig auf das graue Amtsgebäude zugingen, als hätte man ihre Wartenummer gerade aufgerufen. Nachdem sie außer Sicht waren, wanderte sein Blick zu den Hinterköpfen der wenigen Fahrgäste. Wieviel musste man wohl hinlegen für so einen Gnadenschuss? Der Bus beschleunigte und schaffte mehrere Kreuzungen in einer grünen Welle. Peter rutschte etwas dichter an die Scheibe heran, damit er im Falle einer Vollbremsung nicht durch den Mittelgang geschleudert werden würde. Während er so durchgeschüttelt wurde, fragte Peter sich, warum er eigentlich von einem Schuss ausging. Vielleicht würde er ja auch eine Portion Gift bekommen und hätte die Aufgabe, es dem Kunden unauffällig in seinen Kaffee zu kippen, sagen wir bei Mc Donalds. Der Bus stoppte vor einer Schule und wurde von schätzungsweise hundert Schulklassen geflutet. Nach sechs- oder siebenstündigem hochintensivem Lernen ließen sie ihren Stimmen nun freien Lauf. Peter freute sich für die Kids, konnte allerdings nicht weiter über seinen Fall nachdenken.

Zuhause machte er sich einen Kaffee und setzte sich zum Grübeln an den Küchentisch, doch schon bald war ihm der zähe Gedankenfluss zuwider. Er wechselte ins Wohnzimmer und versuchte es mit dem Fernseher. Das Mittagsprogramm war vollkommen auf Arbeitslose wie ihn zugeschnitten. Erfolglos versuchte sich Peter in Claudia hineinzuversetzen, die in der Berufsschule immer wegen ihrer großen Brüste geärgert wurde. Sie hatte sich angewöhnt, sich hinzusetzen, die Brüste mit beiden Händen zu packen und auf die Tischplatte zu legen. Darüber lachten dann alle. Peter nippte an seinem Kaffee. Seine Tasse hatte einen Rand auf dem Couchtisch hinterlassen, den er erst mit einem Finger verwischte und schließlich mit einem Papiertaschentuch wegpolierte. Wahrscheinlich würde man Gift im Kaffee herausschmecken. Außerdem gab es überall Videoüberwachungen, da würde man den Mord und den Mörder erkennen. Mord. Das Wort wirkte brutal und beängstigend. Claudia demonstrierte gerade wie sie ihr Brüste auf den Tisch legte und Peter schaltete den Fernseher aus. Er schüttelte sich heftig, als wolle er diese ganzen verrückten Gedanken loswerden.
Am Abend setze er sich erneut vor die Glotze, konnte sich aber nicht auf das Programm konzentrieren. Er trank zwei alkoholfreie Biere und ging ins Bett. Wie würde er sich denn verhalten, wenn sein Tod unausweichlich und qualvoll bevorstände? Oder wenn er sich mit HIV infiziert hätte und es keiner wissen sollte? Am besten wäre wohl ein Motorradunfall. Selbstverständlich dürften keine anderen Personen zu Schaden kommen. Mit etwas Pech, denn ganz so entschlossen ist man ja dann wahrscheinlich doch nicht, reißt man den Lenker in letzter Sekunde herum und landet zermatscht aber lebendig im Krankenhaus. Wenn er es sich recht überlegte, war ein unerwarteter Kopfschuss aus einiger Entfernung gar keine schlechte Lösung. Je mehr er darüber nachdachte, desto schlüssiger erschien ihm ein präzises Gewehr mit Zielfernrohr als Tatwaffe. Er sah sich schon wie Leon der Profi auf einem Hochhausdach liegen und auf lebensmüde Jogger im Centralpark schießen. Vielleicht hätte er ja auch einen Lehrling vom Format der jungen Natalie Portman dabei. In Erwartung unruhiger Träume schloss er die Augen.

Peter erschien pünktlich um zehn Uhr vor dem Arbeitsamt. Wenn er den Job annähme, wozu er keinesfalls entschlossen war, dann wollte er von Anfang an als zuverlässig gelten. Dr. Best trug denselben dunklen Regenmantel wie am Vortag und begrüßte Peter freundlich. Sie entfernten sich vom Eingang der Behörde und gingen auf den Parkplatz eines lange nicht sanierten Plattenbaugebietes zu. Peter hatte sich ein wenig Agentenfilm-Feeling erhofft, aber der regengraue Tag und die trostlose Wohnarchitektur ließen keine vergleichbare Stimmung aufkommen. Der Ablaufplan, den der Mann schilderte, entsprach recht genau Peters Vorstellungen. Er erhielt ein Prepaid-Handy, indem eine einzige Nummer eines anderen Prepaid-Handys gespeichert war, die einzige Kontaktmöglichkeit zwischen ihm und Best. Sollte Peter anrufen wollen, solle er sich mit „Schütze“ melden. Dann gingen sie zu einem blauen Ford Focus mit Hamburger Kennzeichen, in dessen aufgeräumtem, sorgfältig gesaugten Kofferraum zwei ineinandergesteckte Aldi-Tüten standen. In den Tüten befanden sich in Knallfolie gewickelte Einzelteile eines Jagdgewehres und eine kleine Schachtel mit Munition. Irgendetwas störte Peter an den Tüten, er konnte aber nicht sagen, was es war. Dr. Best begann mit der Einweisung. Der Kunde wünsche sich den Tod innerhalb eines bestimmten Zeitfensters. Er wolle nicht genau wissen, wann es geschieht, aber sicher gehen, am Ende der Woche nicht mehr zu leben. In einem Umschlag aus braunem Umweltpapier befand sich ein Foto. Außerdem waren mit dem Kunden tägliche Spaziergänge zur Mittagszeit im nördlichen Stadtforstgebiet ausgemacht worden. Die Anzahlung betrug fünftausend Euro, nach ausgeführtem Auftrag gäbe es noch einmal dieselbe Summe. Ohne jede Drohgebärde hielt der Doktor Peter ein Foto unter die Nase, welches ihn vor dem Arbeitsamt zeigte und offensichtlich gestern mit einem Teleobjektiv geschossen wurde. Mit etwas in dieser Art hatte Peter gerechnet, irgendwie mussten die sich ja absichern. Er nickte verständnisvoll und nun stellte sich doch noch ein kleines Agentenfilm-Feeling ein, wenn auch ein beängstigendes. Darüber hinaus, das betonte der Doktor, hätten sie keine Informationen über Peter gesammelt. Sie kannten weder seinen Namen noch seine Adresse und wollten es auch nicht wissen. Peter fragte nach den Auswahlkriterien, denn wie er beobachtet hatte, war er die einzige Person gewesen, die recht gezielt angesprochen worden war. Der Dentist berichtete knapp von seinem Aufgabenbereich, demzufolge er auch nur ein Mittelsmann war, der eben genau für diese Fähigkeit geschätzt wurde, nämlich die richtigen Menschen für den richtigen Job auszusuchen. Peter schien im geeignet, da er ihn für einen Mann hielt, der gerade einen beruflichen Tiefpunkt erlebe, aber nicht entmutigt aussehe, der körperlich und mental in der Lage sei, einen ungewöhnlichen Auftrag auszuführen und der vor allem zuverlässig wirke. Außerdem mache er insgesamt einen sehr durchschnittlichen Eindruck mit einem Gesicht ohne besondere Merkmale; ein Kompliment, das Peter schon oft gehört hatte. Falls er aus irgendeinem Grund nicht in der Lage sein sollte den Auftrag auszuführen, solle er bitte anrufen und Freitagabend um zweiundzwanzig Uhr hier erscheinen. Es sei daher ratsam, die Anzahlung bis dahin nicht auszugeben.
Als Peter im Bus saß, wieder ganz hinten, fühlte er sich zwar etwas mulmig, auch zitterten tatsächlich seine Knie, aber alles in allem schien ihm der ganze Deal sehr vernünftig und fair zu sein. Aus Angst, sie im Bus stehen zu lassen, umklammerte er fest die Tragegriffe der Aldi-Tüten. Plötzlich wusste er, was ihn gestört hatte: Der Wagen hatte ein Hamburger Kennzeichen, Dr. Best sprach Leute in Berlin an und die Tüten waren von Aldi-Süd. Außerdem standen sie im Kofferraum als hätte man sie gerade erst eingeladen. Hamburger Kennzeichen bedeutete nichts, höchstwahrscheinlich ein Mietwagen. Aber Aldi-Süd? War die Organisation etwa aus Süddeutschland oder war es nur eine Ablenkung? Peter schaute aus dem Fenster und schüttelte wie in einem Selbstgespräch unmerklich den Kopf. Diese Überlegungen führten zu nichts.
Zuhause verschloss er entgegen seiner Gewohnheit die Wohnungstür, versteckte das Geld - ohne es nachzuzählen - in einer Schreibtischschublade und breitete den Inhalt der Tüten auf dem zuvor gesäuberten Küchentisch aus. Er wickelte die Waffenteile vorsichtig aus und ordnete sie nebeneinander an. Ganz unten in der Tüte fand er eine Gebrauchsanweisung, ein fusselfreies Leinentuch und als Gratiszugabe ein kleines Fläschchen Waffenöl. Das Gewehr ließ sich problemlos zusammensetzen, das Gewicht war angenehm und es lag gut in der Hand. Zum Justieren des Zielfernrohres hielt sich Peter genau an die Anweisung. Bei der Armee hatte er den Umgang mit einer Maschinenpistole gelernt; er war in der Lage sie zu zerlegen, zu reinigen und kannte sich mit den grundlegenden Funktionen aus. Er konnte sie sichern und entsichern; er wusste, worauf es beim Schießen ankam. Bei Schießübungen hatte er sowohl beim Einzel- als auch beim Dauerfeuer stets eine ruhige Hand bewiesen. Nach wie vor irritierten ihn die Aldi-Süd-Taschen. Ein ehemaliger Arbeitskollege aus München hatte immer die Nase über Aldi-Nord gerümpft und betont, wie viel besser Aldi-Süd sei. Peter konnte dazu nichts sagen. Er prüfte die Festigkeit der Tragetaschen. Da es zwei übereinander gestülpte Taschen waren, konnte nichts passieren. Außerdem wurden Aldi-Tüten gerne von Pennern verwendet und die mussten es ja wissen.
In der Nacht erwachte Peter schweißgebadet. Er war sich jetzt sicher, den Mann niemals erschießen zu können. Ihm wurde schwindelig bei der Vorstellung, mit dem zerlegten Gewehr in der Tasche in den Wald zu fahren, sich ein Versteck zu suchen und mit dem Foto in der Hand - welches er sich absichtlich noch nicht angesehen hatte - auf sein Opfer zu warten, das Gewehr anzulegen und ihm ein Stück Metall in den Schädel zu jagen. Peter schaffte es gerade noch bis ins Bad, wo ihm ein heftiger Krampf den Darm ausquetschte. Währenddessen fiel ihm auf, dass er keinen Schalldämpfer bekommen hatte. Andererseits gab es richtige Dämpfer ohnehin nicht. Das kurze dumpfe, gummiartige Geräusch ist eine reine Filmerfindung. In Wirklichkeit reduziert der Dämpfer den Austrittsschall um einige Dezibel, um bei Einsätzen in Innenräumen das Gehör des Schützen zu schonen. Laut ist es trotzdem. Zumindest hatte es ihr Ausbilder beim Militär so dargestellt. Wieder in der Küche betrachtete Peter die Waffe. Sie bereitete ganz grundsätzliche Probleme: Der nördliche Stadtforst gilt als Freizeit- und Erholungsgebiet, wie soll da ein Mann mit einem Gewehr, sowohl vor, als auch nach der Tat unbemerkt bleiben. Er könnte es erst kurz vor dem Schuss montieren und müsste es anschließend sofort wieder zerlegen. Am liebsten hätte Peter Geld und Gewehr direkt zurückgebracht. Der Gedanke, bis Freitag warten zu müssen, war ihm unerträglich. Entmutigt und zusammengesunken hockte er auf seinem Küchenstuhl und betrachtete das Schlamassel auf seinem Tisch.

Der nördliche Stadtforst war ein langgezogenes, aber nicht sehr breites Waldgebiet unter der ehemaligen Einflugschneise des stillgelegten Flughafens. Im Dickicht hielt sich vereinzelt der Winter, Wege und Wiesen leuchteten in der fernen Märzsonne. Am Morgen hatte Peter sein altes Fahrrad entstaubt und genoss nun die frische Luft, die in der Stadt noch keine Anzeichen von Frühling enthielt, aber hier auf dem holprigen Waldweg wunderbar nach fauligem Holz und Moos duftete. Unter dem Gezwitscher von Amseln und Meisen kämpften sich einige Jogger durch den späten Vormittag. Peter fiel auf, dass sie fast alle in dieselbe Richtung liefen. Auch wenn er manchmal minutenlang ganz allein vor sich hin radelte, blieb der Waldweg unübersichtlich. Es waren zu viele Kurven, hinter denen jederzeit ein neuer Jogger auftauchen konnte. Selbst wenn er seinen Klienten (nach einigen Überlegungen hatte Peter den Begriff Klient für angemessen befunden) unbeobachtet erlegen könnte, bliebe ihm sehr wenig Zeit für den Rückzug. Er müsste sich ja auf eine bestimmte Stelle festlegen, dort das Gewehr herausholen, zusammenbauen, prüfen und warten. Er stellte es sich ungefähr so vor: Weg frei, Schuss/lauter Knall, Klient fällt zu Boden, sein eigener schneller Atem beim Rennen, dann ein markerschütternder Frauenschrei. Sollte der Klient allerdings nicht allein auf dem Weg sein, wäre die Chance für diesen Tag vertan. Er konnte ja schlecht, wie ein Kind beim Indianerspielen, mit dem Gewehr in der Hand ein Stück weiter durch das Dickicht rennen und es erneut versuchen. Peter hatte sich noch immer nicht das Foto angeschaut. Er betrachtete die Männer, die alleine spazieren gingen und überlegte, ob einer von ihnen der Todeskandidat sein könnte. Einige ältere Herren schienen ihm geeignet, obwohl keiner von ihnen besonders lebensmüde wirkte. Beim Verlassen des Waldes fiel sein Blick auf einen alten Wach- oder Wetterturm, der in einiger Entfernung vom Waldrand wie ein verwitterter Monolith auf einer dicht bewachsenen, verwilderten Wiese stand. Ein einziger dünner Trampelpfad war wie eine Zündschnur vom Waldrand zum Turm gelegt. Obwohl der Maschendrahtzaun vor Jahren entfernt worden war, zeichnete sich der Beginn des aufgegebenen Flughafengeländes durch niedrigeren Pflanzenwuchs deutlich ab. Ähnlich wie auf dem ehemaligen Todesstreifen der innerdeutschen Grenze wirkten auch hier die Pestizide im Boden noch Jahre nach. Dem Turm waren Fenster und Tür unsanft entrissen wurden, der Beton an den Öffnungen zeigte Spuren von Spitzhacken und schweren Hämmern. Aus der Türöffnung kam Peter der Geruch von kaltem Mauerwerk entgegen, im Inneren stank es vorrangig nach Pisse und verbranntem Plastik. Sowohl innen, als auch außen war jeder Zentimeter entweder mit Graffiti, meist aber wahllos mit Farbe beschmiert. Die Treppe war offensichtlich beim Stilllegen des Turms professionell entfernt worden, dennoch konnte man mit Hilfe eines rostigen Waschmaschinenkadavers und einiger verkohlter Balken in den oberen Raum gelangen. Dieser zeigte die gleichen Spuren jugendlicher Kraftverschwendung und gedankenloser Farbverteilung wie das Erdgeschoss, nur die Luft war aufgrund der rundherum fehlenden Fenster viel besser. Glassplitter knirschten unter Peters Schuhen. Das war natürlich ein idealer Schießstand, der Waldrand lag gerade in der richtigen Entfernung, um einen Schuss sicher platzieren zu können und das Gelände war nach allen Seiten sehr gut zu überschauen. Andererseits konnte er selbst genauso von allen Seiten gesehen werden und der Weg zurück führte zwangsläufig über freies Gelände. Und würde eine Gruppe Jugendlicher auf den Turm zukommen, hätte er kaum eine Chance, ungesehen zu verschwinden. Möglicherweise würden sie ihn sogar in die Mangel nehmen und sich für den Inhalt seiner Taschen interessieren. Peter hielt sich ungefähr zehn Minuten auf dem Turm auf und beobachtete die Bewegungen in der Umgebung. Heute wäre es gut gegangen. Lediglich zwei Jogger trabten aus dem Wald heraus, hielten sich auf dem Weg an der Waldkante und verschwanden nach etwa zweihundert Metern wieder zwischen den Bäumen. In der entgegenliegenden Richtung tauchte ein Radfahrer auf, der irgendetwas zu suchen schien, dann plötzlich wendete und denselben Weg zurückfuhr. Peter vermied es, zu dicht an die Fensteröffnungen heranzutreten oder sie zu berühren. Er überlegte, wo er schon seine Fingerabdrücke und Fußspuren hinterlassen hatte. Selbst wenn er beim nächsten Mal geschützt wäre, könnten geschickte Kriminaltechniker seinen heutigen Besuch sicher nachweisen. Aber mit dem Problem würde er sich später beschäftigen. Sein Blick scannte immer wieder den Waldrand und die wie Adern daraus hervortretenden Wege. Wie würde sich der Klient wohl bei einem Fehlschuss verhalten? Wahrscheinlich wüsste er beim Knall sofort Bescheid, würde sich aber wundern, warum er nichts spürt und nicht umkippt. Wenn ihm dann klar wird, dass der Killer versagt hat, wird er sich ärgern oder sogar wütend werden. Schließlich hat man ihm einen Profi versprochen. Vielleicht ist er auch total verängstigt, beginnt zu rufen und zu winseln, legt sich auf den Boden oder er hält sich schützend die Arme über den Kopf und springt sofort in den Wald. Hätte Peters Phantasie nicht schon eine ausführliche Wunschliste für die Verwendung der zehntausend Euro angefertigt, er hätte die ganze Sache spätestens an diesem Punkt abgebrochen. Er fühlte sich lust- und mutlos, schließlich kletterte er wieder nach unten. Wie eine Spielzeugfigur mit schwachen Batterien bewegte er sich in der vorgegebenen Furche des Trampelpfades vom Turm weg. Mitten auf freiem Feld, noch gut zwanzig Meter vom Waldrand entfernt, stieß er fast mit zwei Mädchen zusammen, die plötzlich vor ihm standen. Sie hielten kleine bläuliche Blumen in den Händen, offensichtlich waren sie gerade aus der Hocke aufgestanden. Mit großen Augen schauten sie Peter fragend an. Für einen Moment bewegte sich keiner von ihnen. Um es nicht noch schlimmer oder vielmehr verdächtiger zu machen, presste Peter, so cool es ihm möglich war, ein heiseres Hallo hervor und schob sich an den beiden vorbei. Er spürte förmlich ihre Blicke in seinem Rücken. Zum Glück konnten sie den starken Schweißausbruch nicht sehen, der Peter überkam und den er unter Kontrolle zu bekommen versuchte, indem er ruhig atmete und sich ein Bild von den Mädchen ins Gedächtnis rief. Was hatte er in dem kurzen Augenblick von ihnen erfasst und was konnten sie von ihm aufgenommen haben? Sie waren ungefähr gleich groß und mussten zwischen zehn und vierzehn Jahre alt sein, so genau kannte er sich damit nicht aus. Die Eine hatte einen Pferdeschwanz, der unter einer Mütze hervorschaute. Die Farbe der Mütze wusste er nicht mehr, ebenso wenig konnte er irgendeines ihrer Kleidungsstücke beschreiben. Der Riemen einer Schulmappe irrte durch seinen Erinnerungsversuch. Vielleicht hatte er sich die Schulmappen aber auch nur eingebildet, weil sie seiner Meinung nach aus der Schule kommen mussten. Aber um diese Zeit? Vielleicht eine Freistunde. Er musste also mit allem rechnen. Auf dem Rückweg erschien ihm der Turm völlig ungeeignet, die Waldwege aber auch. Als er wieder in Sichtweise der ersten Häuser kam und nach einer Bushaltestelle Ausschau hielt, fiel ihm sein Fahrrad ein, welches er am Waldrand abgestellt hatte, um auf den Turm zuzugehen. Die Mädchen hatten ihn völlig durcheinandergebracht. Verärgert ging er den Weg zurück. Das Fahrrad kam ihm vor wie ein altes Pferd, welches vollkommen emotionslos dort stand, wo er es zurückgelassen hatte und obwohl er es nicht einmal angebunden hatte, war es keinen Zentimeter von der Stelle gewichen. Eigentlich eine sehr sichere Gegend. Er lachte über seinen eigenen Witz. Im Schutze des Waldes schaute Peter erneut zum Turm hinüber. Von den Mädchen fehlte jede Spur; vielleicht saßen sie unten auf der alten Waschmaschine und rauchten. Oder sie standen, genau wie er noch vor einer halben Stunde, in der Mitte des oberen Raums und beobachteten ihn und sein Pferd. Peter stellte sie sich bei einem Polizeiverhör vor, wie sie eine exakte Beschreibung von ihm abgaben.

Am Abend fand er keine Ruhe, die Gedanken fegten kreuz und quer durch seinen Kopf und weigerten sich zu landen. Um sich auf einen konkreten Punkt zu konzentrieren, holte Peter das Foto hervor. Möglicherweise hatte er den Klienten heute ja schon gesehen. Es handelte sich um das Porträt eines ca. sechzigjährigen Mannes, welches ebenso wie Peters Foto aus größerer Entfernung mit einem Teleobjektiv aufgenommen war. Der Mann schaute mit etwas gequältem Blick leicht an der Kamera vorbei. Die Ursache für seinen Gesichtsausdruck war schwer zu bestimmen, möglicherweise pfiff ihm nur der Wind ins Gesicht. Peter war sich sicher, dass dieser Mann heute weder unter den Joggern, noch unter den älteren Spaziergängern gewesen war. Aber er kannte ihn. Es war keine Person aus seinem unmittelbaren Umfeld, kein ehemaliger Arbeitskollege; Peter konnte ihn nicht direkt zuordnen. Er war wie ein Schauspieler, dessen Namen einem nicht geläufig war, den man aber schon in mehreren Filmen gesehen hat, deren Titel man ebenfalls nicht mehr wusste. Peter holte das Geld hervor und stapelte es neben dem Foto auf den Küchentisch. Ein bescheidener Haufen aus Fünfzigeuroscheinen. Zum Glück kein Scheck. So ein einzelner Zettel hätte ihn deprimiert. Sein Blick wechselte in schneller Folge zwischen Bild und Geld, als könnte er dadurch irgendetwas herausfinden. Schließlich ließ er beides auf dem Küchentisch liegen und setzte sich in der Hoffnung auf einen erhellenden Gedanken auf die Toilette. Einer wissenschaftlichen Theorie zufolge hat man dort oft gute Einfälle, weil man mit dem Schließen der Klotür die ganze Welt für eine Weile ausblendet, mit sich selbst ganz allein ist und die relative Gewissheit hat, nicht gestört zu werden. Der Körper entleert sich praktisch von selbst und plötzlich materialisiert sich im Gehirn eine Lösung für ein Problem, an das man gerade eben nicht gedacht hat. Alles, was das Denkorgan für den Geistesblitz brauchte, war ein Moment der Ruhe und Befreiung von dem üblichen Verkehr im Kopf. Bei Peter funktionierte das selbst dann, wenn sein Kopf nicht gerade überlastet war, sondern mehr einer verkehrsberuhigten Zone glich. Während er so auf der Keramik hockte, versuchte Peter die Perspektive seiner Auftraggeber einzunehmen. Was wäre nötig, um einen völlig anonymen Killer zu finden, wie würde er vorgehen, einen mutmaßlich nichtkriminellen Normalbürger fast beiläufig dazu zu bringen, eine so ungeheuerliche Tat wie einen Mord zu begehen? Zunächst müsste man eine moralische Legitimation finden. Man könnte das Töten eines einzelnen Menschen in Beziehung setzen zu den vielen Menschen, die täglich unschuldig sterben, könnte die Größe des Universums und das Alter der Erde mit der kurzen, bedeutungslosen Existenz des Menschen vergleichen. Oder man könnte einfach behaupten, man tue dem Menschen einen Gefallen, es sei sein freier Wille, weil er an einer unheilbaren und ganz und gar furchtbaren Krankheit leide. Peter betätigte die Spülung und ließ Badewasser einlaufen. Er brauchte einen erneuten Wechsel der Perspektive. Das Wasser bedeckte gerademal den Wannengrund, aber Peter wollte nicht länger warten. Er suchte in der alten Kommode nach Badezusatz und fand eine vor einigen Jahren angefangen Flasche mit Melisse-Entspannungsbad von einer Drogeriekette. Ein bis zwei Verschlusskappen wurden empfohlen, das war ihm heute zu wenig. Er kippte drei randvolle Kappen ins Wasser, spülte sie dann unter dem Wasserstrahl aus, setzte sich in die grüne Pfütze und grübelte weiter. Niemand konnte ihm die Story bestätigen, die Dr. Best ihm vor dem Arbeitsamt aufgetischt hatte. Viel wahrscheinlicher war es, dass diese Mafiatypen jemanden aus dem Weg räumen lassen wollen und die Krankheitsgeschichte nur zur Überzeugung des Killers diente. Vielleicht hat auch jemand viel mehr Geld für die Beseitigung des Mannes geboten. Damit könnten sie sich eine ganze Reihe von Killern leisten. Peter bringt den Klienten um und ein weiterer Killer legt Peter um, damit der Auftrag nicht zurückzuverfolgen ist. Vielleicht wissen sie doch mehr über ihn, als sie zugeben. Am Ende muss er das Geld wieder rausrücken und wird noch erpresst. Er muss dann einen Mord nach dem anderen ausführen und ist vollkommen in den Händen der Mafia. Ob es wirklich so einfach war, wieder auszusteigen, wie Best behauptet hatte? Anruf genügte? Peters Gedanken flossen schneller als das Badewasser, lediglich Füße und Hintern waren bedeckt. Immerhin hatte sich ein imposanter Schaumberg gebildet. Woher kannte er den Typen nur? Als die Wanne endlich voll war, regelte er noch ein wenig an der Wassertemperatur herum, in dem er abwechselnd das heiße und kalte Wasser laufen ließ und genoss dann das Knistern der Schaumbläschen in der Stille. Das Melissen-Imitat wirkte, Peter wurde müde und kurz bevor er einzuschlafen drohte, hatte er die Lösung. Er würde den Auftrag nicht zurückgeben, sondern er würde den Klienten zur Rede stellen. Er würde ihn treffen, um aus seinem Munde zu hören, ob er sich wirklich umbringen lassen wollte. Danach könnte er ihn entweder ruhigen Gewissens erschießen oder ihn vor dem nächsten Killer warnen. Zufrieden schloss Peter die Augen und erwachte Stunden später - mit dem Geschmack von grünem Badezusatz im Mund - im lauwarmen Wasser. Der Nachtschlaf war ruhig und tief.
Mit dem Foto in der Jackentasche stand Peter auf dem Wachturm und beobachtete den Waldrand. Die Kronen und Äste der äußeren Baumreihe bewegten sich mäßig im Wind. Die Sonne ließ sich zwar nicht blicken, aber mit ein bisschen gutem Willen konnte man es schon als Frühlingtag durchgehen lassen, zumindest Vorfrühlingstag. Sein Fahrrad hatte er diesmal als Fluchtfahrzeug bis zum Turm mitgenommen. Nach zwei Frauen mit Kinderwagen, vier Joggern und einem Fuchs tauchte endlich sein Klient auf. Der Schreck, der Peter im Moment des Erkennens durchfuhr, machte ihm erneut klar, wie wenig er als Auftragskiller taugte. Er kletterte die schräge Balken-Schrott-Konstruktion hinunter, schwang sich auf sein Rad und fuhr einen größeren Bogen, der in einigem Abstand auf den Weg führte, auf dem sich der Klient bewegte. Obwohl der Untergrund trocken war, kam er auf den Trampelpfaden der zugewachsenen Wiese nur schwer voran. Die Schutzbleche klapperten wie verrückt, die Kappe der Klingel rasselte in einer Tour und die Kettenspannung war alles andere als ideal. Tolles Fluchtfahrzeug. Völlig außer Atem erreichte Peter den Weg. Der Klient war gut hundert Meter entfernt und ging langsam in seine Richtung. Der Mann schritt ruhig vor sich hin und wirkte in seiner hellroten Windjacke wie ein normaler Spaziergänger; nichts deutete darauf hin, dass er auf einen Todesschuss wartete. Sein Blick war meist auf den Boden gerichtet, gelegentlich schaute er über die struppige Wiese zum Wachturm. Peter stieg vom Rad und schob es langsam über den unruhigen Untergrund, ohne dass es aufhörte zu klappern. Er schnaufte schwer, die ungewohnte Anstrengung machte ihm zu schaffen. Inzwischen war auch der Klient auf Peter aufmerksam geworden, zeigte aber weiter keine Reaktion. Zwei Spaziergänger begegneten sich am Waldrand, nichts aufregendes. Peter suchte nach Anzeichen einer Krankheit, aber weder im Gesicht, noch am Gang des Mannes ließ sich aus dieser Entfernung körperlicher oder geistiger Verfall erkennen. Seine Gesichtsfarbe wirkte sogar sehr gesund, vielleicht war es auch Sonnenbankbräune. Als sie nur noch zehn Meter voneinander entfernt waren, blieb der Mann plötzlich stehen und sah Peter direkt an. Offensichtlich hatte er Peter bereits gescannt und sich ein Urteil gebildet. Jemanden beobachten ohne Hinzusehen, eine Technik, die sonst nur Frauen beherrschten. Jetzt konnte ihm Peter direkt in die Augen schauen und die sahen überhaupt nicht entspannt aus. Sie quollen geradezu hervor, ein Auge glotzte Peter an, das andere deutlich an ihm vorbei. Die Gesichtsfarbe war nicht gesund, sondern knallrot, als würde der Kopf jeden Moment explodieren. Die dunkelrote Rübe über der hellroten Windjacke, die ihm jetzt wie ein Zielpunkt vorkam, wirkte geradezu grotesk. Der Mann war ihm vollkommen unbekannt. Die unbestimmte Ähnlichkeit mit einer ihm irgendwie bekannten Person, die sein Gehirn ihm vorgeschlagen hatte, bestand nur auf dem Foto. Sein Mund machte dicke Backen, als sammele er Luft für einen Tauchgang, dann fiel er in sich zusammen, kippte zur Seite und endete verdreht auf dem Grasstreifen am Rande des Weges. Peter stand regungslos vor ihm und hielt sich mit beiden Händen am Lenker seines ebenfalls verstummten Pferdes fest. Von seinem Klienten kam keinerlei Lebenszeichen. Überdeutlich nahm er die Geräusche des Waldes und der Wiese war. Ein Specht hämmerte besinnungslos auf einen Baum ein; Peter bekam schon vom Zuhören Kopfschmerzen und um die wilden Pflanzen am Wegesrand düsten die ersten hektischen Insekten herum. Im Nachhinein schien es Peter ganz logisch, dass der Mann vor ihm zusammengebrochen war. Stell dir vor, du wartest tagelang auf den Schuss, jeder Passant ist ein möglicher Mörder, da ist man doch permanent kurz vor einem Herzinfarkt. Vielleicht hatte er die Killernatur in Peter gesehen, das war dann zu viel gewesen. Im Augenblick des Zusammenbruchs selbst kam es Peter allerdings wie ein schlechter Scherz vor.
Es dauerte ewig, bis der Rettungswagen kam. Peter hatte von seinem eigenen Handy aus angerufen und seinen Namen genannt. Die Zentrale der „Schnellen medizinischen Hilfe“ rief dann noch zweimal zurück, weil die Sanis die Stelle nicht fanden. Peter hatte am Telefon durchblicken lassen, dass am Ableben des Mannes kein Zweifel bestehe. Darauf wollte sich der Typ am Telefon aber nicht einlassen. Er forderte Peter auf, das Handy auf Lautsprecher zu stellen und gab ihm dann konkrete Anweisungen zur Wiederbelebung. Peter kniete sich auf den feuchten Weg, legte dem Mann sein Handy auf die Brust und seine Finger begannen alibimäßig an der Halsschlagader herumzutasten. Und tatsächlich fühlte er einen schwachen Pulsschlag. Auch das noch. Der Brustkorb bewegte sich nicht. Peter führte seine Wange dicht an den Mund des Mannes heran. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er glaubte, einen ganz leichten Atem zu spüren. Peter war unschlüssig. „Kein Atem, kein Puls.“ sagte er in Richtung Handy. Würde sich die Story mit der unheilbaren Krankheit bestätigen, dann war die Einlieferung in ein Krankenhaus genau das, was der Klient vermeiden wollte. Warum musste er auch so schnell zusammenbrechen, ohne Peter den kleinsten Hinweis zu geben! Sein Handy erteilte ihm mit ruhiger und monotoner Stimme weitere Anweisungen. Peter tat auch so, als würde er sie ausführen, öffnete aber lediglich die Jacke des Patienten, damit es später so aussah als ob und zählte gemeinsam mit der Stimme aus dem Lautsprecher den Rhythmus der Herzdruckmassage im Wechsel mit der Mund-zu-Mundbeatmung. Mund-zu-Mundbeatmung! Soweit kam’s noch. Der Typ am Telefon forderte Peter auf, die Maßnahmen bis zum Eintreffen der Rettungskräfte fortzuführen und legte auf. Peter hielt Ausschau nach Joggern und Frauen mit Kinderwagen, aber niemand ließ sich blicken. So wie es sich entwickelte, würde er den Mann wohl im Rettungswagen ins Krankenhaus begleiten, um sich Stunden später von ihm entweder dankbar oder vorwurfsvoll die Hand drücken zu lassen. Sie haben mir das Leben gerettet. Verzwickte Sache! Würden sie den Klienten erst mal verfrachtet haben, gäbe es nach dieser Aktion hier für Peter kaum noch eine Möglichkeit, ihn unauffällig umzulegen. Noch immer war niemand zu sehen. Der knallrote Kopf sprach eigentlich für die Krankheitsvariante. Wie war das mit der Mund-zu-Mundbeatmung? Peter griff mit einer Hand das Kinn, mit zwei Fingern der anderen hielt er dem Mann die Nase zu. Er beugte sich hinunter, bis ihre Gesichter sich fast berührten. Peter betrachtete die geschlossenen Augenlider. Seine Hand löste sich vom Kinn, schob sich auf den Mund und blieb dort liegen.
Das Geräusch des Rettungswagens war schon lange zu hören, bevor sich die weißrote Blechkiste aus dem Wald heraus schob. Die Karre kämpfte mit dem Untergrund und als die Sanitäter endlich ausstiegen, waren sie ziemlich sauer. Kurz bevor sie ankamen, hatte Peter erneut nach dem Puls getastet, aber nichts gefunden. Die Gesichtsmuskeln zeigten keinerlei Spannung mehr und das Blut musste in die unteren Körperbereiche gesackt sein, Stirn und Wangen waren käsig geworden. Der Mann sah eindeutig tot aus. Die Sanis schleppten mehrere Geräte vom Auto zum Kunden und unternahmen lust- und erfolglos einige Wiederbelebungsversuche. Wäre Peter nicht dabei gewesen, hätten sie sich die Mühe wahrscheinlich gespart. Beim Einpacken erwähnten sie beiläufig, dass sie nun die Polizei verständigen werden. Da der Mann bei ihrem Eintreffen schon tot war, könnten sie ihn nicht in den Rettungswagen verladen und einfach mitnehmen, das sei Sache der Polizei. Peter solle doch bitte solange hier warten. Natürlich wäre er am liebsten abgehauen, aber dafür war es zu spät. Immerhin hatte er Namen und Telefonnummer angegeben. Peter glaubte, die Sanis würden sich aus dem Staub machen und ihn mit der Leiche hier sitzen lassen, aber das war wohl gegen die Vorschrift.
Die Polizei fand den Tatort zum Glück wesentlich schneller als die Rettungsheinis. Sie kamen zu zweit mit einem VW-Bus, eine Frau und ein Mann. Peter hatte die ganze Zeit überlegt, ob es ratsam war, den Tod des Mannes genauso zu schildern wie er ihn erlebt hatte oder ob er ihn vielleicht einfach nur leblos gefunden hatte. Die Sanis hatten inzwischen umrissen, dass sie mit ihrem Wagen nicht an dem Polizei-Bus vorbeikamen und in der Falle saßen. Sie erkundigten sich bei Peter, wohin der Weg führte. Eine gefährliche Frage, denn wenn er sich hier gar nicht auskannte, was hatte er dann hier zu suchen? Seine Wohnung lag nicht gerade um die Ecke. Er sagte, der Weg führe weiter hinten in eine Kleingartenkolonie, aber wahrscheinlich komme der RTW da nicht durch. Das klang plausibel und sollten sie es doch versuchen und einen Ausweg finden, wären sie sicher nicht nachtragend. Der Beamte telefonierte, die Beamtin setzte sich mit Peter in den VW-Bus, um den Papierkram zu erledigen. Alles ganz routiniert. Peter beantwortete ruhig und gewissenhaft die Fragen. Bei einer kleinen Radtour hatte er den leblosen Körper am Wegesrand entdeckt. Berufliche Tätigkeit: arbeitslos. Das passte auch zur Radtour am späten Vormittag. Am wichtigsten war der Polizistin der Bericht der Sanis, damit ließ sich ein Großteil der offenen Fragen abhaken. Leider war keiner von ihnen Arzt, weshalb der Tod des Mannes nur vorläufig feststand. Immer wieder sah Peter zum Wachturm hinüber und war sich sicher, von dort beobachtet zu werden. Der Doktor, der Typ, der die Fotos gemacht hatte oder die beiden Mädchen? Am Ende bemerkte die Polizistin, dass er sehr gefasst wirke. Peter glaubte einen leicht vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme zu hören. „Wahrscheinlich stehe ich unter Schock.“ schlug Peter vor. Das hatte er sich nicht gut überlegt, denn jetzt mussten die Sanis nochmal ran und ihm in die Augen leuchten. Sie empfahlen ihm, das Fahrrad stehenzulassen oder zu schieben, mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu fahren und sich dort auszuruhen. Er versprach, es genauso zu machen, warf einen letzten Blick auf seinen mit einer weißen Plane abgedeckten Klienten und machte sich auf den Heimweg.
Zuhause stürmte er direkt ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Er nahm zwei der Tabletten, die ihm die Sanis gegeben hatten und legte sich ins Meer. Den Melissen-Zusatz goss er diesmal erst später dazu, der Schaum war ihm doch etwas zu viel gewesen. Dafür nahm er diesmal vier Verschlusskappen. Nach dem Bad wickelte er die Teile des Jagdgewehrs wieder in die Knallfolie, verstaute sie in den Aldi-Tüten und setzte eine sms ab. Auftrag ausgeführt. Bin morgen früh zehn Uhr am selben Ort. Die Antwort kam prompt. Warten auf Bestätigung. Morgen zweiundzwanzig Uhr. Selber Ort. Danke.
Die Nacht und der Morgen waren furchtbar verlaufen. Peter hatte vier Biere zum Einschlafen gebraucht, war nach nur zwei Stunden schweißgebadet und frierend aufgewacht und hatte trotz dieses Flüssigkeitsverlusts ständig pinkeln müssen. Um fünf war er dann endgültig aufgestanden, hatte sich rasiert, geduscht und gefrühstückt. Wenigstens der Appetit war ihm geblieben. Es wurde ein Tag, der einfach nur vorbei sein sollte. Er überstand ihn ohne Kaffee aber mit viel Tee und wenig fester Nahrung. Beim letzten Tageslicht verließ er das Haus. Da er noch drei Stunden totschlagen musste, ignorierte er die Bushaltestelle und ging den ganzen Weg zu Fuß. Zehn vor zweiundzwanzig stand er mit seinen Aldi-Tüten in Sichtweise des stockdunklen Arbeitsamtes und rechnete damit, jeden Moment eine Kugel in den Kopf geschossen zu bekommen. Warum sonst hatten sie ihn in der Dunkelheit an diesen verlassenen Ort bestellt? Er malte sich den Polizeibericht aus: Männliche Leiche, um die Fünfzig. Todesursache: Kopfschuss. Natürlicher Tod: Strich. Aufgefundene Gegenstände: Schlüsselbund und Kleingeld. Auffälligkeiten: In der rechten Hand befanden sich abgerissene Tragegriffe zweier Einkaufstüten. Spätere Ermittlungen würden sicher die Herkunft der Plastiktüten aufdecken. Der Vergleich mit der Akte vom Arbeitsamt würde enthüllen, dass er keine Reise ins ALDI-SÜD-Gebiet angemeldet hatte. Wahrscheinlich würden sie ihm posthum das Arbeitslosengeld kürzen.
Dr. Best erschien pünktlich und trug immer noch den Regenmantel. Vielleicht war es eine Art Markenzeichen. Als wäre es bereits Routine, gingen sie in Richtung der Wohnsiedlung. An einer unübersichtlichen Stelle, außer Sichtweite der Hauptstraße, blinkte ein blauer VW-Golf mit Münchner Kennzeichen kurz auf, ohne, dass der Doktor eine zusätzliche Bewegung gemacht hätte. Verdammt cooler Hund. Er streckte wortlos die Hand aus und Peter reichte ihm ebenso wortlos die ALDI-Tüten. Nach so vielen Jahren der Zusammenarbeit kannte man sich in und auswendig. Die Tüten verschwanden ungeprüft im Kofferraum, der Doktor setzte sich hinter das Steuer, wodurch Peter automatisch der Beifahrersitz zufiel. Um nicht zu defensiv zu wirken, begann Peter die Unterhaltung. „Das Gewehr ist unbenutzt, es wäre zu auffällig gewesen, ich habe es anders gelöst, unauffälliger.“ Die Worte hatte Peter sich den Tag über zurechtgelegt und nun klangen sie auch ganz gut. Zum ersten Mal lächelte der Doktor und Peter fiel sogleich ein Stein vom Herzen. Der Doktor erwähnte den Polizeibericht, den er im Auftrag seiner Organisation besorgt hatte und übermittelte Peter deren Dank. Man sei sehr zufrieden. Peter erhielt einen dicken braunen Umschlag, den er nicht öffnete; er wollte nicht unhöflich und unnötig misstrauisch wirken. Peter holte das Foto des Unbekannten und das Handy aus seiner Jackentasche und legte beides in die mittlere Ablage. Der Doktor steckte das Foto weg und schlug Peter vor, das Telefon zu behalten. Natürlich nur wenn er wolle. Peter war froh, den Einsatz so glimpflich überstanden zu haben und wollte alle damit verbundenen Gegenstände loswerden. Deshalb war er von sich selber überrascht, als er das Handy nahm und zurück in die Jackentasche schob. Nun gab es nichts mehr zu sagen, ihr einziges gemeinsames Thema war erschöpft und beide hielten small talk für überflüssig. Sie verabschiedeten sich, Peter verließ das Auto und wanderte erleichtert die unbeleuchtete Straße hinunter. Den Umschlag behielt er in der Hand, er fühlte sich gut an. Er ging vorbei am schlafenden Arbeitsamt und musste an die Berater denken, die ihn stets mit Fragebögen und Gesprächsterminen überhäuften, ihm aber noch nie einen Job vermittelt hatten. Man musste sich eben selber kümmern. Peter hatte nicht vor, auf den Nachtbus zu warten. Erleichtert und den Umständen entsprechend gut gelaunt schlenderte er am Rand der sechsspurigen Straße entlang. An der nächtlichen Kreuzung zweier großer Hauptstraßen bot sich ihm ein verrücktes, vollkommen inszeniert wirkendes Bild dar. Die Ampeln spielten sinnlos ihre Phasen durch, keine Fahrzeug weit und breit. Ein Radweg war frisch markiert, aber die Markierung nicht ganz gelungen, jedenfalls zog sich ein großer weißer Farbstreifen in Schlangenlinien über die Haltelinie hinweg auf die Kreuzung hinaus, wo er als großer leuchtender Fleck endete. Wilde Muster weißer Auto- und Fußspuren traten nach allen Seiten aus ihm hervor. In hundert Metern Entfernung ragten die gelben Lichter einer Shell-Tankstelle in den Himmel. Das Abfahrtssignal einer S-Bahn wehte herüber, dann fuhr der Zug an und beschleunigte. Peter schaute von einer der Ecken über die Kreuzung. An den drei anderen Ecken standen ebenfalls Männer. Jeder von ihnen stand sehr aufrecht neben einem orangen Müllbehälter in dem der rechte Arm bis zur Schulter verschwand. Und jeder der drei hielt in der linken Hand eine Plastiktüte. Zweimal Aldi, einmal Lidl.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Brunn, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Ralph Ronneberger

Redakteur in diesem Forum
 

Brunn

Mitglied
DER SCHÜTZE

Peter war pleite und nach dem gerade beendeten Gespräch würde sich daran demnächst nichts ändern. Gleichmütig verließ er das Arbeitsamt und versuchte den Blickkontakt mit zwei am Eingang herumlungernden Typen zu vermeiden. Aus dem Augenwinkel sah er sie übertrieben grinsen und mit billig kopierten Flyern herumwedeln. Peter war vollkommen klar, warum sie ihre Jobs außerhalb der Behörde anboten. Meist handelte es sich um kostenpflichtige Schulungen, in denen man lernte, den Leuten sinnlose Strom- und Versicherungsverträge aufzuschwatzen. „Schönen guten Tag, schauen Sie sich bitte mal unser Angebot an.“ Fast eine Aufforderung, nicht schlecht; sie knüpften direkt an den Ton im Arbeitsamt an. Peter schüttelte den Kopf und beschleunigte seinen Gang, musterte im Vorbeigehen die beiden Typen. Mit schwarzen Anzügen und modischen Vertreterkrawatten unter übergroßen Mänteln versuchten sie krampfhaft seriös zu wirken; ihre Lackschuhe standen halb auf dem knirschenden Streukies und halb im verdreckten, fast weggetauten Restschnee. Kaum hatte Peter die Zettelwinker hinter sich gelassen, wurde er plötzlich von der Seite von einem großen älteren Mann angesprochen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Peter war so verblüff, dass er spontan stehen blieb. Junge Leute ließ Peter gerade noch durchgehen, die brauchen immer ein paar Euro und müssen lernen, was es heißt, Geld zu verdienen. Alte Menschen in diesen Hilfsjobs zu sehen, machte ihn dagegen traurig. Allerdings wirkte dieser Mann nicht besonders hilfsbedürftig. Er trug einen eleganten kapuzenlosen Regenmantel mit Lederkragen, hatte seitlich über den Kopf gekämmte weißgraue Haare, dichte graue Augenbrauen und sehr gleichmäßige weiße Zähne. Falls sich noch jemand an Dr. Best erinnert, dann hat er ein recht genaues Bild des Mannes. Seine Worte waren sorgfältig gewählt, kurz und präzise legte er sein unmissverständliches Angebot dar. Er arbeite im Auftrag einer Organisation, die sterbenskranken Menschen hilft, würdevoll aus dem Leben zu scheiden. Es handele sich um Menschen, die sich gegen lebensverlängernde Maßnahmen entschieden haben, deren Tod unausweichlich sei und die daher zwangsläufig mit dem Leben abgeschlossen haben. Es blieben ihnen nur Schmerzmittel; der komplette Verlust von körperlicher und geistiger Kraft stehe unmittelbar bevor. Die Fahrt in ein Sterbehospiz in der Schweiz sei ihnen zu aufwendig; die ausführliche und langwierige Todesvollstreckung mache ihnen Angst. Selbstauslöschung komme für sie aus unterschiedlichen Gründen nicht infrage; sie wollen kurz und schmerzlos aus dem Leben scheiden. Irgendjemand muss das nun erledigen. Daher spreche er Menschen an, die er nicht kenne, die ihn nicht kennen, die die Kunden nicht kennen, die also vollkommen anonym diesen Job gegen Bezahlung erledigen könnten. Er empfahl Peter, sich das Angebot zu überlegen, eine Nacht darüber zu schlafen, gründlich die moralischen und finanziellen Aspekte abzuwägen und im Falle einer Zustimmung ihn morgen gegen zehn Uhr an derselben Stelle zu treffen. Der Mann trug seine Sätze so selbstverständlich und emotionslos vor wie ein Notar ein gerade geöffnetes Testament. Als Zeichen, dass das Gespräch beendet war, nickte er kurz und freundlich. Peter hatte sich den Vortrag vollkommen reaktionslos angehört nur bei der Passage mit dem Sterbehospiz war ihm ein verständnisvolles Brummen entwichen, ein Brummen wie er es gerade vor zehn Minuten von sich gegeben hatte, als seine Sachbearbeiterin ihn über seine Pflichten belehrt hatte. Trotz dieser kleinen Parallele fühlte er sich dem älteren Mann gegenüber weniger ausgeliefert als der Dame im Amt. Peter schaute dem Doktor in die Augen, nickte ebenfalls und setzte seinen Weg in Richtung Bushaltestelle fort. Nach wenigen Schritten drehte er sich um, aber Dr. Best schaute ihm nicht nach, ebenso wenig sprach er weitere Kandidaten an. Er schlenderte langsam auf der Mitte des Fußweges in der entgegengesetzten Richtung davon und sah aus wie ein Rentner, dessen Hund irgendwo in der Näher herumtobte. Die Bushaltestelle lag schräg gegenüber vom Arbeitsamt auf der anderen Seite einer lauten sechsspurigen Straße. Normalerweise wäre Peter brav bis zu nächsten Ampel vorgegangen und dann auf der Gegenseite den Weg zur Haltestelle zurückgewandert. Doch plötzlich hatte er keine Lust dazu. Vielleicht gab ihm das seltsame Gespräch oder vielmehr der Vortrag des Mannes einen kleinen waghalsigen Kick, jedenfalls überquerte er todesmutig und ohne übertriebene Eile den Highway-to-hell auf direktem Weg.
Während er auf den Bus wartete, wunderte er sich, wie wenig skandalös ihm das Angebot vorkam. Natürlich zog er es nicht in Betracht. Er tötete weder Fliegen noch Mäuse und niemals würde er sich anmaßen, das Leben eines Menschen zu beenden. Im weitesten Sinne sah er sich als Pazifist.
Der Bus war fast leer, Peter konnte sich ganz nach hinten setzen und den Innenraum überblicken, wie er es als Kind immer gern getan hatte. Noch einmal schaute er aus dem winterverdreckten Fenster in Richtung Amt, aber der Blick war durch die Silhouette einer liegenden nackten Frau auf dem Werbebanner des Busses der Gegenrichtung verdeckt. Über dem Slogan eines Flatrate-Bordells drückten sich Schulkinder an die Scheiben und glotzten zu ihm herüber. Wer weiß, was auf seinem Bus geschrieben stand. Als die Puff-Kampagne aus dem Bild rollte, war Doktor Best nicht mehr zu sehen, an der Stelle wurde bereits ein anders Stück aufgeführt: Ein junges türkischen Paar stand sich gegenüber. Sie klammerte sich mit gesenktem Kopf an ihre weiße Kunstlederhandtasche und schluchzte herzerweichend, während er gestenreich auf sie einredete. Die Türen rumsten zu, der Bus fuhr ab und Peter sah gerade noch, wie sich die beiden an die Hand nahmen und eilig auf das graue Amtsgebäude zugingen, als hätte man ihre Wartenummer gerade aufgerufen. Nachdem sie außer Sicht waren, wanderte sein Blick zu den Hinterköpfen der wenigen Fahrgäste. Wieviel musste man wohl hinlegen für so einen Gnadenschuss? Der Bus beschleunigte und schaffte mehrere Kreuzungen in einer grünen Welle. Peter rutschte etwas dichter an die Scheibe heran, damit er im Falle einer Vollbremsung nicht durch den Mittelgang geschleudert werden würde. Während er so durchgeschüttelt wurde, fragte Peter sich, warum er eigentlich von einem Schuss ausging. Vielleicht würde er ja auch eine Portion Gift bekommen und hätte die Aufgabe, es dem Kunden unauffällig in seinen Kaffee zu kippen, sagen wir bei Mc Donalds. Der Bus stoppte vor einer Schule und wurde von schätzungsweise hundert Schulklassen geflutet. Nach sechs- oder siebenstündigem hochintensivem Lernen ließen sie ihren Stimmen nun freien Lauf. Peter freute sich für die Kids, konnte allerdings nicht weiter über seinen Fall nachdenken.

Zuhause machte er sich einen Kaffee und setzte sich zum Grübeln an den Küchentisch, doch schon bald war ihm der zähe Gedankenfluss zuwider. Er wechselte ins Wohnzimmer und versuchte es mit dem Fernseher. Das Mittagsprogramm war vollkommen auf Arbeitslose wie ihn zugeschnitten. Erfolglos versuchte sich Peter in Claudia hineinzuversetzen, die in der Berufsschule immer wegen ihrer großen Brüste geärgert wurde. Sie hatte sich angewöhnt, sich hinzusetzen, die Brüste mit beiden Händen zu packen und auf die Tischplatte zu legen. Darüber lachten dann alle. Peter nippte an seinem Kaffee. Seine Tasse hatte einen Rand auf dem Couchtisch hinterlassen, den er erst mit einem Finger verwischte und schließlich mit einem Papiertaschentuch wegpolierte. Wahrscheinlich würde man Gift im Kaffee herausschmecken. Außerdem gab es überall Videoüberwachungen, da würde man den Mord und den Mörder erkennen. Mord. Das Wort wirkte brutal und beängstigend. Claudia demonstrierte gerade wie sie ihr Brüste auf den Tisch legte und Peter schaltete den Fernseher aus. Er schüttelte sich heftig, als wolle er diese ganzen verrückten Gedanken loswerden.
Am Abend setze er sich erneut vor die Glotze, konnte sich aber nicht auf das Programm konzentrieren. Er trank zwei alkoholfreie Biere und ging ins Bett. Wie würde er sich denn verhalten, wenn sein Tod unausweichlich und qualvoll bevorstände? Oder wenn er sich mit HIV infiziert hätte und es keiner wissen sollte? Am besten wäre wohl ein Motorradunfall. Selbstverständlich dürften keine anderen Personen zu Schaden kommen. Mit etwas Pech, denn ganz so entschlossen ist man ja dann wahrscheinlich doch nicht, reißt man den Lenker in letzter Sekunde herum und landet zermatscht aber lebendig im Krankenhaus. Wenn er es sich recht überlegte, war ein unerwarteter Kopfschuss aus einiger Entfernung gar keine schlechte Lösung. Je mehr er darüber nachdachte, desto schlüssiger erschien ihm ein präzises Gewehr mit Zielfernrohr als Tatwaffe. Er sah sich schon wie Leon der Profi auf einem Hochhausdach liegen und auf lebensmüde Jogger im Centralpark schießen. Vielleicht hätte er ja auch einen Lehrling vom Format der jungen Natalie Portman dabei. In Erwartung unruhiger Träume schloss er die Augen.

Peter erschien pünktlich um zehn Uhr vor dem Arbeitsamt. Wenn er den Job annähme, wozu er keinesfalls entschlossen war, dann wollte er von Anfang an als zuverlässig gelten. Dr. Best trug denselben dunklen Regenmantel wie am Vortag und begrüßte Peter freundlich. Sie entfernten sich vom Eingang der Behörde und gingen auf den Parkplatz eines lange nicht sanierten Plattenbaugebietes zu. Peter hatte sich ein wenig Agentenfilm-Feeling erhofft, aber der regengraue Tag und die trostlose Wohnarchitektur ließen keine vergleichbare Stimmung aufkommen. Der Ablaufplan, den der Mann schilderte, entsprach recht genau Peters Vorstellungen. Er erhielt ein Prepaid-Handy, indem eine einzige Nummer eines anderen Prepaid-Handys gespeichert war, die einzige Kontaktmöglichkeit zwischen ihm und Best. Sollte Peter anrufen wollen, solle er sich mit „Schütze“ melden. Dann gingen sie zu einem blauen Ford Focus mit Hamburger Kennzeichen, in dessen aufgeräumtem, sorgfältig gesaugten Kofferraum zwei ineinandergesteckte Aldi-Tüten standen. In den Tüten befanden sich in Knallfolie gewickelte Einzelteile eines Jagdgewehres und eine kleine Schachtel mit Munition. Irgendetwas störte Peter an den Tüten, er konnte aber nicht sagen, was es war. Dr. Best begann mit der Einweisung. Der Kunde wünsche sich den Tod innerhalb eines bestimmten Zeitfensters. Er wolle nicht genau wissen, wann es geschieht, aber sicher gehen, am Ende der Woche nicht mehr zu leben. In einem Umschlag aus braunem Umweltpapier befand sich ein Foto. Außerdem waren mit dem Kunden tägliche Spaziergänge zur Mittagszeit im nördlichen Stadtforstgebiet ausgemacht worden. Die Anzahlung betrug fünftausend Euro, nach ausgeführtem Auftrag gäbe es noch einmal dieselbe Summe. Ohne jede Drohgebärde hielt der Doktor Peter ein Foto unter die Nase, welches ihn vor dem Arbeitsamt zeigte und offensichtlich gestern mit einem Teleobjektiv geschossen wurde. Mit etwas in dieser Art hatte Peter gerechnet, irgendwie mussten die sich ja absichern. Er nickte verständnisvoll und nun stellte sich doch noch ein kleines Agentenfilm-Feeling ein, wenn auch ein beängstigendes. Darüber hinaus, das betonte der Doktor, hätten sie keine Informationen über Peter gesammelt. Sie kannten weder seinen Namen noch seine Adresse und wollten es auch nicht wissen. Peter fragte nach den Auswahlkriterien, denn wie er beobachtet hatte, war er die einzige Person gewesen, die recht gezielt angesprochen worden war. Der Dentist berichtete knapp von seinem Aufgabenbereich, demzufolge er auch nur ein Mittelsmann war, der eben genau für diese Fähigkeit geschätzt wurde, nämlich die richtigen Menschen für den richtigen Job auszusuchen. Peter schien im geeignet, da er ihn für einen Mann hielt, der gerade einen beruflichen Tiefpunkt erlebe, aber nicht entmutigt aussehe, der körperlich und mental in der Lage sei, einen ungewöhnlichen Auftrag auszuführen und der vor allem zuverlässig wirke. Außerdem mache er insgesamt einen sehr durchschnittlichen Eindruck mit einem Gesicht ohne besondere Merkmale; ein Kompliment, das Peter schon oft gehört hatte. Falls er aus irgendeinem Grund nicht in der Lage sein sollte den Auftrag auszuführen, solle er bitte anrufen und Freitagabend um zweiundzwanzig Uhr hier erscheinen. Es sei daher ratsam, die Anzahlung bis dahin nicht auszugeben.
Als Peter im Bus saß, wieder ganz hinten, fühlte er sich zwar etwas mulmig, auch zitterten tatsächlich seine Knie, aber alles in allem schien ihm der ganze Deal sehr vernünftig und fair zu sein. Aus Angst, sie im Bus stehen zu lassen, umklammerte er fest die Tragegriffe der Aldi-Tüten. Plötzlich wusste er, was ihn gestört hatte: Der Wagen hatte ein Hamburger Kennzeichen, Dr. Best sprach Leute in Berlin an und die Tüten waren von Aldi-Süd. Außerdem standen sie im Kofferraum als hätte man sie gerade erst eingeladen. Hamburger Kennzeichen bedeutete nichts, höchstwahrscheinlich ein Mietwagen. Aber Aldi-Süd? War die Organisation etwa aus Süddeutschland oder war es nur eine Ablenkung? Peter schaute aus dem Fenster und schüttelte wie in einem Selbstgespräch unmerklich den Kopf. Diese Überlegungen führten zu nichts.
Zuhause verschloss er entgegen seiner Gewohnheit die Wohnungstür, versteckte das Geld - ohne es nachzuzählen - in einer Schreibtischschublade und breitete den Inhalt der Tüten auf dem zuvor gesäuberten Küchentisch aus. Er wickelte die Waffenteile vorsichtig aus und ordnete sie nebeneinander an. Ganz unten in der Tüte fand er eine Gebrauchsanweisung, ein fusselfreies Leinentuch und als Gratiszugabe ein kleines Fläschchen Waffenöl. Das Gewehr ließ sich problemlos zusammensetzen, das Gewicht war angenehm und es lag gut in der Hand. Zum Justieren des Zielfernrohres hielt sich Peter genau an die Anweisung. Bei der Armee hatte er den Umgang mit einer Maschinenpistole gelernt; er war in der Lage sie zu zerlegen, zu reinigen und kannte sich mit den grundlegenden Funktionen aus. Er konnte sie sichern und entsichern; er wusste, worauf es beim Schießen ankam. Bei Schießübungen hatte er sowohl beim Einzel- als auch beim Dauerfeuer stets eine ruhige Hand bewiesen. Nach wie vor irritierten ihn die Aldi-Süd-Taschen. Ein ehemaliger Arbeitskollege aus München hatte immer die Nase über Aldi-Nord gerümpft und betont, wie viel besser Aldi-Süd sei. Peter konnte dazu nichts sagen. Er prüfte die Festigkeit der Tragetaschen. Da es zwei übereinander gestülpte Taschen waren, konnte nichts passieren. Außerdem wurden Aldi-Tüten gerne von Pennern verwendet und die mussten es ja wissen.
In der Nacht erwachte Peter schweißgebadet. Er war sich jetzt sicher, den Mann niemals erschießen zu können. Ihm wurde schwindelig bei der Vorstellung, mit dem zerlegten Gewehr in der Tasche in den Wald zu fahren, sich ein Versteck zu suchen und mit dem Foto in der Hand - welches er sich absichtlich noch nicht angesehen hatte - auf sein Opfer zu warten, das Gewehr anzulegen und ihm ein Stück Metall in den Schädel zu jagen. Peter schaffte es gerade noch bis ins Bad, wo ihm ein heftiger Krampf den Darm ausquetschte. Währenddessen fiel ihm auf, dass er keinen Schalldämpfer bekommen hatte. Andererseits gab es richtige Dämpfer ohnehin nicht. Das kurze dumpfe, gummiartige Geräusch ist eine reine Filmerfindung. In Wirklichkeit reduziert der Dämpfer den Austrittsschall um einige Dezibel, um bei Einsätzen in Innenräumen das Gehör des Schützen zu schonen. Laut ist es trotzdem. Zumindest hatte es ihr Ausbilder beim Militär so dargestellt. Wieder in der Küche betrachtete Peter die Waffe. Sie bereitete ganz grundsätzliche Probleme: Der nördliche Stadtforst gilt als Freizeit- und Erholungsgebiet, wie soll da ein Mann mit einem Gewehr, sowohl vor, als auch nach der Tat unbemerkt bleiben. Er könnte es erst kurz vor dem Schuss montieren und müsste es anschließend sofort wieder zerlegen. Am liebsten hätte Peter Geld und Gewehr direkt zurückgebracht. Der Gedanke, bis Freitag warten zu müssen, war ihm unerträglich. Entmutigt und zusammengesunken hockte er auf seinem Küchenstuhl und betrachtete das Schlamassel auf seinem Tisch.

Der nördliche Stadtforst war ein langgezogenes, aber nicht sehr breites Waldgebiet unter der ehemaligen Einflugschneise des stillgelegten Flughafens. Im Dickicht hielt sich vereinzelt der Winter, Wege und Wiesen leuchteten in der fernen Märzsonne. Am Morgen hatte Peter sein altes Fahrrad entstaubt und genoss nun die frische Luft, die in der Stadt noch keine Anzeichen von Frühling enthielt, aber hier auf dem holprigen Waldweg wunderbar nach fauligem Holz und Moos duftete. Unter dem Gezwitscher von Amseln und Meisen kämpften sich einige Jogger durch den späten Vormittag. Peter fiel auf, dass sie fast alle in dieselbe Richtung liefen. Auch wenn er manchmal minutenlang ganz allein vor sich hin radelte, blieb der Waldweg unübersichtlich. Es waren zu viele Kurven, hinter denen jederzeit ein neuer Jogger auftauchen konnte. Selbst wenn er seinen Klienten (nach einigen Überlegungen hatte Peter den Begriff Klient für angemessen befunden) unbeobachtet erlegen könnte, bliebe ihm sehr wenig Zeit für den Rückzug. Er müsste sich ja auf eine bestimmte Stelle festlegen, dort das Gewehr herausholen, zusammenbauen, prüfen und warten. Er stellte es sich ungefähr so vor: Weg frei, Schuss/lauter Knall, Klient fällt zu Boden, sein eigener schneller Atem beim Rennen, dann ein markerschütternder Frauenschrei. Sollte der Klient allerdings nicht allein auf dem Weg sein, wäre die Chance für diesen Tag vertan. Er konnte ja schlecht, wie ein Kind beim Indianerspielen, mit dem Gewehr in der Hand ein Stück weiter durch das Dickicht rennen und es erneut versuchen. Peter hatte sich noch immer nicht das Foto angeschaut. Er betrachtete die Männer, die alleine spazieren gingen und überlegte, ob einer von ihnen der Todeskandidat sein könnte. Einige ältere Herren schienen ihm geeignet, obwohl keiner von ihnen besonders lebensmüde wirkte. Beim Verlassen des Waldes fiel sein Blick auf einen alten Wach- oder Wetterturm, der in einiger Entfernung vom Waldrand wie ein verwitterter Monolith auf einer dicht bewachsenen, verwilderten Wiese stand. Ein einziger dünner Trampelpfad war wie eine Zündschnur vom Waldrand zum Turm gelegt. Obwohl der Maschendrahtzaun vor Jahren entfernt worden war, zeichnete sich der Beginn des aufgegebenen Flughafengeländes durch niedrigeren Pflanzenwuchs deutlich ab. Ähnlich wie auf dem ehemaligen Todesstreifen der innerdeutschen Grenze wirkten auch hier die Pestizide im Boden noch Jahre nach. Dem Turm waren Fenster und Tür unsanft entrissen wurden, der Beton an den Öffnungen zeigte Spuren von Spitzhacken und schweren Hämmern. Aus der Türöffnung kam Peter der Geruch von kaltem Mauerwerk entgegen, im Inneren stank es vorrangig nach Pisse und verbranntem Plastik. Sowohl innen, als auch außen war jeder Zentimeter entweder mit Graffiti, meist aber wahllos mit Farbe beschmiert. Die Treppe war offensichtlich beim Stilllegen des Turms professionell entfernt worden, dennoch konnte man mit Hilfe eines rostigen Waschmaschinenkadavers und einiger verkohlter Balken in den oberen Raum gelangen. Dieser zeigte die gleichen Spuren jugendlicher Kraftverschwendung und gedankenloser Farbverteilung wie das Erdgeschoss, nur die Luft war aufgrund der rundherum fehlenden Fenster viel besser. Glassplitter knirschten unter Peters Schuhen. Das war natürlich ein idealer Schießstand, der Waldrand lag gerade in der richtigen Entfernung, um einen Schuss sicher platzieren zu können und das Gelände war nach allen Seiten sehr gut zu überschauen. Andererseits konnte er selbst genauso von allen Seiten gesehen werden und der Weg zurück führte zwangsläufig über freies Gelände. Und würde eine Gruppe Jugendlicher auf den Turm zukommen, hätte er kaum eine Chance, ungesehen zu verschwinden. Möglicherweise würden sie ihn sogar in die Mangel nehmen und sich für den Inhalt seiner Taschen interessieren. Peter hielt sich ungefähr zehn Minuten auf dem Turm auf und beobachtete die Bewegungen in der Umgebung. Heute wäre es gut gegangen. Lediglich zwei Jogger trabten aus dem Wald heraus, hielten sich auf dem Weg an der Waldkante und verschwanden nach etwa zweihundert Metern wieder zwischen den Bäumen. In der entgegenliegenden Richtung tauchte ein Radfahrer auf, der irgendetwas zu suchen schien, dann plötzlich wendete und denselben Weg zurückfuhr. Peter vermied es, zu dicht an die Fensteröffnungen heranzutreten oder sie zu berühren. Er überlegte, wo er schon seine Fingerabdrücke und Fußspuren hinterlassen hatte. Selbst wenn er beim nächsten Mal geschützt wäre, könnten geschickte Kriminaltechniker seinen heutigen Besuch sicher nachweisen. Aber mit dem Problem würde er sich später beschäftigen. Sein Blick scannte immer wieder den Waldrand und die wie Adern daraus hervortretenden Wege. Wie würde sich der Klient wohl bei einem Fehlschuss verhalten? Wahrscheinlich wüsste er beim Knall sofort Bescheid, würde sich aber wundern, warum er nichts spürt und nicht umkippt. Wenn ihm dann klar wird, dass der Killer versagt hat, wird er sich ärgern oder sogar wütend werden. Schließlich hat man ihm einen Profi versprochen. Vielleicht ist er auch total verängstigt, beginnt zu rufen und zu winseln, legt sich auf den Boden oder er hält sich schützend die Arme über den Kopf und springt sofort in den Wald. Hätte Peters Phantasie nicht schon eine ausführliche Wunschliste für die Verwendung der zehntausend Euro angefertigt, er hätte die ganze Sache spätestens an diesem Punkt abgebrochen. Er fühlte sich lust- und mutlos, schließlich kletterte er wieder nach unten. Wie eine Spielzeugfigur mit schwachen Batterien bewegte er sich in der vorgegebenen Furche des Trampelpfades vom Turm weg. Mitten auf freiem Feld, noch gut zwanzig Meter vom Waldrand entfernt, stieß er fast mit zwei Mädchen zusammen, die plötzlich vor ihm standen. Sie hielten kleine bläuliche Blumen in den Händen, offensichtlich waren sie gerade aus der Hocke aufgestanden. Mit großen Augen schauten sie Peter fragend an. Für einen Moment bewegte sich keiner von ihnen. Um es nicht noch schlimmer oder vielmehr verdächtiger zu machen, presste Peter, so cool es ihm möglich war, ein heiseres Hallo hervor und schob sich an den beiden vorbei. Er spürte förmlich ihre Blicke in seinem Rücken. Zum Glück konnten sie den starken Schweißausbruch nicht sehen, der Peter überkam und den er unter Kontrolle zu bekommen versuchte, indem er ruhig atmete und sich ein Bild von den Mädchen ins Gedächtnis rief. Was hatte er in dem kurzen Augenblick von ihnen erfasst und was konnten sie von ihm aufgenommen haben? Sie waren ungefähr gleich groß und mussten zwischen zehn und vierzehn Jahre alt sein, so genau kannte er sich damit nicht aus. Die Eine hatte einen Pferdeschwanz, der unter einer Mütze hervorschaute. Die Farbe der Mütze wusste er nicht mehr, ebenso wenig konnte er irgendeines ihrer Kleidungsstücke beschreiben. Der Riemen einer Schulmappe irrte durch seinen Erinnerungsversuch. Vielleicht hatte er sich die Schulmappen aber auch nur eingebildet, weil sie seiner Meinung nach aus der Schule kommen mussten. Aber um diese Zeit? Vielleicht eine Freistunde. Er musste also mit allem rechnen. Auf dem Rückweg erschien ihm der Turm völlig ungeeignet, die Waldwege aber auch. Als er wieder in Sichtweise der ersten Häuser kam und nach einer Bushaltestelle Ausschau hielt, fiel ihm sein Fahrrad ein, welches er am Waldrand abgestellt hatte, um auf den Turm zuzugehen. Die Mädchen hatten ihn völlig durcheinandergebracht. Verärgert ging er den Weg zurück. Das Fahrrad kam ihm vor wie ein altes Pferd, welches vollkommen emotionslos dort stand, wo er es zurückgelassen hatte und obwohl er es nicht einmal angebunden hatte, war es keinen Zentimeter von der Stelle gewichen. Eigentlich eine sehr sichere Gegend. Er lachte über seinen eigenen Witz. Im Schutze des Waldes schaute Peter erneut zum Turm hinüber. Von den Mädchen fehlte jede Spur; vielleicht saßen sie unten auf der alten Waschmaschine und rauchten. Oder sie standen, genau wie er noch vor einer halben Stunde, in der Mitte des oberen Raums und beobachteten ihn und sein Pferd. Peter stellte sie sich bei einem Polizeiverhör vor, wie sie eine exakte Beschreibung von ihm abgaben.

Am Abend fand er keine Ruhe, die Gedanken fegten kreuz und quer durch seinen Kopf und weigerten sich zu landen. Um sich auf einen konkreten Punkt zu konzentrieren, holte Peter das Foto hervor. Möglicherweise hatte er den Klienten heute ja schon gesehen. Es handelte sich um das Porträt eines ca. sechzigjährigen Mannes, welches ebenso wie Peters Foto aus größerer Entfernung mit einem Teleobjektiv aufgenommen war. Der Mann schaute mit etwas gequältem Blick leicht an der Kamera vorbei. Die Ursache für seinen Gesichtsausdruck war schwer zu bestimmen, möglicherweise pfiff ihm nur der Wind ins Gesicht. Peter war sich sicher, dass dieser Mann heute weder unter den Joggern, noch unter den älteren Spaziergängern gewesen war. Aber er kannte ihn. Es war keine Person aus seinem unmittelbaren Umfeld, kein ehemaliger Arbeitskollege; Peter konnte ihn nicht direkt zuordnen. Er war wie ein Schauspieler, dessen Namen einem nicht geläufig war, den man aber schon in mehreren Filmen gesehen hat, deren Titel man ebenfalls nicht mehr wusste. Peter holte das Geld hervor und stapelte es neben dem Foto auf den Küchentisch. Ein bescheidener Haufen aus Fünfzigeuroscheinen. Zum Glück kein Scheck. So ein einzelner Zettel hätte ihn deprimiert. Sein Blick wechselte in schneller Folge zwischen Bild und Geld, als könnte er dadurch irgendetwas herausfinden. Schließlich ließ er beides auf dem Küchentisch liegen und setzte sich in der Hoffnung auf einen erhellenden Gedanken auf die Toilette. Einer wissenschaftlichen Theorie zufolge hat man dort oft gute Einfälle, weil man mit dem Schließen der Klotür die ganze Welt für eine Weile ausblendet, mit sich selbst ganz allein ist und die relative Gewissheit hat, nicht gestört zu werden. Der Körper entleert sich praktisch von selbst und plötzlich materialisiert sich im Gehirn eine Lösung für ein Problem, an das man gerade eben nicht gedacht hat. Alles, was das Denkorgan für den Geistesblitz brauchte, war ein Moment der Ruhe und Befreiung von dem üblichen Verkehr im Kopf. Bei Peter funktionierte das selbst dann, wenn sein Kopf nicht gerade überlastet war, sondern mehr einer verkehrsberuhigten Zone glich. Während er so auf der Keramik hockte, versuchte Peter die Perspektive seiner Auftraggeber einzunehmen. Was wäre nötig, um einen völlig anonymen Killer zu finden, wie würde er vorgehen, einen mutmaßlich nichtkriminellen Normalbürger fast beiläufig dazu zu bringen, eine so ungeheuerliche Tat wie einen Mord zu begehen? Zunächst müsste man eine moralische Legitimation finden. Man könnte das Töten eines einzelnen Menschen in Beziehung setzen zu den vielen Menschen, die täglich unschuldig sterben, könnte die Größe des Universums und das Alter der Erde mit der kurzen, bedeutungslosen Existenz des Menschen vergleichen. Oder man könnte einfach behaupten, man tue dem Menschen einen Gefallen, es sei sein freier Wille, weil er an einer unheilbaren und ganz und gar furchtbaren Krankheit leide. Peter betätigte die Spülung und ließ Badewasser einlaufen. Er brauchte einen erneuten Wechsel der Perspektive. Das Wasser bedeckte gerademal den Wannengrund, aber Peter wollte nicht länger warten. Er suchte in der alten Kommode nach Badezusatz und fand eine vor einigen Jahren angefangen Flasche mit Melisse-Entspannungsbad von einer Drogeriekette. Ein bis zwei Verschlusskappen wurden empfohlen, das war ihm heute zu wenig. Er kippte drei randvolle Kappen ins Wasser, spülte sie dann unter dem Wasserstrahl aus, setzte sich in die grüne Pfütze und grübelte weiter. Niemand konnte ihm die Story bestätigen, die Dr. Best ihm vor dem Arbeitsamt aufgetischt hatte. Viel wahrscheinlicher war es, dass diese Mafiatypen jemanden aus dem Weg räumen lassen wollen und die Krankheitsgeschichte nur zur Überzeugung des Killers diente. Vielleicht hat auch jemand viel mehr Geld für die Beseitigung des Mannes geboten. Damit könnten sie sich eine ganze Reihe von Killern leisten. Peter bringt den Klienten um und ein weiterer Killer legt Peter um, damit der Auftrag nicht zurückzuverfolgen ist. Vielleicht wissen sie doch mehr über ihn, als sie zugeben. Am Ende muss er das Geld wieder rausrücken und wird noch erpresst. Er muss dann einen Mord nach dem anderen ausführen und ist vollkommen in den Händen der Mafia. Ob es wirklich so einfach war, wieder auszusteigen, wie Best behauptet hatte? Anruf genügte? Peters Gedanken flossen schneller als das Badewasser, lediglich Füße und Hintern waren bedeckt. Immerhin hatte sich ein imposanter Schaumberg gebildet. Woher kannte er den Typen nur? Als die Wanne endlich voll war, regelte er noch ein wenig an der Wassertemperatur herum, in dem er abwechselnd das heiße und kalte Wasser laufen ließ und genoss dann das Knistern der Schaumbläschen in der Stille. Das Melissen-Imitat wirkte, Peter wurde müde und kurz bevor er einzuschlafen drohte, hatte er die Lösung. Er würde den Auftrag nicht zurückgeben, sondern er würde den Klienten zur Rede stellen. Er würde ihn treffen, um aus seinem Munde zu hören, ob er sich wirklich umbringen lassen wollte. Danach könnte er ihn entweder ruhigen Gewissens erschießen oder ihn vor dem nächsten Killer warnen. Zufrieden schloss Peter die Augen und erwachte Stunden später - mit dem Geschmack von grünem Badezusatz im Mund - im lauwarmen Wasser. Der Nachtschlaf war ruhig und tief.
Mit dem Foto in der Jackentasche stand Peter auf dem Wachturm und beobachtete den Waldrand. Die Kronen und Äste der äußeren Baumreihe bewegten sich mäßig im Wind. Die Sonne ließ sich zwar nicht blicken, aber mit ein bisschen gutem Willen konnte man es schon als Frühlingtag durchgehen lassen, zumindest Vorfrühlingstag. Sein Fahrrad hatte er diesmal als Fluchtfahrzeug bis zum Turm mitgenommen. Nach zwei Frauen mit Kinderwagen, vier Joggern und einem Fuchs tauchte endlich sein Klient auf. Der Schreck, der Peter im Moment des Erkennens durchfuhr, machte ihm erneut klar, wie wenig er als Auftragskiller taugte. Er kletterte die schräge Balken-Schrott-Konstruktion hinunter, schwang sich auf sein Rad und fuhr einen größeren Bogen, der in einigem Abstand auf den Weg führte, auf dem sich der Klient bewegte. Obwohl der Untergrund trocken war, kam er auf den Trampelpfaden der zugewachsenen Wiese nur schwer voran. Die Schutzbleche klapperten wie verrückt, die Kappe der Klingel rasselte in einer Tour und die Kettenspannung war alles andere als ideal. Tolles Fluchtfahrzeug. Völlig außer Atem erreichte Peter den Weg. Der Klient war gut hundert Meter entfernt und ging langsam in seine Richtung. Der Mann schritt ruhig vor sich hin und wirkte in seiner hellroten Windjacke wie ein normaler Spaziergänger; nichts deutete darauf hin, dass er auf einen Todesschuss wartete. Sein Blick war meist auf den Boden gerichtet, gelegentlich schaute er über die struppige Wiese zum Wachturm. Peter stieg vom Rad und schob es langsam über den unruhigen Untergrund, ohne dass es aufhörte zu klappern. Er schnaufte schwer, die ungewohnte Anstrengung machte ihm zu schaffen. Inzwischen war auch der Klient auf Peter aufmerksam geworden, zeigte aber weiter keine Reaktion. Zwei Spaziergänger begegneten sich am Waldrand, nichts aufregendes. Peter suchte nach Anzeichen einer Krankheit, aber weder im Gesicht, noch am Gang des Mannes ließ sich aus dieser Entfernung körperlicher oder geistiger Verfall erkennen. Seine Gesichtsfarbe wirkte sogar sehr gesund, vielleicht war es auch Sonnenbankbräune. Als sie nur noch zehn Meter voneinander entfernt waren, blieb der Mann plötzlich stehen und sah Peter direkt an. Offensichtlich hatte er Peter bereits gescannt und sich ein Urteil gebildet. Jemanden beobachten ohne Hinzusehen, eine Technik, die sonst nur Frauen beherrschten. Jetzt konnte ihm Peter direkt in die Augen schauen und die sahen überhaupt nicht entspannt aus. Sie quollen geradezu hervor, ein Auge glotzte Peter an, das andere deutlich an ihm vorbei. Die Gesichtsfarbe war nicht gesund, sondern knallrot, als würde der Kopf jeden Moment explodieren. Die dunkelrote Rübe über der hellroten Windjacke, die ihm jetzt wie ein Zielpunkt vorkam, wirkte geradezu grotesk. Der Mann war ihm vollkommen unbekannt. Die unbestimmte Ähnlichkeit mit einer ihm irgendwie bekannten Person, die sein Gehirn ihm vorgeschlagen hatte, bestand nur auf dem Foto. Sein Mund machte dicke Backen, als sammele er Luft für einen Tauchgang, dann fiel er in sich zusammen, kippte zur Seite und endete verdreht auf dem Grasstreifen am Rande des Weges. Peter stand regungslos vor ihm und hielt sich mit beiden Händen am Lenker seines ebenfalls verstummten Pferdes fest. Von seinem Klienten kam keinerlei Lebenszeichen. Überdeutlich nahm er die Geräusche des Waldes und der Wiese war. Ein Specht hämmerte besinnungslos auf einen Baum ein; Peter bekam schon vom Zuhören Kopfschmerzen und um die wilden Pflanzen am Wegesrand düsten die ersten hektischen Insekten herum. Im Nachhinein schien es Peter ganz logisch, dass der Mann vor ihm zusammengebrochen war. Stell dir vor, du wartest tagelang auf den Schuss, jeder Passant ist ein möglicher Mörder, da ist man doch permanent kurz vor einem Herzinfarkt. Vielleicht hatte er die Killernatur in Peter gesehen, das war dann zu viel gewesen. Im Augenblick des Zusammenbruchs selbst kam es Peter allerdings wie ein schlechter Scherz vor.
Es dauerte ewig, bis der Rettungswagen kam. Peter hatte von seinem eigenen Handy aus angerufen und seinen Namen genannt. Die Zentrale der „Schnellen medizinischen Hilfe“ rief dann noch zweimal zurück, weil die Sanis die Stelle nicht fanden. Peter hatte am Telefon durchblicken lassen, dass am Ableben des Mannes kein Zweifel bestehe. Darauf wollte sich der Typ am Telefon aber nicht einlassen. Er forderte Peter auf, das Handy auf Lautsprecher zu stellen und gab ihm dann konkrete Anweisungen zur Wiederbelebung. Peter kniete sich auf den feuchten Weg, legte dem Mann sein Handy auf die Brust und seine Finger begannen alibimäßig an der Halsschlagader herumzutasten. Und tatsächlich fühlte er einen schwachen Pulsschlag. Auch das noch. Der Brustkorb bewegte sich nicht. Peter führte seine Wange dicht an den Mund des Mannes heran. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er glaubte, einen ganz leichten Atem zu spüren. Peter war unschlüssig. „Kein Atem, kein Puls.“ sagte er in Richtung Handy. Würde sich die Story mit der unheilbaren Krankheit bestätigen, dann war die Einlieferung in ein Krankenhaus genau das, was der Klient vermeiden wollte. Warum musste er auch so schnell zusammenbrechen, ohne Peter den kleinsten Hinweis zu geben! Sein Handy erteilte ihm mit ruhiger und monotoner Stimme weitere Anweisungen. Peter tat auch so, als würde er sie ausführen, öffnete aber lediglich die Jacke des Patienten, damit es später so aussah als ob und zählte gemeinsam mit der Stimme aus dem Lautsprecher den Rhythmus der Herzdruckmassage im Wechsel mit der Mund-zu-Mundbeatmung. Mund-zu-Mundbeatmung! Soweit kam’s noch. Der Typ am Telefon forderte Peter auf, die Maßnahmen bis zum Eintreffen der Rettungskräfte fortzuführen und legte auf. Peter hielt Ausschau nach Joggern und Frauen mit Kinderwagen, aber niemand ließ sich blicken. So wie es sich entwickelte, würde er den Mann wohl im Rettungswagen ins Krankenhaus begleiten, um sich Stunden später von ihm entweder dankbar oder vorwurfsvoll die Hand drücken zu lassen. Sie haben mir das Leben gerettet. Verzwickte Sache! Würden sie den Klienten erst mal verfrachtet haben, gäbe es nach dieser Aktion hier für Peter kaum noch eine Möglichkeit, ihn unauffällig umzulegen. Noch immer war niemand zu sehen. Der knallrote Kopf sprach eigentlich für die Krankheitsvariante. Wie war das mit der Mund-zu-Mundbeatmung? Peter griff mit einer Hand das Kinn, mit zwei Fingern der anderen hielt er dem Mann die Nase zu. Er beugte sich hinunter, bis ihre Gesichter sich fast berührten. Peter betrachtete die geschlossenen Augenlider. Seine Hand löste sich vom Kinn, schob sich auf den Mund und blieb dort liegen.
Das Geräusch des Rettungswagens war schon lange zu hören, bevor sich die weißrote Blechkiste aus dem Wald heraus schob. Die Karre kämpfte mit dem Untergrund und als die Sanitäter endlich ausstiegen, waren sie ziemlich sauer. Kurz bevor sie ankamen, hatte Peter erneut nach dem Puls getastet, aber nichts gefunden. Die Gesichtsmuskeln zeigten keinerlei Spannung mehr und das Blut musste in die unteren Körperbereiche gesackt sein, Stirn und Wangen waren käsig geworden. Der Mann sah eindeutig tot aus. Die Sanis schleppten mehrere Geräte vom Auto zum Kunden und unternahmen lust- und erfolglos einige Wiederbelebungsversuche. Wäre Peter nicht dabei gewesen, hätten sie sich die Mühe wahrscheinlich gespart. Beim Einpacken erwähnten sie beiläufig, dass sie nun die Polizei verständigen werden. Da der Mann bei ihrem Eintreffen schon tot war, könnten sie ihn nicht in den Rettungswagen verladen und einfach mitnehmen, das sei Sache der Polizei. Peter solle doch bitte solange hier warten. Natürlich wäre er am liebsten abgehauen, aber dafür war es zu spät. Immerhin hatte er Namen und Telefonnummer angegeben. Peter glaubte, die Sanis würden sich aus dem Staub machen und ihn mit der Leiche hier sitzen lassen, aber das war wohl gegen die Vorschrift.
Die Polizei fand den Tatort zum Glück wesentlich schneller als die Rettungsheinis. Sie kamen zu zweit mit einem VW-Bus, eine Frau und ein Mann. Peter hatte die ganze Zeit überlegt, ob es ratsam war, den Tod des Mannes genauso zu schildern wie er ihn erlebt hatte oder ob er ihn vielleicht einfach nur leblos gefunden hatte. Die Sanis hatten inzwischen umrissen, dass sie mit ihrem Wagen nicht an dem Polizei-Bus vorbeikamen und in der Falle saßen. Sie erkundigten sich bei Peter, wohin der Weg führte. Eine gefährliche Frage, denn wenn er sich hier gar nicht auskannte, was hatte er dann hier zu suchen? Seine Wohnung lag nicht gerade um die Ecke. Er sagte, der Weg führe weiter hinten in eine Kleingartenkolonie, aber wahrscheinlich komme der RTW da nicht durch. Das klang plausibel und sollten sie es doch versuchen und einen Ausweg finden, wären sie sicher nicht nachtragend. Der Beamte telefonierte, die Beamtin setzte sich mit Peter in den VW-Bus, um den Papierkram zu erledigen. Alles ganz routiniert. Peter beantwortete ruhig und gewissenhaft die Fragen. Bei einer kleinen Radtour hatte er den leblosen Körper am Wegesrand entdeckt. Berufliche Tätigkeit: arbeitslos. Das passte auch zur Radtour am späten Vormittag. Am wichtigsten war der Polizistin der Bericht der Sanis, damit ließ sich ein Großteil der offenen Fragen abhaken. Leider war keiner von ihnen Arzt, weshalb der Tod des Mannes nur vorläufig feststand. Immer wieder sah Peter zum Wachturm hinüber und war sich sicher, von dort beobachtet zu werden. Der Doktor, der Typ, der die Fotos gemacht hatte oder die beiden Mädchen? Am Ende bemerkte die Polizistin, dass er sehr gefasst wirke. Peter glaubte einen leicht vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme zu hören. „Wahrscheinlich stehe ich unter Schock.“ schlug Peter vor. Das hatte er sich nicht gut überlegt, denn jetzt mussten die Sanis nochmal ran und ihm in die Augen leuchten. Sie empfahlen ihm, das Fahrrad stehenzulassen oder zu schieben, mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu fahren und sich dort auszuruhen. Er versprach, es genauso zu machen, warf einen letzten Blick auf seinen mit einer weißen Plane abgedeckten Klienten und machte sich auf den Heimweg.
Zuhause stürmte er direkt ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Er nahm zwei der Tabletten, die ihm die Sanis gegeben hatten und legte sich ins Meer. Den Melissen-Zusatz goss er diesmal erst später dazu, der Schaum war ihm doch etwas zu viel gewesen. Dafür nahm er diesmal vier Verschlusskappen. Nach dem Bad wickelte er die Teile des Jagdgewehrs wieder in die Knallfolie, verstaute sie in den Aldi-Tüten und setzte eine sms ab. Auftrag ausgeführt. Bin morgen früh zehn Uhr am selben Ort. Die Antwort kam prompt. Warten auf Bestätigung. Morgen zweiundzwanzig Uhr. Selber Ort. Danke.
Die Nacht und der Morgen waren furchtbar verlaufen. Peter hatte vier Biere zum Einschlafen gebraucht, war nach nur zwei Stunden schweißgebadet und frierend aufgewacht und hatte trotz dieses Flüssigkeitsverlusts ständig pinkeln müssen. Um fünf war er dann endgültig aufgestanden, hatte sich rasiert, geduscht und gefrühstückt. Wenigstens der Appetit war ihm geblieben. Es wurde ein Tag, der einfach nur vorbei sein sollte. Er überstand ihn ohne Kaffee aber mit viel Tee und wenig fester Nahrung. Beim letzten Tageslicht verließ er das Haus. Da er noch drei Stunden totschlagen musste, ignorierte er die Bushaltestelle und ging den ganzen Weg zu Fuß. Zehn vor zweiundzwanzig stand er mit seinen Aldi-Tüten in Sichtweise des stockdunklen Arbeitsamtes und rechnete damit, jeden Moment eine Kugel in den Kopf geschossen zu bekommen. Warum sonst hatten sie ihn in der Dunkelheit an diesen verlassenen Ort bestellt? Er malte sich den Polizeibericht aus: Männliche Leiche, um die Fünfzig. Todesursache: Kopfschuss. Natürlicher Tod: Strich. Aufgefundene Gegenstände: Schlüsselbund und Kleingeld. Auffälligkeiten: In der rechten Hand befanden sich abgerissene Tragegriffe zweier Einkaufstüten. Spätere Ermittlungen würden sicher die Herkunft der Plastiktüten aufdecken. Der Vergleich mit der Akte vom Arbeitsamt würde enthüllen, dass er keine Reise ins ALDI-SÜD-Gebiet angemeldet hatte. Wahrscheinlich würden sie ihm posthum das Arbeitslosengeld kürzen.
Dr. Best erschien pünktlich und trug immer noch den Regenmantel. Vielleicht war es eine Art Markenzeichen. Als wäre es bereits Routine, gingen sie in Richtung der Wohnsiedlung. An einer unübersichtlichen Stelle, außer Sichtweite der Hauptstraße, blinkte ein blauer VW-Golf mit Münchner Kennzeichen kurz auf, ohne, dass der Doktor eine zusätzliche Bewegung gemacht hätte. Verdammt cooler Hund. Er streckte wortlos die Hand aus und Peter reichte ihm ebenso wortlos die ALDI-Tüten. Nach so vielen Jahren der Zusammenarbeit kannte man sich in und auswendig. Die Tüten verschwanden ungeprüft im Kofferraum, der Doktor setzte sich hinter das Steuer, wodurch Peter automatisch der Beifahrersitz zufiel. Um nicht zu defensiv zu wirken, begann Peter die Unterhaltung. „Das Gewehr ist unbenutzt, es wäre zu auffällig gewesen, ich habe es anders gelöst, unauffälliger.“ Die Worte hatte Peter sich den Tag über zurechtgelegt und nun klangen sie auch ganz gut. Zum ersten Mal lächelte der Doktor und Peter fiel sogleich ein Stein vom Herzen. Der Doktor erwähnte den Polizeibericht, den er im Auftrag seiner Organisation besorgt hatte und übermittelte Peter deren Dank. Man sei sehr zufrieden. Peter erhielt einen dicken braunen Umschlag, den er nicht öffnete; er wollte nicht unhöflich und unnötig misstrauisch wirken. Peter holte das Foto des Unbekannten und das Handy aus seiner Jackentasche und legte beides in die mittlere Ablage. Der Doktor steckte das Foto weg und schlug Peter vor, das Telefon zu behalten. Natürlich nur wenn er wolle. Peter war froh, den Einsatz so glimpflich überstanden zu haben und wollte alle damit verbundenen Gegenstände loswerden. Deshalb war er von sich selber überrascht, als er das Handy nahm und zurück in die Jackentasche schob. Nun gab es nichts mehr zu sagen, ihr einziges gemeinsames Thema war erschöpft und beide hielten small talk für überflüssig. Sie verabschiedeten sich, Peter verließ das Auto und wanderte erleichtert die unbeleuchtete Straße hinunter. Den Umschlag behielt er in der Hand, er fühlte sich gut an. Er ging vorbei am schlafenden Arbeitsamt und musste an die Berater denken, die ihn stets mit Fragebögen und Gesprächsterminen überhäuften, ihm aber noch nie einen Job vermittelt hatten. Man musste sich eben selber kümmern. Peter hatte nicht vor, auf den Nachtbus zu warten. Erleichtert und den Umständen entsprechend gut gelaunt schlenderte er am Rand der sechsspurigen Straße entlang. An der nächtlichen Kreuzung zweier großer Hauptstraßen bot sich ihm ein verrücktes, vollkommen inszeniert wirkendes Bild dar. Die Ampeln spielten sinnlos ihre Phasen durch, keine Fahrzeug weit und breit. Ein Radweg war frisch markiert, aber die Markierung nicht ganz gelungen, jedenfalls zog sich ein großer weißer Farbstreifen in Schlangenlinien über die Haltelinie hinweg auf die Kreuzung hinaus, wo er als großer leuchtender Fleck endete. Wilde Muster weißer Auto- und Fußspuren traten nach allen Seiten aus ihm hervor. In hundert Metern Entfernung ragten die gelben Lichter einer Shell-Tankstelle in den Himmel. Das Abfahrtssignal einer S-Bahn wehte herüber, dann fuhr der Zug an und beschleunigte. Peter schaute von einer der Ecken über die Kreuzung. An den drei anderen Ecken standen ebenfalls Männer. Jeder von ihnen stand sehr aufrecht neben einem orangen Müllbehälter in dem der rechte Arm bis zur Schulter verschwand. Und jeder der drei hielt in der linken Hand eine Plastiktüte. Zweimal Aldi, einmal Lidl.
 

Brunn

Mitglied
DER SCHÜTZE

Peter war pleite und nach dem gerade beendeten Gespräch würde sich daran demnächst nichts ändern. Gleichmütig verließ er das Arbeitsamt und versuchte den Blickkontakt mit zwei am Eingang herumlungernden Typen zu vermeiden. Aus dem Augenwinkel sah er sie übertrieben grinsen und mit billig kopierten Flyern herumwedeln. Peter war vollkommen klar, warum sie ihre Jobs außerhalb der Behörde anboten. Meist handelte es sich um kostenpflichtige Schulungen, in denen man lernte, den Leuten sinnlose Strom- und Versicherungsverträge aufzuschwatzen. „Schönen guten Tag, schauen Sie sich bitte mal unser Angebot an.“ Fast eine Aufforderung, nicht schlecht; sie knüpften direkt an den Ton im Arbeitsamt an. Peter schüttelte den Kopf und beschleunigte seinen Gang, musterte im Vorbeigehen die beiden Typen. Mit schwarzen Anzügen und modischen Vertreterkrawatten unter übergroßen Mänteln versuchten sie krampfhaft seriös zu wirken; ihre Lackschuhe standen halb auf dem knirschenden Streukies und halb im verdreckten, fast weggetauten Restschnee. Kaum hatte Peter die Zettelwinker hinter sich gelassen, wurde er plötzlich von der Seite von einem großen älteren Mann angesprochen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Peter war so verblüff, dass er spontan stehen blieb. Junge Leute ließ Peter gerade noch durchgehen, die brauchen immer ein paar Euro und müssen lernen, was es heißt, Geld zu verdienen. Alte Menschen in diesen Hilfsjobs zu sehen, machte ihn dagegen traurig. Allerdings wirkte dieser Mann nicht besonders hilfsbedürftig. Er trug einen eleganten kapuzenlosen Regenmantel mit Lederkragen, hatte seitlich über den Kopf gekämmte weißgraue Haare, dichte graue Augenbrauen und sehr gleichmäßige weiße Zähne. Falls sich noch jemand an Dr. Best erinnert, dann hat er ein recht genaues Bild des Mannes. Seine Worte waren sorgfältig gewählt, kurz und präzise legte er sein unmissverständliches Angebot dar. Er arbeite im Auftrag einer Organisation, die sterbenskranken Menschen hilft, würdevoll aus dem Leben zu scheiden. Es handele sich um Menschen, die sich gegen lebensverlängernde Maßnahmen entschieden haben, deren Tod unausweichlich sei und die daher zwangsläufig mit dem Leben abgeschlossen haben. Es blieben ihnen nur Schmerzmittel; der komplette Verlust von körperlicher und geistiger Kraft stehe unmittelbar bevor. Die Fahrt in ein Sterbehospiz in der Schweiz sei ihnen zu aufwendig; die ausführliche und langwierige Todesvollstreckung mache ihnen Angst. Selbstauslöschung komme für sie aus unterschiedlichen Gründen nicht infrage; sie wollen kurz und schmerzlos aus dem Leben scheiden. Irgendjemand muss das nun erledigen. Daher spreche er Menschen an, die er nicht kenne, die ihn nicht kennen, die die Kunden nicht kennen, die also vollkommen anonym diesen Job gegen Bezahlung erledigen könnten. Er empfahl Peter, sich das Angebot zu überlegen, eine Nacht darüber zu schlafen, gründlich die moralischen und finanziellen Aspekte abzuwägen und im Falle einer Zustimmung ihn morgen gegen zehn Uhr an derselben Stelle zu treffen. Der Mann trug seine Sätze so selbstverständlich und emotionslos vor wie ein Notar ein gerade geöffnetes Testament. Als Zeichen, dass das Gespräch beendet war, nickte er kurz und freundlich. Peter hatte sich den Vortrag vollkommen reaktionslos angehört nur bei der Passage mit dem Sterbehospiz war ihm ein verständnisvolles Brummen entwichen, ein Brummen wie er es gerade vor zehn Minuten von sich gegeben hatte, als seine Sachbearbeiterin ihn über seine Pflichten belehrt hatte. Trotz dieser kleinen Parallele fühlte er sich dem älteren Mann gegenüber weniger ausgeliefert als der Dame im Amt. Peter schaute dem Doktor in die Augen, nickte ebenfalls und setzte seinen Weg in Richtung Bushaltestelle fort. Nach wenigen Schritten drehte er sich um, aber Dr. Best schaute ihm nicht nach, ebenso wenig sprach er weitere Kandidaten an. Er schlenderte langsam auf der Mitte des Fußweges in der entgegengesetzten Richtung davon und sah aus wie ein Rentner, dessen Hund irgendwo in der Näher herumtobte. Die Bushaltestelle lag schräg gegenüber vom Arbeitsamt auf der anderen Seite einer lauten sechsspurigen Straße. Normalerweise wäre Peter brav bis zu nächsten Ampel vorgegangen und dann auf der Gegenseite den Weg zur Haltestelle zurückgewandert. Doch plötzlich hatte er keine Lust dazu. Vielleicht gab ihm das seltsame Gespräch oder vielmehr der Vortrag des Mannes einen kleinen waghalsigen Kick, jedenfalls überquerte er todesmutig und ohne übertriebene Eile den Highway-to-hell auf direktem Weg.
Während er auf den Bus wartete, wunderte er sich, wie wenig skandalös ihm das Angebot vorkam. Natürlich zog er es nicht in Betracht. Er tötete weder Fliegen noch Mäuse und niemals würde er sich anmaßen, das Leben eines Menschen zu beenden. Im weitesten Sinne sah er sich als Pazifist.
Der Bus war fast leer, Peter konnte sich ganz nach hinten setzen und den Innenraum überblicken, wie er es als Kind immer gern getan hatte. Noch einmal schaute er aus dem winterverdreckten Fenster in Richtung Amt, aber der Blick war durch die Silhouette einer liegenden nackten Frau auf dem Werbebanner des Busses der Gegenrichtung verdeckt. Über dem Slogan eines Flatrate-Bordells drückten sich Schulkinder an die Scheiben und glotzten zu ihm herüber. Wer weiß, was auf seinem Bus geschrieben stand. Als die Puff-Kampagne aus dem Bild rollte, war Doktor Best nicht mehr zu sehen, an der Stelle wurde bereits ein anders Stück aufgeführt: Ein junges türkischen Paar stand sich gegenüber. Sie klammerte sich mit gesenktem Kopf an ihre weiße Kunstlederhandtasche und schluchzte herzerweichend, während er gestenreich auf sie einredete. Die Türen rumsten zu, der Bus fuhr ab und Peter sah gerade noch, wie sich die beiden an die Hand nahmen und eilig auf das graue Amtsgebäude zugingen, als hätte man ihre Wartenummer gerade aufgerufen. Nachdem sie außer Sicht waren, wanderte sein Blick zu den Hinterköpfen der wenigen Fahrgäste. Wieviel musste man wohl hinlegen für so einen Gnadenschuss? Der Bus beschleunigte und schaffte mehrere Kreuzungen in einer grünen Welle. Peter rutschte etwas dichter an die Scheibe heran, damit er im Falle einer Vollbremsung nicht durch den Mittelgang geschleudert werden würde. Während er so durchgeschüttelt wurde, fragte Peter sich, warum er eigentlich von einem Schuss ausging. Vielleicht würde er ja auch eine Portion Gift bekommen und hätte die Aufgabe, es dem Kunden unauffällig in seinen Kaffee zu kippen, sagen wir bei Mc Donalds. Der Bus stoppte vor einer Schule und wurde von schätzungsweise hundert Schulklassen geflutet. Nach sechs- oder siebenstündigem hochintensivem Lernen ließen sie ihren Stimmen nun freien Lauf. Peter freute sich für die Kids, konnte allerdings nicht weiter über seinen Fall nachdenken.

Zuhause machte er sich einen Kaffee und setzte sich zum Grübeln an den Küchentisch, doch schon bald war ihm der zähe Gedankenfluss zuwider. Er wechselte ins Wohnzimmer und versuchte es mit dem Fernseher. Das Mittagsprogramm war vollkommen auf Arbeitslose wie ihn zugeschnitten. Erfolglos versuchte sich Peter in Claudia hineinzuversetzen, die in der Berufsschule immer wegen ihrer großen Brüste geärgert wurde. Sie hatte sich angewöhnt, sich hinzusetzen, die Brüste mit beiden Händen zu packen und auf die Tischplatte zu legen. Darüber lachten dann alle. Peter nippte an seinem Kaffee. Seine Tasse hatte einen Rand auf dem Couchtisch hinterlassen, den er erst mit einem Finger verwischte und schließlich mit einem Papiertaschentuch wegpolierte. Wahrscheinlich würde man Gift im Kaffee herausschmecken. Außerdem gab es überall Videoüberwachungen, da würde man den Mord und den Mörder erkennen. Mord. Das Wort wirkte brutal und beängstigend. Claudia demonstrierte gerade wie sie ihr Brüste auf den Tisch legte und Peter schaltete den Fernseher aus. Er schüttelte sich heftig, als wolle er diese ganzen verrückten Gedanken loswerden.
Am Abend setze er sich erneut vor die Glotze, konnte sich aber nicht auf das Programm konzentrieren. Er trank zwei alkoholfreie Biere und ging ins Bett. Wie würde er sich denn verhalten, wenn sein Tod unausweichlich und qualvoll bevorstände? Oder wenn er sich mit HIV infiziert hätte und es keiner wissen sollte? Am besten wäre wohl ein Motorradunfall. Selbstverständlich dürften keine anderen Personen zu Schaden kommen. Mit etwas Pech, denn ganz so entschlossen ist man ja dann wahrscheinlich doch nicht, reißt man den Lenker in letzter Sekunde herum und landet zermatscht aber lebendig im Krankenhaus. Wenn er es sich recht überlegte, war ein unerwarteter Kopfschuss aus einiger Entfernung gar keine schlechte Lösung. Je mehr er darüber nachdachte, desto schlüssiger erschien ihm ein präzises Gewehr mit Zielfernrohr als Tatwaffe. Er sah sich schon wie Leon der Profi auf einem Hochhausdach liegen und auf lebensmüde Jogger im Centralpark schießen. Vielleicht hätte er ja auch einen Lehrling vom Format der jungen Natalie Portman dabei. In Erwartung unruhiger Träume schloss er die Augen.

Peter erschien pünktlich um zehn Uhr vor dem Arbeitsamt. Wenn er den Job annähme, wozu er keinesfalls entschlossen war, dann wollte er von Anfang an als zuverlässig gelten. Dr. Best trug denselben dunklen Regenmantel wie am Vortag und begrüßte Peter freundlich. Sie entfernten sich vom Eingang der Behörde und gingen auf den Parkplatz eines lange nicht sanierten Plattenbaugebietes zu. Peter hatte sich ein wenig Agentenfilm-Feeling erhofft, aber der regengraue Tag und die trostlose Wohnarchitektur ließen keine vergleichbare Stimmung aufkommen. Der Ablaufplan, den der Mann schilderte, entsprach recht genau Peters Vorstellungen. Er erhielt ein Prepaid-Handy, indem eine einzige Nummer eines anderen Prepaid-Handys gespeichert war, die einzige Kontaktmöglichkeit zwischen ihm und Best. Sollte Peter anrufen wollen, solle er sich mit „Schütze“ melden. Dann gingen sie zu einem blauen Ford Focus mit Hamburger Kennzeichen, in dessen aufgeräumtem, sorgfältig gesaugten Kofferraum zwei ineinandergesteckte Aldi-Tüten standen. In den Tüten befanden sich in Knallfolie gewickelte Einzelteile eines Jagdgewehres und eine kleine Schachtel mit Munition. Irgendetwas störte Peter an den Tüten, er konnte aber nicht sagen, was es war. Dr. Best begann mit der Einweisung. Der Kunde wünsche sich den Tod innerhalb eines bestimmten Zeitfensters. Er wolle nicht genau wissen, wann es geschieht, aber sicher gehen, am Ende der Woche nicht mehr zu leben. In einem Umschlag aus braunem Umweltpapier befand sich ein Foto. Außerdem waren mit dem Kunden tägliche Spaziergänge zur Mittagszeit im nördlichen Stadtforstgebiet ausgemacht worden. Die Anzahlung betrug fünftausend Euro, nach ausgeführtem Auftrag gäbe es noch einmal dieselbe Summe. Ohne jede Drohgebärde hielt der Doktor Peter ein Foto unter die Nase, welches ihn vor dem Arbeitsamt zeigte und offensichtlich gestern mit einem Teleobjektiv geschossen wurde. Mit etwas in dieser Art hatte Peter gerechnet, irgendwie mussten die sich ja absichern. Er nickte verständnisvoll und nun stellte sich doch noch ein kleines Agentenfilm-Feeling ein, wenn auch ein beängstigendes. Darüber hinaus, das betonte der Doktor, hätten sie keine Informationen über Peter gesammelt. Sie kannten weder seinen Namen noch seine Adresse und wollten es auch nicht wissen. Peter fragte nach den Auswahlkriterien, denn wie er beobachtet hatte, war er die einzige Person gewesen, die recht gezielt angesprochen worden war. Der Dentist berichtete knapp von seinem Aufgabenbereich, demzufolge er auch nur ein Mittelsmann war, der eben genau für diese Fähigkeit geschätzt wurde, nämlich die richtigen Menschen für den richtigen Job auszusuchen. Peter schien im geeignet, da er ihn für einen Mann hielt, der gerade einen beruflichen Tiefpunkt erlebe, aber nicht entmutigt aussehe, der körperlich und mental in der Lage sei, einen ungewöhnlichen Auftrag auszuführen und der vor allem zuverlässig wirke. Außerdem mache er insgesamt einen sehr durchschnittlichen Eindruck mit einem Gesicht ohne besondere Merkmale; ein Kompliment, das Peter schon oft gehört hatte. Falls er aus irgendeinem Grund nicht in der Lage sein sollte den Auftrag auszuführen, solle er bitte anrufen und Freitagabend um zweiundzwanzig Uhr hier erscheinen. Es sei daher ratsam, die Anzahlung bis dahin nicht auszugeben.
Als Peter im Bus saß, wieder ganz hinten, fühlte er sich zwar etwas mulmig, auch zitterten tatsächlich seine Knie, aber alles in allem schien ihm der ganze Deal sehr vernünftig und fair zu sein. Aus Angst, sie im Bus stehen zu lassen, umklammerte er fest die Tragegriffe der Aldi-Tüten. Plötzlich wusste er, was ihn gestört hatte: Der Wagen hatte ein Hamburger Kennzeichen, Dr. Best sprach Leute in Berlin an und die Tüten waren von Aldi-Süd. Außerdem standen sie im Kofferraum als hätte man sie gerade erst eingeladen. Hamburger Kennzeichen bedeutete nichts, höchstwahrscheinlich ein Mietwagen. Aber Aldi-Süd? War die Organisation etwa aus Süddeutschland oder war es nur eine Ablenkung? Peter schaute aus dem Fenster und schüttelte wie in einem Selbstgespräch unmerklich den Kopf. Diese Überlegungen führten zu nichts.
Zuhause verschloss er entgegen seiner Gewohnheit die Wohnungstür, versteckte das Geld - ohne es nachzuzählen - in einer Schreibtischschublade und breitete den Inhalt der Tüten auf dem zuvor gesäuberten Küchentisch aus. Er wickelte die Waffenteile vorsichtig aus und ordnete sie nebeneinander an. Ganz unten in der Tüte fand er eine Gebrauchsanweisung, ein fusselfreies Leinentuch und als Gratiszugabe ein kleines Fläschchen Waffenöl. Das Gewehr ließ sich problemlos zusammensetzen, das Gewicht war angenehm und es lag gut in der Hand. Zum Justieren des Zielfernrohres hielt sich Peter genau an die Anweisung. Bei der Armee hatte er den Umgang mit einer Maschinenpistole gelernt; er war in der Lage sie zu zerlegen, zu reinigen und kannte sich mit den grundlegenden Funktionen aus. Er konnte sie sichern und entsichern; er wusste, worauf es beim Schießen ankam. Bei Schießübungen hatte er sowohl beim Einzel- als auch beim Dauerfeuer stets eine ruhige Hand bewiesen. Nach wie vor irritierten ihn die Aldi-Süd-Taschen. Ein ehemaliger Arbeitskollege aus München hatte immer die Nase über Aldi-Nord gerümpft und betont, wie viel besser Aldi-Süd sei. Peter konnte dazu nichts sagen. Er prüfte die Festigkeit der Tragetaschen. Da es zwei übereinander gestülpte Taschen waren, konnte nichts passieren. Außerdem wurden Aldi-Tüten gerne von Pennern verwendet und die mussten es ja wissen.
In der Nacht erwachte Peter schweißgebadet. Er war sich jetzt sicher, den Mann niemals erschießen zu können. Ihm wurde schwindelig bei der Vorstellung, mit dem zerlegten Gewehr in der Tasche in den Wald zu fahren, sich ein Versteck zu suchen und mit dem Foto in der Hand - welches er sich absichtlich noch nicht angesehen hatte - auf sein Opfer zu warten, das Gewehr anzulegen und ihm ein Stück Metall in den Schädel zu jagen. Peter schaffte es gerade noch bis ins Bad, wo ihm ein heftiger Krampf den Darm ausquetschte. Währenddessen fiel ihm auf, dass er keinen Schalldämpfer bekommen hatte. Andererseits gab es richtige Dämpfer ohnehin nicht. Das kurze dumpfe, gummiartige Geräusch ist eine reine Filmerfindung. In Wirklichkeit reduziert der Dämpfer den Austrittsschall um einige Dezibel, um bei Einsätzen in Innenräumen das Gehör des Schützen zu schonen. Laut ist es trotzdem. Zumindest hatte es ihr Ausbilder beim Militär so dargestellt. Wieder in der Küche betrachtete Peter die Waffe. Sie bereitete ganz grundsätzliche Probleme: Der nördliche Stadtforst gilt als Freizeit- und Erholungsgebiet, wie soll da ein Mann mit einem Gewehr, sowohl vor, als auch nach der Tat unbemerkt bleiben. Er könnte es erst kurz vor dem Schuss montieren und müsste es anschließend sofort wieder zerlegen. Am liebsten hätte Peter Geld und Gewehr direkt zurückgebracht. Der Gedanke, bis Freitag warten zu müssen, war ihm unerträglich. Entmutigt und zusammengesunken hockte er auf seinem Küchenstuhl und betrachtete das Schlamassel auf seinem Tisch.

Der nördliche Stadtforst war ein langgezogenes, aber nicht sehr breites Waldgebiet unter der ehemaligen Einflugschneise des stillgelegten Flughafens. Im Dickicht hielt sich vereinzelt der Winter, Wege und Wiesen leuchteten in der fernen Märzsonne. Am Morgen hatte Peter sein altes Fahrrad entstaubt und genoss nun die frische Luft, die in der Stadt noch keine Anzeichen von Frühling enthielt, aber hier auf dem holprigen Waldweg wunderbar nach fauligem Holz und Moos duftete. Unter dem Gezwitscher von Amseln und Meisen kämpften sich einige Jogger durch den späten Vormittag. Peter fiel auf, dass sie fast alle in dieselbe Richtung liefen. Auch wenn er manchmal minutenlang ganz allein vor sich hin radelte, blieb der Waldweg unübersichtlich. Es waren zu viele Kurven, hinter denen jederzeit ein neuer Jogger auftauchen konnte. Selbst wenn er seinen Klienten (nach einigen Überlegungen hatte Peter den Begriff Klient für angemessen befunden) unbeobachtet erlegen könnte, bliebe ihm sehr wenig Zeit für den Rückzug. Er müsste sich ja auf eine bestimmte Stelle festlegen, dort das Gewehr herausholen, zusammenbauen, prüfen und warten. Er stellte es sich ungefähr so vor: Weg frei, Schuss/lauter Knall, Klient fällt zu Boden, sein eigener schneller Atem beim Rennen, dann ein markerschütternder Frauenschrei. Sollte der Klient allerdings nicht allein auf dem Weg sein, wäre die Chance für diesen Tag vertan. Er konnte ja schlecht, wie ein Kind beim Indianerspielen, mit dem Gewehr in der Hand ein Stück weiter durch das Dickicht rennen und es erneut versuchen. Peter hatte sich noch immer nicht das Foto angeschaut. Er betrachtete die Männer, die alleine spazieren gingen und überlegte, ob einer von ihnen der Todeskandidat sein könnte. Einige ältere Herren schienen ihm geeignet, obwohl keiner von ihnen besonders lebensmüde wirkte. Beim Verlassen des Waldes fiel sein Blick auf einen alten Wach- oder Wetterturm, der in einiger Entfernung vom Waldrand wie ein verwitterter Monolith auf einer dicht bewachsenen, verwilderten Wiese stand. Ein einziger dünner Trampelpfad war wie eine Zündschnur vom Waldrand zum Turm gelegt. Obwohl der Maschendrahtzaun vor Jahren entfernt worden war, zeichnete sich der Beginn des aufgegebenen Flughafengeländes durch niedrigeren Pflanzenwuchs deutlich ab. Ähnlich wie auf dem ehemaligen Todesstreifen der innerdeutschen Grenze wirkten auch hier die Pestizide im Boden noch Jahre nach. Dem Turm waren Fenster und Tür unsanft entrissen wurden, der Beton an den Öffnungen zeigte Spuren von Spitzhacken und schweren Hämmern. Aus der Türöffnung kam Peter der Geruch von kaltem Mauerwerk entgegen, im Inneren stank es vorrangig nach Pisse und verbranntem Plastik. Sowohl innen, als auch außen war jeder Zentimeter entweder mit Graffiti, meist aber wahllos mit Farbe beschmiert. Die Treppe war offensichtlich beim Stilllegen des Turms professionell entfernt worden, dennoch konnte man mit Hilfe eines rostigen Waschmaschinenkadavers und einiger verkohlter Balken in den oberen Raum gelangen. Dieser zeigte die gleichen Spuren jugendlicher Kraftverschwendung und gedankenloser Farbverteilung wie das Erdgeschoss, nur die Luft war aufgrund der rundherum fehlenden Fenster viel besser. Glassplitter knirschten unter Peters Schuhen. Das war natürlich ein idealer Schießstand, der Waldrand lag gerade in der richtigen Entfernung, um einen Schuss sicher platzieren zu können und das Gelände war nach allen Seiten sehr gut zu überschauen. Andererseits konnte er selbst genauso von allen Seiten gesehen werden und der Weg zurück führte zwangsläufig über freies Gelände. Und würde eine Gruppe Jugendlicher auf den Turm zukommen, hätte er kaum eine Chance, ungesehen zu verschwinden. Möglicherweise würden sie ihn sogar in die Mangel nehmen und sich für den Inhalt seiner Taschen interessieren. Peter hielt sich ungefähr zehn Minuten auf dem Turm auf und beobachtete die Bewegungen in der Umgebung. Heute wäre es gut gegangen. Lediglich zwei Jogger trabten aus dem Wald heraus, hielten sich auf dem Weg an der Waldkante und verschwanden nach etwa zweihundert Metern wieder zwischen den Bäumen. In der entgegenliegenden Richtung tauchte ein Radfahrer auf, der irgendetwas zu suchen schien, dann plötzlich wendete und denselben Weg zurückfuhr. Peter vermied es, zu dicht an die Fensteröffnungen heranzutreten oder sie zu berühren. Er überlegte, wo er schon seine Fingerabdrücke und Fußspuren hinterlassen hatte. Selbst wenn er beim nächsten Mal geschützt wäre, könnten geschickte Kriminaltechniker seinen heutigen Besuch sicher nachweisen. Aber mit dem Problem würde er sich später beschäftigen. Sein Blick scannte immer wieder den Waldrand und die wie Adern daraus hervortretenden Wege. Wie würde sich der Klient wohl bei einem Fehlschuss verhalten? Wahrscheinlich wüsste er beim Knall sofort Bescheid, würde sich aber wundern, warum er nichts spürt und nicht umkippt. Wenn ihm dann klar wird, dass der Killer versagt hat, wird er sich ärgern oder sogar wütend werden. Schließlich hat man ihm einen Profi versprochen. Vielleicht ist er auch total verängstigt, beginnt zu rufen und zu winseln, legt sich auf den Boden oder er hält sich schützend die Arme über den Kopf und springt sofort in den Wald. Hätte Peters Phantasie nicht schon eine ausführliche Wunschliste für die Verwendung der zehntausend Euro angefertigt, er hätte die ganze Sache spätestens an diesem Punkt abgebrochen. Er fühlte sich lust- und mutlos, schließlich kletterte er wieder nach unten. Wie eine Spielzeugfigur mit schwachen Batterien bewegte er sich in der vorgegebenen Furche des Trampelpfades vom Turm weg. Mitten auf freiem Feld, noch gut zwanzig Meter vom Waldrand entfernt, stieß er fast mit zwei Mädchen zusammen, die plötzlich vor ihm standen. Sie hielten kleine bläuliche Blumen in den Händen, offensichtlich waren sie gerade aus der Hocke aufgestanden. Mit großen Augen schauten sie Peter fragend an. Für einen Moment bewegte sich keiner von ihnen. Um es nicht noch schlimmer oder vielmehr verdächtiger zu machen, presste Peter, so cool es ihm möglich war, ein heiseres Hallo hervor und schob sich an den beiden vorbei. Er spürte förmlich ihre Blicke in seinem Rücken. Zum Glück konnten sie den starken Schweißausbruch nicht sehen, der Peter überkam und den er unter Kontrolle zu bekommen versuchte, indem er ruhig atmete und sich ein Bild von den Mädchen ins Gedächtnis rief. Was hatte er in dem kurzen Augenblick von ihnen erfasst und was konnten sie von ihm aufgenommen haben? Sie waren ungefähr gleich groß und mussten zwischen zehn und vierzehn Jahre alt sein, so genau kannte er sich damit nicht aus. Die Eine hatte einen Pferdeschwanz, der unter einer Mütze hervorschaute. Die Farbe der Mütze wusste er nicht mehr, ebenso wenig konnte er irgendeines ihrer Kleidungsstücke beschreiben. Der Riemen einer Schulmappe irrte durch seinen Erinnerungsversuch. Vielleicht hatte er sich die Schulmappen aber auch nur eingebildet, weil sie seiner Meinung nach aus der Schule kommen mussten. Aber um diese Zeit? Vielleicht eine Freistunde. Er musste also mit allem rechnen. Auf dem Rückweg erschien ihm der Turm völlig ungeeignet, die Waldwege aber auch. Als er wieder in Sichtweise der ersten Häuser kam und nach einer Bushaltestelle Ausschau hielt, fiel ihm sein Fahrrad ein, welches er am Waldrand abgestellt hatte, um auf den Turm zuzugehen. Die Mädchen hatten ihn völlig durcheinandergebracht. Verärgert ging er den Weg zurück. Das Fahrrad kam ihm vor wie ein altes Pferd, welches vollkommen emotionslos dort stand, wo er es zurückgelassen hatte und obwohl er es nicht einmal angebunden hatte, war es keinen Zentimeter von der Stelle gewichen. Eigentlich eine sehr sichere Gegend. Er lachte über seinen eigenen Witz. Im Schutze des Waldes schaute Peter erneut zum Turm hinüber. Von den Mädchen fehlte jede Spur; vielleicht saßen sie unten auf der alten Waschmaschine und rauchten. Oder sie standen, genau wie er noch vor einer halben Stunde, in der Mitte des oberen Raums und beobachteten ihn und sein Pferd. Peter stellte sie sich bei einem Polizeiverhör vor, wie sie eine exakte Beschreibung von ihm abgaben.

Am Abend fand er keine Ruhe, die Gedanken fegten kreuz und quer durch seinen Kopf und weigerten sich zu landen. Um sich auf einen konkreten Punkt zu konzentrieren, holte Peter das Foto hervor. Möglicherweise hatte er den Klienten heute ja schon gesehen. Es handelte sich um das Porträt eines ca. sechzigjährigen Mannes, welches ebenso wie Peters Foto aus größerer Entfernung mit einem Teleobjektiv aufgenommen war. Der Mann schaute mit etwas gequältem Blick leicht an der Kamera vorbei. Die Ursache für seinen Gesichtsausdruck war schwer zu bestimmen, möglicherweise pfiff ihm nur der Wind ins Gesicht. Peter war sich sicher, dass dieser Mann heute weder unter den Joggern, noch unter den älteren Spaziergängern gewesen war. Aber er kannte ihn. Es war keine Person aus seinem unmittelbaren Umfeld, kein ehemaliger Arbeitskollege; Peter konnte ihn nicht direkt zuordnen. Er war wie ein Schauspieler, dessen Namen einem nicht geläufig war, den man aber schon in mehreren Filmen gesehen hat, deren Titel man ebenfalls nicht mehr wusste. Peter holte das Geld hervor und stapelte es neben dem Foto auf den Küchentisch. Ein bescheidener Haufen aus Fünfzigeuroscheinen. Zum Glück kein Scheck. So ein einzelner Zettel hätte ihn deprimiert. Sein Blick wechselte in schneller Folge zwischen Bild und Geld, als könnte er dadurch irgendetwas herausfinden. Schließlich ließ er beides auf dem Küchentisch liegen und setzte sich in der Hoffnung auf einen erhellenden Gedanken auf die Toilette. Einer wissenschaftlichen Theorie zufolge hat man dort oft gute Einfälle, weil man mit dem Schließen der Klotür die ganze Welt für eine Weile ausblendet, mit sich selbst ganz allein ist und die relative Gewissheit hat, nicht gestört zu werden. Der Körper entleert sich praktisch von selbst und plötzlich materialisiert sich im Gehirn eine Lösung für ein Problem, an das man gerade eben nicht gedacht hat. Alles, was das Denkorgan für den Geistesblitz brauchte, war ein Moment der Ruhe und Befreiung von dem üblichen Verkehr im Kopf. Bei Peter funktionierte das selbst dann, wenn sein Kopf nicht gerade überlastet war, sondern mehr einer verkehrsberuhigten Zone glich. Während er so auf der Keramik hockte, versuchte Peter die Perspektive seiner Auftraggeber einzunehmen. Was wäre nötig, um einen völlig anonymen Killer zu finden, wie würde er vorgehen, einen mutmaßlich nichtkriminellen Normalbürger fast beiläufig dazu zu bringen, eine so ungeheuerliche Tat wie einen Mord zu begehen? Zunächst müsste man eine moralische Legitimation finden. Man könnte das Töten eines einzelnen Menschen in Beziehung setzen zu den vielen Menschen, die täglich unschuldig sterben, könnte die Größe des Universums und das Alter der Erde mit der kurzen, bedeutungslosen Existenz des Menschen vergleichen. Oder man könnte einfach behaupten, man tue dem Menschen einen Gefallen, es sei sein freier Wille, weil er an einer unheilbaren und ganz und gar furchtbaren Krankheit leide. Peter betätigte die Spülung und ließ Badewasser einlaufen. Er brauchte einen erneuten Wechsel der Perspektive. Das Wasser bedeckte gerademal den Wannengrund, aber Peter wollte nicht länger warten. Er suchte in der alten Kommode nach Badezusatz und fand eine vor einigen Jahren angefangen Flasche mit Melisse-Entspannungsbad von einer Drogeriekette. Ein bis zwei Verschlusskappen wurden empfohlen, das war ihm heute zu wenig. Er kippte drei randvolle Kappen ins Wasser, spülte sie dann unter dem Wasserstrahl aus, setzte sich in die grüne Pfütze und grübelte weiter. Niemand konnte ihm die Story bestätigen, die Dr. Best ihm vor dem Arbeitsamt aufgetischt hatte. Viel wahrscheinlicher war es, dass diese Mafiatypen jemanden aus dem Weg räumen lassen wollen und die Krankheitsgeschichte nur zur Überzeugung des Killers diente. Vielleicht hat auch jemand viel mehr Geld für die Beseitigung des Mannes geboten. Damit könnten sie sich eine ganze Reihe von Killern leisten. Peter bringt den Klienten um und ein weiterer Killer legt Peter um, damit der Auftrag nicht zurückzuverfolgen ist. Vielleicht wissen sie doch mehr über ihn, als sie zugeben. Am Ende muss er das Geld wieder rausrücken und wird noch erpresst. Er muss dann einen Mord nach dem anderen ausführen und ist vollkommen in den Händen der Mafia. Ob es wirklich so einfach war, wieder auszusteigen, wie Best behauptet hatte? Anruf genügte? Peters Gedanken flossen schneller als das Badewasser, lediglich Füße und Hintern waren bedeckt. Immerhin hatte sich ein imposanter Schaumberg gebildet. Woher kannte er den Typen nur? Als die Wanne endlich voll war, regelte er noch ein wenig an der Wassertemperatur herum, in dem er abwechselnd das heiße und kalte Wasser laufen ließ und genoss dann das Knistern der Schaumbläschen in der Stille. Das Melissen-Imitat wirkte, Peter wurde müde und kurz bevor er einzuschlafen drohte, hatte er die Lösung. Er würde den Auftrag nicht zurückgeben, sondern er würde den Klienten zur Rede stellen. Er würde ihn treffen, um aus seinem Munde zu hören, ob er sich wirklich umbringen lassen wollte. Danach könnte er ihn entweder ruhigen Gewissens erschießen oder ihn vor dem nächsten Killer warnen. Zufrieden schloss Peter die Augen und erwachte Stunden später - mit dem Geschmack von grünem Badezusatz im Mund - im lauwarmen Wasser. Der Nachtschlaf war ruhig und tief.
Mit dem Foto in der Jackentasche stand Peter auf dem Wachturm und beobachtete den Waldrand. Die Kronen und Äste der äußeren Baumreihe bewegten sich mäßig im Wind. Die Sonne ließ sich zwar nicht blicken, aber mit ein bisschen gutem Willen konnte man es schon als Frühlingtag durchgehen lassen, zumindest Vorfrühlingstag. Sein Fahrrad hatte er diesmal als Fluchtfahrzeug bis zum Turm mitgenommen. Nach zwei Frauen mit Kinderwagen, vier Joggern und einem Fuchs tauchte endlich sein Klient auf. Der Schreck, der Peter im Moment des Erkennens durchfuhr, machte ihm erneut klar, wie wenig er als Auftragskiller taugte. Er kletterte die schräge Balken-Schrott-Konstruktion hinunter, schwang sich auf sein Rad und fuhr einen größeren Bogen, der in einigem Abstand auf den Weg führte, auf dem sich der Klient bewegte. Obwohl der Untergrund trocken war, kam er auf den Trampelpfaden der zugewachsenen Wiese nur schwer voran. Die Schutzbleche klapperten wie verrückt, die Kappe der Klingel rasselte in einer Tour und die Kettenspannung war alles andere als ideal. Tolles Fluchtfahrzeug. Völlig außer Atem erreichte Peter den Weg. Der Klient war gut hundert Meter entfernt und ging langsam in seine Richtung. Der Mann schritt ruhig vor sich hin und wirkte in seiner hellroten Windjacke wie ein normaler Spaziergänger; nichts deutete darauf hin, dass er auf einen Todesschuss wartete. Sein Blick war meist auf den Boden gerichtet, gelegentlich schaute er über die struppige Wiese zum Wachturm. Peter stieg vom Rad und schob es langsam über den unruhigen Untergrund, ohne dass es aufhörte zu klappern. Er schnaufte schwer, die ungewohnte Anstrengung machte ihm zu schaffen. Inzwischen war auch der Klient auf Peter aufmerksam geworden, zeigte aber weiter keine Reaktion. Zwei Spaziergänger begegneten sich am Waldrand, nichts aufregendes. Peter suchte nach Anzeichen einer Krankheit, aber weder im Gesicht, noch am Gang des Mannes ließ sich aus dieser Entfernung körperlicher oder geistiger Verfall erkennen. Seine Gesichtsfarbe wirkte sogar sehr gesund, vielleicht war es auch Sonnenbankbräune. Als sie nur noch zehn Meter voneinander entfernt waren, blieb der Mann plötzlich stehen und sah Peter direkt an. Offensichtlich hatte er Peter bereits gescannt und sich ein Urteil gebildet. Jemanden beobachten ohne Hinzusehen, eine Technik, die sonst nur Frauen beherrschten. Jetzt konnte ihm Peter direkt in die Augen schauen und die sahen überhaupt nicht entspannt aus. Sie quollen geradezu hervor, ein Auge glotzte Peter an, das andere deutlich an ihm vorbei. Die Gesichtsfarbe war nicht gesund, sondern knallrot, als würde der Kopf jeden Moment explodieren. Die dunkelrote Rübe über der hellroten Windjacke, die ihm jetzt wie ein Zielpunkt vorkam, wirkte geradezu grotesk. Der Mann war ihm vollkommen unbekannt. Die unbestimmte Ähnlichkeit mit einer ihm irgendwie bekannten Person, die sein Gehirn ihm vorgeschlagen hatte, bestand nur auf dem Foto. Sein Mund machte dicke Backen, als sammele er Luft für einen Tauchgang, dann fiel er in sich zusammen, kippte zur Seite und endete verdreht auf dem Grasstreifen am Rande des Weges. Peter stand regungslos vor ihm und hielt sich mit beiden Händen am Lenker seines ebenfalls verstummten Pferdes fest. Von seinem Klienten kam keinerlei Lebenszeichen. Überdeutlich nahm er die Geräusche des Waldes und der Wiese war. Ein Specht hämmerte besinnungslos auf einen Baum ein; Peter bekam schon vom Zuhören Kopfschmerzen und um die wilden Pflanzen am Wegesrand düsten die ersten hektischen Insekten herum. Im Nachhinein schien es Peter ganz logisch, dass der Mann vor ihm zusammengebrochen war. Stell dir vor, du wartest tagelang auf den Schuss, jeder Passant ist ein möglicher Mörder, da ist man doch permanent kurz vor einem Herzinfarkt. Vielleicht hatte er die Killernatur in Peter gesehen, das war dann zu viel gewesen. Im Augenblick des Zusammenbruchs selbst kam es Peter allerdings wie ein schlechter Scherz vor.
Es dauerte ewig, bis der Rettungswagen kam. Peter hatte von seinem eigenen Handy aus angerufen und seinen Namen genannt. Die Zentrale der „Schnellen medizinischen Hilfe“ rief dann noch zweimal zurück, weil die Sanis die Stelle nicht fanden. Peter hatte am Telefon durchblicken lassen, dass am Ableben des Mannes kein Zweifel bestehe. Darauf wollte sich der Typ am Telefon aber nicht einlassen. Er forderte Peter auf, das Handy auf Lautsprecher zu stellen und gab ihm dann konkrete Anweisungen zur Wiederbelebung. Peter kniete sich auf den feuchten Weg, legte dem Mann sein Handy auf die Brust und seine Finger begannen alibimäßig an der Halsschlagader herumzutasten. Und tatsächlich fühlte er einen schwachen Pulsschlag. Auch das noch. Der Brustkorb bewegte sich nicht. Peter führte seine Wange dicht an den Mund des Mannes heran. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er glaubte, einen ganz leichten Atem zu spüren. Peter war unschlüssig. „Kein Atem, kein Puls.“ sagte er in Richtung Handy. Würde sich die Story mit der unheilbaren Krankheit bestätigen, dann war die Einlieferung in ein Krankenhaus genau das, was der Klient vermeiden wollte. Warum musste er auch so schnell zusammenbrechen, ohne Peter den kleinsten Hinweis zu geben! Sein Handy erteilte ihm mit ruhiger und monotoner Stimme weitere Anweisungen. Peter tat auch so, als würde er sie ausführen, öffnete aber lediglich die Jacke des Patienten, damit es später so aussah als ob und zählte gemeinsam mit der Stimme aus dem Lautsprecher den Rhythmus der Herzdruckmassage im Wechsel mit der Mund-zu-Mundbeatmung. Mund-zu-Mundbeatmung! Soweit kam’s noch. Der Typ am Telefon forderte Peter auf, die Maßnahmen bis zum Eintreffen der Rettungskräfte fortzuführen und legte auf. Peter hielt Ausschau nach Joggern und Frauen mit Kinderwagen, aber niemand ließ sich blicken. So wie es sich entwickelte, würde er den Mann wohl im Rettungswagen ins Krankenhaus begleiten, um sich Stunden später von ihm entweder dankbar oder vorwurfsvoll die Hand drücken zu lassen. Sie haben mir das Leben gerettet. Verzwickte Sache! Würden sie den Klienten erst mal verfrachtet haben, gäbe es nach dieser Aktion hier für Peter kaum noch eine Möglichkeit, ihn unauffällig umzulegen. Noch immer war niemand zu sehen. Der knallrote Kopf sprach eigentlich für die Krankheitsvariante. Wie war das mit der Mund-zu-Mundbeatmung? Peter griff mit einer Hand das Kinn, mit zwei Fingern der anderen hielt er dem Mann die Nase zu. Er beugte sich hinunter, bis ihre Gesichter sich fast berührten. Peter betrachtete die geschlossenen Augenlider. Seine Hand löste sich vom Kinn, schob sich auf den Mund und blieb dort liegen.
Das Geräusch des Rettungswagens war schon lange zu hören, bevor sich die weißrote Blechkiste aus dem Wald heraus schob. Die Karre kämpfte mit dem Untergrund und als die Sanitäter endlich ausstiegen, waren sie ziemlich sauer. Kurz bevor sie ankamen, hatte Peter erneut nach dem Puls getastet, aber nichts gefunden. Die Gesichtsmuskeln zeigten keinerlei Spannung mehr und das Blut musste in die unteren Körperbereiche gesackt sein, Stirn und Wangen waren käsig geworden. Der Mann sah eindeutig tot aus. Die Sanis schleppten mehrere Geräte vom Auto zum Kunden und unternahmen lust- und erfolglos einige Wiederbelebungsversuche. Wäre Peter nicht dabei gewesen, hätten sie sich die Mühe wahrscheinlich gespart. Beim Einpacken erwähnten sie beiläufig, dass sie nun die Polizei verständigen werden. Da der Mann bei ihrem Eintreffen schon tot war, könnten sie ihn nicht in den Rettungswagen verladen und einfach mitnehmen, das sei Sache der Polizei. Peter solle doch bitte solange hier warten. Natürlich wäre er am liebsten abgehauen, aber dafür war es zu spät. Immerhin hatte er Namen und Telefonnummer angegeben. Peter glaubte, die Sanis würden sich aus dem Staub machen und ihn mit der Leiche hier sitzen lassen, aber das war wohl gegen die Vorschrift.
Die Polizei fand den Tatort zum Glück wesentlich schneller als die Rettungsheinis. Sie kamen zu zweit mit einem VW-Bus, eine Frau und ein Mann. Peter hatte die ganze Zeit überlegt, ob es ratsam war, den Tod des Mannes genauso zu schildern wie er ihn erlebt hatte oder ob er ihn vielleicht einfach nur leblos gefunden hatte. Die Sanis hatten inzwischen umrissen, dass sie mit ihrem Wagen nicht an dem Polizei-Bus vorbeikamen und in der Falle saßen. Sie erkundigten sich bei Peter, wohin der Weg führte. Eine gefährliche Frage, denn wenn er sich hier gar nicht auskannte, was hatte er dann hier zu suchen? Seine Wohnung lag nicht gerade um die Ecke. Er sagte, der Weg führe weiter hinten in eine Kleingartenkolonie, aber wahrscheinlich komme der RTW da nicht durch. Das klang plausibel und sollten sie es doch versuchen und einen Ausweg finden, wären sie sicher nicht nachtragend. Der Beamte telefonierte, die Beamtin setzte sich mit Peter in den VW-Bus, um den Papierkram zu erledigen. Alles ganz routiniert. Peter beantwortete ruhig und gewissenhaft die Fragen. Bei einer kleinen Radtour hatte er den leblosen Körper am Wegesrand entdeckt. Berufliche Tätigkeit: arbeitslos. Das passte auch zur Radtour am späten Vormittag. Am wichtigsten war der Polizistin der Bericht der Sanis, damit ließ sich ein Großteil der offenen Fragen abhaken. Leider war keiner von ihnen Arzt, weshalb der Tod des Mannes nur vorläufig feststand. Immer wieder sah Peter zum Wachturm hinüber und war sich sicher, von dort beobachtet zu werden. Der Doktor, der Typ, der die Fotos gemacht hatte oder die beiden Mädchen? Am Ende bemerkte die Polizistin, dass er sehr gefasst wirke. Peter glaubte einen leicht vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme zu hören. „Wahrscheinlich stehe ich unter Schock.“ schlug Peter vor. Das hatte er sich nicht gut überlegt, denn jetzt mussten die Sanis nochmal ran und ihm in die Augen leuchten. Sie empfahlen ihm, das Fahrrad stehenzulassen oder zu schieben, mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu fahren und sich dort auszuruhen. Er versprach, es genauso zu machen, warf einen letzten Blick auf seinen mit einer weißen Plane abgedeckten Klienten und machte sich auf den Heimweg.
Zuhause stürmte er direkt ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Er nahm zwei der Tabletten, die ihm die Sanis gegeben hatten und legte sich ins Meer. Den Melissen-Zusatz goss er diesmal erst später dazu, der Schaum war ihm doch etwas zu viel gewesen. Dafür nahm er diesmal vier Verschlusskappen. Nach dem Bad wickelte er die Teile des Jagdgewehrs wieder in die Knallfolie, verstaute sie in den Aldi-Tüten und setzte eine sms ab. Auftrag ausgeführt. Bin morgen früh zehn Uhr am selben Ort. Die Antwort kam prompt. Warten auf Bestätigung. Morgen zweiundzwanzig Uhr. Selber Ort. Danke.
Die Nacht und der Morgen waren furchtbar verlaufen. Peter hatte vier Biere zum Einschlafen gebraucht, war nach nur zwei Stunden schweißgebadet und frierend aufgewacht und hatte trotz dieses Flüssigkeitsverlusts ständig pinkeln müssen. Um fünf war er dann endgültig aufgestanden, hatte sich rasiert, geduscht und gefrühstückt. Wenigstens der Appetit war ihm geblieben. Es wurde ein Tag, der einfach nur vorbei sein sollte. Er überstand ihn ohne Kaffee aber mit viel Tee und wenig fester Nahrung. Beim letzten Tageslicht verließ er das Haus. Da er noch drei Stunden totschlagen musste, ignorierte er die Bushaltestelle und ging den ganzen Weg zu Fuß. Zehn vor zweiundzwanzig stand er mit seinen Aldi-Tüten in Sichtweise des stockdunklen Arbeitsamtes und rechnete damit, jeden Moment eine Kugel in den Kopf geschossen zu bekommen. Warum sonst hatten sie ihn in der Dunkelheit an diesen verlassenen Ort bestellt? Er malte sich den Polizeibericht aus: Männliche Leiche, um die Fünfzig. Todesursache: Kopfschuss. Natürlicher Tod: Strich. Aufgefundene Gegenstände: Schlüsselbund und Kleingeld. Auffälligkeiten: In der rechten Hand befanden sich abgerissene Tragegriffe zweier Einkaufstüten. Spätere Ermittlungen würden sicher die Herkunft der Plastiktüten aufdecken. Der Vergleich mit der Akte vom Arbeitsamt würde enthüllen, dass er keine Reise ins ALDI-SÜD-Gebiet angemeldet hatte. Wahrscheinlich würden sie ihm posthum das Arbeitslosengeld kürzen.
Dr. Best erschien pünktlich und trug immer noch den Regenmantel. Vielleicht war es eine Art Markenzeichen. Als wäre es bereits Routine, gingen sie in Richtung der Wohnsiedlung. An einer unübersichtlichen Stelle, außer Sichtweite der Hauptstraße, blinkte ein blauer VW-Golf mit Münchner Kennzeichen kurz auf, ohne, dass der Doktor eine zusätzliche Bewegung gemacht hätte. Verdammt cooler Hund. Er streckte wortlos die Hand aus und Peter reichte ihm ebenso wortlos die ALDI-Tüten. Nach so vielen Jahren der Zusammenarbeit kannte man sich in und auswendig. Die Tüten verschwanden ungeprüft im Kofferraum, der Doktor setzte sich hinter das Steuer, wodurch Peter automatisch der Beifahrersitz zufiel. Um nicht zu defensiv zu wirken, begann Peter die Unterhaltung. „Das Gewehr ist unbenutzt, es wäre zu auffällig gewesen, ich habe es anders gelöst, unauffälliger.“ Die Worte hatte Peter sich den Tag über zurechtgelegt und nun klangen sie auch ganz gut. Zum ersten Mal lächelte der Doktor und Peter fiel sogleich ein Stein vom Herzen. Der Doktor erwähnte den Polizeibericht, den er im Auftrag seiner Organisation besorgt hatte und übermittelte Peter deren Dank. Man sei sehr zufrieden. Peter erhielt einen dicken braunen Umschlag, den er nicht öffnete; er wollte nicht unhöflich und unnötig misstrauisch wirken. Peter holte das Foto des Unbekannten und das Handy aus seiner Jackentasche und legte beides in die mittlere Ablage. Der Doktor steckte das Foto weg und schlug Peter vor, das Telefon zu behalten. Natürlich nur wenn er wolle. Peter war froh, den Einsatz so glimpflich überstanden zu haben und wollte alle damit verbundenen Gegenstände loswerden. Deshalb war er von sich selber überrascht, als er das Handy nahm und zurück in die Jackentasche schob. Nun gab es nichts mehr zu sagen, ihr einziges gemeinsames Thema war erschöpft und beide hielten small talk für überflüssig. Sie verabschiedeten sich, Peter verließ das Auto und wanderte erleichtert die unbeleuchtete Straße hinunter. Den Umschlag behielt er in der Hand, er fühlte sich gut an. Er ging vorbei am schlafenden Arbeitsamt und musste an die Berater denken, die ihn stets mit Fragebögen und Gesprächsterminen überhäuften, ihm aber noch nie einen Job vermittelt hatten. Man musste sich eben selber kümmern. Peter hatte nicht vor, auf den Nachtbus zu warten. Erleichtert und den Umständen entsprechend gut gelaunt schlenderte er am Rand der sechsspurigen Straße entlang. An der nächtlichen Kreuzung zweier großer Hauptstraßen bot sich ihm ein verrücktes, vollkommen inszeniert wirkendes Bild dar. Die Ampeln spielten sinnlos ihre Phasen durch, keine Fahrzeug weit und breit. Ein Radweg war frisch markiert, aber die Markierung nicht ganz gelungen, jedenfalls zog sich ein großer weißer Farbstreifen in Schlangenlinien über die Haltelinie hinweg auf die Kreuzung hinaus, wo er als großer leuchtender Fleck endete. Wilde Muster weißer Auto- und Fußspuren traten nach allen Seiten aus ihm hervor. In hundert Metern Entfernung ragten die gelben Lichter einer Shell-Tankstelle in den Himmel. Das Abfahrtssignal einer S-Bahn wehte herüber, dann fuhr der Zug an und beschleunigte. Peter schaute von einer der Ecken über die Kreuzung. An den drei anderen Ecken standen ebenfalls Männer. Jeder von ihnen stand sehr aufrecht neben einem orangen Müllbehälter in dem der rechte Arm bis zur Schulter verschwand. Und jeder der drei hielt in der linken Hand eine Plastiktüte. Zweimal Aldi, einmal Lidl.
 

Languedoc

Mitglied
Hallo Brunn,

Schwarzhumorige Story mit einigen phantasieanregenden Fragezeichen für den Leser,

fast durchgehend souveräner Schreibstil mit Sogwirkung,

aber bitte, bitte: mehr Absätze im Text! - schlicht dem Leserauge zuliebe, aber auch, um den Pointen und Brüchen mit optischen Mitteln besser zur Geltung zu verhelfen.

Liebe Grüße auf die Schnelle

Languedoc
 

Brunn

Mitglied
DER SCHÜTZE

Peter war pleite und nach dem gerade beendeten Gespräch würde sich daran demnächst nichts ändern. Gleichmütig verließ er das Arbeitsamt und versuchte den Blickkontakt mit zwei am Eingang herumlungernden Typen zu vermeiden. Aus dem Augenwinkel sah er sie übertrieben grinsen und mit billig kopierten Flyern herumwedeln. Peter war vollkommen klar, warum sie ihre Jobs außerhalb der Behörde anboten. Meist handelte es sich um kostenpflichtige Schulungen, in denen man lernte, den Leuten sinnlose Strom- und Versicherungsverträge aufzuschwatzen. „Schönen guten Tag, schauen Sie sich bitte mal unser Angebot an.“ Fast eine Aufforderung, nicht schlecht; sie knüpften direkt an den Ton im Arbeitsamt an. Peter schüttelte den Kopf und beschleunigte seinen Gang, musterte im Vorbeigehen die beiden Typen. Mit schwarzen Anzügen und modischen Vertreterkrawatten unter übergroßen Mänteln versuchten sie krampfhaft seriös zu wirken; ihre Lackschuhe standen halb auf dem knirschenden Streukies und halb im verdreckten, fast weggetauten Restschnee. Kaum hatte Peter die Zettelwinker hinter sich gelassen, wurde er plötzlich von der Seite von einem großen älteren Mann angesprochen, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Peter war so verblüff, dass er spontan stehen blieb. Junge Leute ließ Peter gerade noch durchgehen, die brauchen immer ein paar Euro und müssen lernen, was es heißt, Geld zu verdienen. Alte Menschen in diesen Hilfsjobs zu sehen, machte ihn dagegen traurig. Allerdings wirkte dieser Mann nicht besonders hilfsbedürftig. Er trug einen eleganten kapuzenlosen Regenmantel mit Lederkragen, hatte seitlich über den Kopf gekämmte weißgraue Haare, dichte graue Augenbrauen und sehr gleichmäßige weiße Zähne. Falls sich noch jemand an Dr. Best erinnert, dann hat er ein recht genaues Bild des Mannes. Seine Worte waren sorgfältig gewählt, kurz und präzise legte er sein unmissverständliches Angebot dar. Er arbeite im Auftrag einer Organisation, die sterbenskranken Menschen hilft, würdevoll aus dem Leben zu scheiden. Es handele sich um Menschen, die sich gegen lebensverlängernde Maßnahmen entschieden haben, deren Tod unausweichlich sei und die daher zwangsläufig mit dem Leben abgeschlossen haben. Es blieben ihnen nur Schmerzmittel; der komplette Verlust von körperlicher und geistiger Kraft stehe unmittelbar bevor. Die Fahrt in ein Sterbehospiz in der Schweiz sei ihnen zu aufwendig; die ausführliche und langwierige Todesvollstreckung mache ihnen Angst. Selbstauslöschung komme für sie aus unterschiedlichen Gründen nicht infrage; sie wollen kurz und schmerzlos aus dem Leben scheiden. Irgendjemand muss das nun erledigen. Daher spreche er Menschen an, die er nicht kenne, die ihn nicht kennen, die die Kunden nicht kennen, die also vollkommen anonym diesen Job gegen Bezahlung erledigen könnten. Er empfahl Peter, sich das Angebot zu überlegen, eine Nacht darüber zu schlafen, gründlich die moralischen und finanziellen Aspekte abzuwägen und im Falle einer Zustimmung ihn morgen gegen zehn Uhr an derselben Stelle zu treffen. Der Mann trug seine Sätze so selbstverständlich und emotionslos vor wie ein Notar ein gerade geöffnetes Testament. Als Zeichen, dass das Gespräch beendet war, nickte er kurz und freundlich. Peter hatte sich den Vortrag vollkommen reaktionslos angehört nur bei der Passage mit dem Sterbehospiz war ihm ein verständnisvolles Brummen entwichen, ein Brummen wie er es gerade vor zehn Minuten von sich gegeben hatte, als seine Sachbearbeiterin ihn über seine Pflichten belehrt hatte. Trotz dieser kleinen Parallele fühlte er sich dem älteren Mann gegenüber weniger ausgeliefert als der Dame im Amt. Peter schaute dem Doktor in die Augen, nickte ebenfalls und setzte seinen Weg in Richtung Bushaltestelle fort. Nach wenigen Schritten drehte er sich um, aber Dr. Best schaute ihm nicht nach, ebenso wenig sprach er weitere Kandidaten an. Er schlenderte langsam auf der Mitte des Fußweges in der entgegengesetzten Richtung davon und sah aus wie ein Rentner, dessen Hund irgendwo in der Näher herumtobte.

Die Bushaltestelle lag schräg gegenüber vom Arbeitsamt auf der anderen Seite einer lauten sechsspurigen Straße. Normalerweise wäre Peter brav bis zu nächsten Ampel vorgegangen und dann auf der Gegenseite den Weg zur Haltestelle zurückgewandert. Doch plötzlich hatte er keine Lust dazu. Vielleicht gab ihm das seltsame Gespräch oder vielmehr der Vortrag des Mannes einen kleinen waghalsigen Kick, jedenfalls überquerte er todesmutig und ohne übertriebene Eile den Highway-to-hell auf direktem Weg.
Während er auf den Bus wartete, wunderte er sich, wie wenig skandalös ihm das Angebot vorkam. Natürlich zog er es nicht in Betracht. Er tötete weder Fliegen noch Mäuse und niemals würde er sich anmaßen, das Leben eines Menschen zu beenden. Im weitesten Sinne sah er sich als Pazifist.
Der Bus war fast leer, Peter konnte sich ganz nach hinten setzen und den Innenraum überblicken, wie er es als Kind immer gern getan hatte. Noch einmal schaute er aus dem winterverdreckten Fenster in Richtung Amt, aber der Blick war durch die Silhouette einer liegenden nackten Frau auf dem Werbebanner des Busses der Gegenrichtung verdeckt. Über dem Slogan eines Flatrate-Bordells drückten sich Schulkinder an die Scheiben und glotzten zu ihm herüber. Wer weiß, was auf seinem Bus geschrieben stand. Als die Puff-Kampagne aus dem Bild rollte, war Doktor Best nicht mehr zu sehen, an der Stelle wurde bereits ein anders Stück aufgeführt: Ein junges türkischen Paar stand sich gegenüber. Sie klammerte sich mit gesenktem Kopf an ihre weiße Kunstlederhandtasche und schluchzte herzerweichend, während er gestenreich auf sie einredete. Die Türen rumsten zu, der Bus fuhr ab und Peter sah gerade noch, wie sich die beiden an die Hand nahmen und eilig auf das graue Amtsgebäude zugingen, als hätte man ihre Wartenummer gerade aufgerufen. Nachdem sie außer Sicht waren, wanderte sein Blick zu den Hinterköpfen der wenigen Fahrgäste. Wieviel musste man wohl hinlegen für so einen Gnadenschuss? Der Bus beschleunigte und schaffte mehrere Kreuzungen in einer grünen Welle. Peter rutschte etwas dichter an die Scheibe heran, damit er im Falle einer Vollbremsung nicht durch den Mittelgang geschleudert werden würde. Während er so durchgeschüttelt wurde, fragte Peter sich, warum er eigentlich von einem Schuss ausging. Vielleicht würde er ja auch eine Portion Gift bekommen und hätte die Aufgabe, es dem Kunden unauffällig in seinen Kaffee zu kippen, sagen wir bei Mc Donalds. Der Bus stoppte vor einer Schule und wurde von schätzungsweise hundert Schulklassen geflutet. Nach sechs- oder siebenstündigem hochintensivem Lernen ließen sie ihren Stimmen nun freien Lauf. Peter freute sich für die Kids, konnte allerdings nicht weiter über seinen Fall nachdenken.

Zuhause machte er sich einen Kaffee und setzte sich zum Grübeln an den Küchentisch, doch schon bald war ihm der zähe Gedankenfluss zuwider. Er wechselte ins Wohnzimmer und versuchte es mit dem Fernseher. Das Mittagsprogramm war vollkommen auf Arbeitslose wie ihn zugeschnitten. Erfolglos versuchte sich Peter in Claudia hineinzuversetzen, die in der Berufsschule immer wegen ihrer großen Brüste geärgert wurde. Sie hatte sich angewöhnt, sich hinzusetzen, die Brüste mit beiden Händen zu packen und auf die Tischplatte zu legen. Darüber lachten dann alle. Peter nippte an seinem Kaffee. Seine Tasse hatte einen Rand auf dem Couchtisch hinterlassen, den er erst mit einem Finger verwischte und schließlich mit einem Papiertaschentuch wegpolierte. Wahrscheinlich würde man Gift im Kaffee herausschmecken. Außerdem gab es überall Videoüberwachungen, da würde man den Mord und den Mörder erkennen. Mord. Das Wort wirkte brutal und beängstigend. Claudia demonstrierte gerade wie sie ihr Brüste auf den Tisch legte und Peter schaltete den Fernseher aus. Er schüttelte sich heftig, als wolle er diese ganzen verrückten Gedanken loswerden.

Am Abend setze er sich erneut vor die Glotze, konnte sich aber nicht auf das Programm konzentrieren. Er trank zwei alkoholfreie Biere und ging ins Bett. Wie würde er sich denn verhalten, wenn sein Tod unausweichlich und qualvoll bevorstände? Oder wenn er sich mit HIV infiziert hätte und es keiner wissen sollte? Am besten wäre wohl ein Motorradunfall. Selbstverständlich dürften keine anderen Personen zu Schaden kommen. Mit etwas Pech, denn ganz so entschlossen ist man ja dann wahrscheinlich doch nicht, reißt man den Lenker in letzter Sekunde herum und landet zermatscht aber lebendig im Krankenhaus. Wenn er es sich recht überlegte, war ein unerwarteter Kopfschuss aus einiger Entfernung gar keine schlechte Lösung. Je mehr er darüber nachdachte, desto schlüssiger erschien ihm ein präzises Gewehr mit Zielfernrohr als Tatwaffe. Er sah sich schon wie Leon der Profi auf einem Hochhausdach liegen und auf lebensmüde Jogger im Centralpark schießen. Vielleicht hätte er ja auch einen Lehrling vom Format der jungen Natalie Portman dabei. In Erwartung unruhiger Träume schloss er die Augen.

Peter erschien pünktlich um zehn Uhr vor dem Arbeitsamt. Wenn er den Job annähme, wozu er keinesfalls entschlossen war, dann wollte er von Anfang an als zuverlässig gelten. Dr. Best trug denselben dunklen Regenmantel wie am Vortag und begrüßte Peter freundlich. Sie entfernten sich vom Eingang der Behörde und gingen auf den Parkplatz eines lange nicht sanierten Plattenbaugebietes zu. Peter hatte sich ein wenig Agentenfilm-Feeling erhofft, aber der regengraue Tag und die trostlose Wohnarchitektur ließen keine vergleichbare Stimmung aufkommen. Der Ablaufplan, den der Mann schilderte, entsprach recht genau Peters Vorstellungen. Er erhielt ein Prepaid-Handy, indem eine einzige Nummer eines anderen Prepaid-Handys gespeichert war, die einzige Kontaktmöglichkeit zwischen ihm und Best. Sollte Peter anrufen wollen, solle er sich mit „Schütze“ melden. Dann gingen sie zu einem blauen Ford Focus mit Hamburger Kennzeichen, in dessen aufgeräumtem, sorgfältig gesaugten Kofferraum zwei ineinandergesteckte Aldi-Tüten standen. In den Tüten befanden sich in Knallfolie gewickelte Einzelteile eines Jagdgewehres und eine kleine Schachtel mit Munition. Irgendetwas störte Peter an den Tüten, er konnte aber nicht sagen, was es war. Dr. Best begann mit der Einweisung. Der Kunde wünsche sich den Tod innerhalb eines bestimmten Zeitfensters. Er wolle nicht genau wissen, wann es geschieht, aber sicher gehen, am Ende der Woche nicht mehr zu leben. In einem Umschlag aus braunem Umweltpapier befand sich ein Foto. Außerdem waren mit dem Kunden tägliche Spaziergänge zur Mittagszeit im nördlichen Stadtforstgebiet ausgemacht worden. Die Anzahlung betrug fünftausend Euro, nach ausgeführtem Auftrag gäbe es noch einmal dieselbe Summe. Ohne jede Drohgebärde hielt der Doktor Peter ein Foto unter die Nase, welches ihn vor dem Arbeitsamt zeigte und offensichtlich gestern mit einem Teleobjektiv geschossen wurde. Mit etwas in dieser Art hatte Peter gerechnet, irgendwie mussten die sich ja absichern. Er nickte verständnisvoll und nun stellte sich doch noch ein kleines Agentenfilm-Feeling ein, wenn auch ein beängstigendes. Darüber hinaus, das betonte der Doktor, hätten sie keine Informationen über Peter gesammelt. Sie kannten weder seinen Namen noch seine Adresse und wollten es auch nicht wissen. Peter fragte nach den Auswahlkriterien, denn wie er beobachtet hatte, war er die einzige Person gewesen, die recht gezielt angesprochen worden war. Der Dentist berichtete knapp von seinem Aufgabenbereich, demzufolge er auch nur ein Mittelsmann war, der eben genau für diese Fähigkeit geschätzt wurde, nämlich die richtigen Menschen für den richtigen Job auszusuchen. Peter schien im geeignet, da er ihn für einen Mann hielt, der gerade einen beruflichen Tiefpunkt erlebe, aber nicht entmutigt aussehe, der körperlich und mental in der Lage sei, einen ungewöhnlichen Auftrag auszuführen und der vor allem zuverlässig wirke. Außerdem mache er insgesamt einen sehr durchschnittlichen Eindruck mit einem Gesicht ohne besondere Merkmale; ein Kompliment, das Peter schon oft gehört hatte. Falls er aus irgendeinem Grund nicht in der Lage sein sollte den Auftrag auszuführen, solle er bitte anrufen und Freitagabend um zweiundzwanzig Uhr hier erscheinen. Es sei daher ratsam, die Anzahlung bis dahin nicht auszugeben.

Als Peter im Bus saß, wieder ganz hinten, fühlte er sich zwar etwas mulmig, auch zitterten tatsächlich seine Knie, aber alles in allem schien ihm der ganze Deal sehr vernünftig und fair zu sein. Aus Angst, sie im Bus stehen zu lassen, umklammerte er fest die Tragegriffe der Aldi-Tüten. Plötzlich wusste er, was ihn gestört hatte: Der Wagen hatte ein Hamburger Kennzeichen, Dr. Best sprach Leute in Berlin an und die Tüten waren von Aldi-Süd. Außerdem standen sie im Kofferraum als hätte man sie gerade erst eingeladen. Hamburger Kennzeichen bedeutete nichts, höchstwahrscheinlich ein Mietwagen. Aber Aldi-Süd? War die Organisation etwa aus Süddeutschland oder war es nur eine Ablenkung? Peter schaute aus dem Fenster und schüttelte wie in einem Selbstgespräch unmerklich den Kopf. Diese Überlegungen führten zu nichts.

Zuhause verschloss er entgegen seiner Gewohnheit die Wohnungstür, versteckte das Geld - ohne es nachzuzählen - in einer Schreibtischschublade und breitete den Inhalt der Tüten auf dem zuvor gesäuberten Küchentisch aus. Er wickelte die Waffenteile vorsichtig aus und ordnete sie nebeneinander an. Ganz unten in der Tüte fand er eine Gebrauchsanweisung, ein fusselfreies Leinentuch und als Gratiszugabe ein kleines Fläschchen Waffenöl. Das Gewehr ließ sich problemlos zusammensetzen, das Gewicht war angenehm und es lag gut in der Hand. Zum Justieren des Zielfernrohres hielt sich Peter genau an die Anweisung. Bei der Armee hatte er den Umgang mit einer Maschinenpistole gelernt; er war in der Lage sie zu zerlegen, zu reinigen und kannte sich mit den grundlegenden Funktionen aus. Er konnte sie sichern und entsichern; er wusste, worauf es beim Schießen ankam. Bei Schießübungen hatte er sowohl beim Einzel- als auch beim Dauerfeuer stets eine ruhige Hand bewiesen. Nach wie vor irritierten ihn die Aldi-Süd-Taschen. Ein ehemaliger Arbeitskollege aus München hatte immer die Nase über Aldi-Nord gerümpft und betont, wie viel besser Aldi-Süd sei. Peter konnte dazu nichts sagen. Er prüfte die Festigkeit der Tragetaschen. Da es zwei übereinander gestülpte Taschen waren, konnte nichts passieren. Außerdem wurden Aldi-Tüten gerne von Pennern verwendet und die mussten es ja wissen.
In der Nacht erwachte Peter schweißgebadet. Er war sich jetzt sicher, den Mann niemals erschießen zu können. Ihm wurde schwindelig bei der Vorstellung, mit dem zerlegten Gewehr in der Tasche in den Wald zu fahren, sich ein Versteck zu suchen und mit dem Foto in der Hand - welches er sich absichtlich noch nicht angesehen hatte - auf sein Opfer zu warten, das Gewehr anzulegen und ihm ein Stück Metall in den Schädel zu jagen. Peter schaffte es gerade noch bis ins Bad, wo ihm ein heftiger Krampf den Darm ausquetschte. Währenddessen fiel ihm auf, dass er keinen Schalldämpfer bekommen hatte. Andererseits gab es richtige Dämpfer ohnehin nicht. Das kurze dumpfe, gummiartige Geräusch ist eine reine Filmerfindung. In Wirklichkeit reduziert der Dämpfer den Austrittsschall um einige Dezibel, um bei Einsätzen in Innenräumen das Gehör des Schützen zu schonen. Laut ist es trotzdem. Zumindest hatte es ihr Ausbilder beim Militär so dargestellt. Wieder in der Küche betrachtete Peter die Waffe. Sie bereitete ganz grundsätzliche Probleme: Der nördliche Stadtforst gilt als Freizeit- und Erholungsgebiet, wie soll da ein Mann mit einem Gewehr, sowohl vor, als auch nach der Tat unbemerkt bleiben. Er könnte es erst kurz vor dem Schuss montieren und müsste es anschließend sofort wieder zerlegen. Am liebsten hätte Peter Geld und Gewehr direkt zurückgebracht. Der Gedanke, bis Freitag warten zu müssen, war ihm unerträglich. Entmutigt und zusammengesunken hockte er auf seinem Küchenstuhl und betrachtete das Schlamassel auf seinem Tisch.

Der nördliche Stadtforst war ein langgezogenes, aber nicht sehr breites Waldgebiet unter der ehemaligen Einflugschneise des stillgelegten Flughafens. Im Dickicht hielt sich vereinzelt der Winter, Wege und Wiesen leuchteten in der fernen Märzsonne. Am Morgen hatte Peter sein altes Fahrrad entstaubt und genoss nun die frische Luft, die in der Stadt noch keine Anzeichen von Frühling enthielt, aber hier auf dem holprigen Waldweg wunderbar nach fauligem Holz und Moos duftete. Unter dem Gezwitscher von Amseln und Meisen kämpften sich einige Jogger durch den späten Vormittag. Peter fiel auf, dass sie fast alle in dieselbe Richtung liefen. Auch wenn er manchmal minutenlang ganz allein vor sich hin radelte, blieb der Waldweg unübersichtlich. Es waren zu viele Kurven, hinter denen jederzeit ein neuer Jogger auftauchen konnte. Selbst wenn er seinen Klienten (nach einigen Überlegungen hatte Peter den Begriff Klient für angemessen befunden) unbeobachtet erlegen könnte, bliebe ihm sehr wenig Zeit für den Rückzug. Er müsste sich ja auf eine bestimmte Stelle festlegen, dort das Gewehr herausholen, zusammenbauen, prüfen und warten. Er stellte es sich ungefähr so vor: Weg frei, Schuss/lauter Knall, Klient fällt zu Boden, sein eigener schneller Atem beim Rennen, dann ein markerschütternder Frauenschrei. Sollte der Klient allerdings nicht allein auf dem Weg sein, wäre die Chance für diesen Tag vertan. Er konnte ja schlecht, wie ein Kind beim Indianerspielen, mit dem Gewehr in der Hand ein Stück weiter durch das Dickicht rennen und es erneut versuchen. Peter hatte sich noch immer nicht das Foto angeschaut. Er betrachtete die Männer, die alleine spazieren gingen und überlegte, ob einer von ihnen der Todeskandidat sein könnte. Einige ältere Herren schienen ihm geeignet, obwohl keiner von ihnen besonders lebensmüde wirkte. Beim Verlassen des Waldes fiel sein Blick auf einen alten Wach- oder Wetterturm, der in einiger Entfernung vom Waldrand wie ein verwitterter Monolith auf einer dicht bewachsenen, verwilderten Wiese stand. Ein einziger dünner Trampelpfad war wie eine Zündschnur vom Waldrand zum Turm gelegt. Obwohl der Maschendrahtzaun vor Jahren entfernt worden war, zeichnete sich der Beginn des aufgegebenen Flughafengeländes durch niedrigeren Pflanzenwuchs deutlich ab. Ähnlich wie auf dem ehemaligen Todesstreifen der innerdeutschen Grenze wirkten auch hier die Pestizide im Boden noch Jahre nach. Dem Turm waren Fenster und Tür unsanft entrissen wurden, der Beton an den Öffnungen zeigte Spuren von Spitzhacken und schweren Hämmern. Aus der Türöffnung kam Peter der Geruch von kaltem Mauerwerk entgegen, im Inneren stank es vorrangig nach Pisse und verbranntem Plastik. Sowohl innen, als auch außen war jeder Zentimeter entweder mit Graffiti, meist aber wahllos mit Farbe beschmiert. Die Treppe war offensichtlich beim Stilllegen des Turms professionell entfernt worden, dennoch konnte man mit Hilfe eines rostigen Waschmaschinenkadavers und einiger verkohlter Balken in den oberen Raum gelangen. Dieser zeigte die gleichen Spuren jugendlicher Kraftverschwendung und gedankenloser Farbverteilung wie das Erdgeschoss, nur die Luft war aufgrund der rundherum fehlenden Fenster viel besser. Glassplitter knirschten unter Peters Schuhen. Das war natürlich ein idealer Schießstand, der Waldrand lag gerade in der richtigen Entfernung, um einen Schuss sicher platzieren zu können und das Gelände war nach allen Seiten sehr gut zu überschauen. Andererseits konnte er selbst genauso von allen Seiten gesehen werden und der Weg zurück führte zwangsläufig über freies Gelände. Und würde eine Gruppe Jugendlicher auf den Turm zukommen, hätte er kaum eine Chance, ungesehen zu verschwinden. Möglicherweise würden sie ihn sogar in die Mangel nehmen und sich für den Inhalt seiner Taschen interessieren. Peter hielt sich ungefähr zehn Minuten auf dem Turm auf und beobachtete die Bewegungen in der Umgebung. Heute wäre es gut gegangen. Lediglich zwei Jogger trabten aus dem Wald heraus, hielten sich auf dem Weg an der Waldkante und verschwanden nach etwa zweihundert Metern wieder zwischen den Bäumen. In der entgegenliegenden Richtung tauchte ein Radfahrer auf, der irgendetwas zu suchen schien, dann plötzlich wendete und denselben Weg zurückfuhr. Peter vermied es, zu dicht an die Fensteröffnungen heranzutreten oder sie zu berühren. Er überlegte, wo er schon seine Fingerabdrücke und Fußspuren hinterlassen hatte. Selbst wenn er beim nächsten Mal geschützt wäre, könnten geschickte Kriminaltechniker seinen heutigen Besuch sicher nachweisen. Aber mit dem Problem würde er sich später beschäftigen. Sein Blick scannte immer wieder den Waldrand und die wie Adern daraus hervortretenden Wege. Wie würde sich der Klient wohl bei einem Fehlschuss verhalten? Wahrscheinlich wüsste er beim Knall sofort Bescheid, würde sich aber wundern, warum er nichts spürt und nicht umkippt. Wenn ihm dann klar wird, dass der Killer versagt hat, wird er sich ärgern oder sogar wütend werden. Schließlich hat man ihm einen Profi versprochen. Vielleicht ist er auch total verängstigt, beginnt zu rufen und zu winseln, legt sich auf den Boden oder er hält sich schützend die Arme über den Kopf und springt sofort in den Wald. Hätte Peters Phantasie nicht schon eine ausführliche Wunschliste für die Verwendung der zehntausend Euro angefertigt, er hätte die ganze Sache spätestens an diesem Punkt abgebrochen. Er fühlte sich lust- und mutlos, schließlich kletterte er wieder nach unten. Wie eine Spielzeugfigur mit schwachen Batterien bewegte er sich in der vorgegebenen Furche des Trampelpfades vom Turm weg. Mitten auf freiem Feld, noch gut zwanzig Meter vom Waldrand entfernt, stieß er fast mit zwei Mädchen zusammen, die plötzlich vor ihm standen. Sie hielten kleine bläuliche Blumen in den Händen, offensichtlich waren sie gerade aus der Hocke aufgestanden. Mit großen Augen schauten sie Peter fragend an. Für einen Moment bewegte sich keiner von ihnen. Um es nicht noch schlimmer oder vielmehr verdächtiger zu machen, presste Peter, so cool es ihm möglich war, ein heiseres Hallo hervor und schob sich an den beiden vorbei. Er spürte förmlich ihre Blicke in seinem Rücken. Zum Glück konnten sie den starken Schweißausbruch nicht sehen, der Peter überkam und den er unter Kontrolle zu bekommen versuchte, indem er ruhig atmete und sich ein Bild von den Mädchen ins Gedächtnis rief. Was hatte er in dem kurzen Augenblick von ihnen erfasst und was konnten sie von ihm aufgenommen haben? Sie waren ungefähr gleich groß und mussten zwischen zehn und vierzehn Jahre alt sein, so genau kannte er sich damit nicht aus. Die Eine hatte einen Pferdeschwanz, der unter einer Mütze hervorschaute. Die Farbe der Mütze wusste er nicht mehr, ebenso wenig konnte er irgendeines ihrer Kleidungsstücke beschreiben. Der Riemen einer Schulmappe irrte durch seinen Erinnerungsversuch. Vielleicht hatte er sich die Schulmappen aber auch nur eingebildet, weil sie seiner Meinung nach aus der Schule kommen mussten. Aber um diese Zeit? Vielleicht eine Freistunde. Er musste also mit allem rechnen. Auf dem Rückweg erschien ihm der Turm völlig ungeeignet, die Waldwege aber auch. Als er wieder in Sichtweise der ersten Häuser kam und nach einer Bushaltestelle Ausschau hielt, fiel ihm sein Fahrrad ein, welches er am Waldrand abgestellt hatte, um auf den Turm zuzugehen. Die Mädchen hatten ihn völlig durcheinandergebracht. Verärgert ging er den Weg zurück. Das Fahrrad kam ihm vor wie ein altes Pferd, welches vollkommen emotionslos dort stand, wo er es zurückgelassen hatte und obwohl er es nicht einmal angebunden hatte, war es keinen Zentimeter von der Stelle gewichen. Eigentlich eine sehr sichere Gegend. Er lachte über seinen eigenen Witz. Im Schutze des Waldes schaute Peter erneut zum Turm hinüber. Von den Mädchen fehlte jede Spur; vielleicht saßen sie unten auf der alten Waschmaschine und rauchten. Oder sie standen, genau wie er noch vor einer halben Stunde, in der Mitte des oberen Raums und beobachteten ihn und sein Pferd. Peter stellte sie sich bei einem Polizeiverhör vor, wie sie eine exakte Beschreibung von ihm abgaben.

Am Abend fand er keine Ruhe, die Gedanken fegten kreuz und quer durch seinen Kopf und weigerten sich zu landen. Um sich auf einen konkreten Punkt zu konzentrieren, holte Peter das Foto hervor. Möglicherweise hatte er den Klienten heute ja schon gesehen. Es handelte sich um das Porträt eines ca. sechzigjährigen Mannes, welches ebenso wie Peters Foto aus größerer Entfernung mit einem Teleobjektiv aufgenommen war. Der Mann schaute mit etwas gequältem Blick leicht an der Kamera vorbei. Die Ursache für seinen Gesichtsausdruck war schwer zu bestimmen, möglicherweise pfiff ihm nur der Wind ins Gesicht. Peter war sich sicher, dass dieser Mann heute weder unter den Joggern, noch unter den älteren Spaziergängern gewesen war. Aber er kannte ihn. Es war keine Person aus seinem unmittelbaren Umfeld, kein ehemaliger Arbeitskollege; Peter konnte ihn nicht direkt zuordnen. Er war wie ein Schauspieler, dessen Namen einem nicht geläufig war, den man aber schon in mehreren Filmen gesehen hat, deren Titel man ebenfalls nicht mehr wusste. Peter holte das Geld hervor und stapelte es neben dem Foto auf den Küchentisch. Ein bescheidener Haufen aus Fünfzigeuroscheinen. Zum Glück kein Scheck. So ein einzelner Zettel hätte ihn deprimiert. Sein Blick wechselte in schneller Folge zwischen Bild und Geld, als könnte er dadurch irgendetwas herausfinden. Schließlich ließ er beides auf dem Küchentisch liegen und setzte sich in der Hoffnung auf einen erhellenden Gedanken auf die Toilette. Einer wissenschaftlichen Theorie zufolge hat man dort oft gute Einfälle, weil man mit dem Schließen der Klotür die ganze Welt für eine Weile ausblendet, mit sich selbst ganz allein ist und die relative Gewissheit hat, nicht gestört zu werden. Der Körper entleert sich praktisch von selbst und plötzlich materialisiert sich im Gehirn eine Lösung für ein Problem, an das man gerade eben nicht gedacht hat. Alles, was das Denkorgan für den Geistesblitz brauchte, war ein Moment der Ruhe und Befreiung von dem üblichen Verkehr im Kopf. Bei Peter funktionierte das selbst dann, wenn sein Kopf nicht gerade überlastet war, sondern mehr einer verkehrsberuhigten Zone glich. Während er so auf der Keramik hockte, versuchte Peter die Perspektive seiner Auftraggeber einzunehmen. Was wäre nötig, um einen völlig anonymen Killer zu finden, wie würde er vorgehen, einen mutmaßlich nichtkriminellen Normalbürger fast beiläufig dazu zu bringen, eine so ungeheuerliche Tat wie einen Mord zu begehen? Zunächst müsste man eine moralische Legitimation finden. Man könnte das Töten eines einzelnen Menschen in Beziehung setzen zu den vielen Menschen, die täglich unschuldig sterben, könnte die Größe des Universums und das Alter der Erde mit der kurzen, bedeutungslosen Existenz des Menschen vergleichen. Oder man könnte einfach behaupten, man tue dem Menschen einen Gefallen, es sei sein freier Wille, weil er an einer unheilbaren und ganz und gar furchtbaren Krankheit leide. Peter betätigte die Spülung und ließ Badewasser einlaufen. Er brauchte einen erneuten Wechsel der Perspektive. Das Wasser bedeckte gerademal den Wannengrund, aber Peter wollte nicht länger warten. Er suchte in der alten Kommode nach Badezusatz und fand eine vor einigen Jahren angefangen Flasche mit Melisse-Entspannungsbad von einer Drogeriekette. Ein bis zwei Verschlusskappen wurden empfohlen, das war ihm heute zu wenig. Er kippte drei randvolle Kappen ins Wasser, spülte sie dann unter dem Wasserstrahl aus, setzte sich in die grüne Pfütze und grübelte weiter. Niemand konnte ihm die Story bestätigen, die Dr. Best ihm vor dem Arbeitsamt aufgetischt hatte. Viel wahrscheinlicher war es, dass diese Mafiatypen jemanden aus dem Weg räumen lassen wollen und die Krankheitsgeschichte nur zur Überzeugung des Killers diente. Vielleicht hat auch jemand viel mehr Geld für die Beseitigung des Mannes geboten. Damit könnten sie sich eine ganze Reihe von Killern leisten. Peter bringt den Klienten um und ein weiterer Killer legt Peter um, damit der Auftrag nicht zurückzuverfolgen ist. Vielleicht wissen sie doch mehr über ihn, als sie zugeben. Am Ende muss er das Geld wieder rausrücken und wird noch erpresst. Er muss dann einen Mord nach dem anderen ausführen und ist vollkommen in den Händen der Mafia. Ob es wirklich so einfach war, wieder auszusteigen, wie Best behauptet hatte? Anruf genügte? Peters Gedanken flossen schneller als das Badewasser, lediglich Füße und Hintern waren bedeckt. Immerhin hatte sich ein imposanter Schaumberg gebildet. Woher kannte er den Typen nur? Als die Wanne endlich voll war, regelte er noch ein wenig an der Wassertemperatur herum, in dem er abwechselnd das heiße und kalte Wasser laufen ließ und genoss dann das Knistern der Schaumbläschen in der Stille. Das Melissen-Imitat wirkte, Peter wurde müde und kurz bevor er einzuschlafen drohte, hatte er die Lösung. Er würde den Auftrag nicht zurückgeben, sondern er würde den Klienten zur Rede stellen. Er würde ihn treffen, um aus seinem Munde zu hören, ob er sich wirklich umbringen lassen wollte. Danach könnte er ihn entweder ruhigen Gewissens erschießen oder ihn vor dem nächsten Killer warnen. Zufrieden schloss Peter die Augen und erwachte Stunden später - mit dem Geschmack von grünem Badezusatz im Mund - im lauwarmen Wasser. Der Nachtschlaf war ruhig und tief.

Mit dem Foto in der Jackentasche stand Peter auf dem Wachturm und beobachtete den Waldrand. Die Kronen und Äste der äußeren Baumreihe bewegten sich mäßig im Wind. Die Sonne ließ sich zwar nicht blicken, aber mit ein bisschen gutem Willen konnte man es schon als Frühlingtag durchgehen lassen, zumindest Vorfrühlingstag. Sein Fahrrad hatte er diesmal als Fluchtfahrzeug bis zum Turm mitgenommen. Nach zwei Frauen mit Kinderwagen, vier Joggern und einem Fuchs tauchte endlich sein Klient auf. Der Schreck, der Peter im Moment des Erkennens durchfuhr, machte ihm erneut klar, wie wenig er als Auftragskiller taugte. Er kletterte die schräge Balken-Schrott-Konstruktion hinunter, schwang sich auf sein Rad und fuhr einen größeren Bogen, der in einigem Abstand auf den Weg führte, auf dem sich der Klient bewegte. Obwohl der Untergrund trocken war, kam er auf den Trampelpfaden der zugewachsenen Wiese nur schwer voran. Die Schutzbleche klapperten wie verrückt, die Kappe der Klingel rasselte in einer Tour und die Kettenspannung war alles andere als ideal. Tolles Fluchtfahrzeug. Völlig außer Atem erreichte Peter den Weg. Der Klient war gut hundert Meter entfernt und ging langsam in seine Richtung. Der Mann schritt ruhig vor sich hin und wirkte in seiner hellroten Windjacke wie ein normaler Spaziergänger; nichts deutete darauf hin, dass er auf einen Todesschuss wartete. Sein Blick war meist auf den Boden gerichtet, gelegentlich schaute er über die struppige Wiese zum Wachturm. Peter stieg vom Rad und schob es langsam über den unruhigen Untergrund, ohne dass es aufhörte zu klappern. Er schnaufte schwer, die ungewohnte Anstrengung machte ihm zu schaffen. Inzwischen war auch der Klient auf Peter aufmerksam geworden, zeigte aber weiter keine Reaktion. Zwei Spaziergänger begegneten sich am Waldrand, nichts aufregendes. Peter suchte nach Anzeichen einer Krankheit, aber weder im Gesicht, noch am Gang des Mannes ließ sich aus dieser Entfernung körperlicher oder geistiger Verfall erkennen. Seine Gesichtsfarbe wirkte sogar sehr gesund, vielleicht war es auch Sonnenbankbräune. Als sie nur noch zehn Meter voneinander entfernt waren, blieb der Mann plötzlich stehen und sah Peter direkt an. Offensichtlich hatte er Peter bereits gescannt und sich ein Urteil gebildet. Jemanden beobachten ohne Hinzusehen, eine Technik, die sonst nur Frauen beherrschten. Jetzt konnte ihm Peter direkt in die Augen schauen und die sahen überhaupt nicht entspannt aus. Sie quollen geradezu hervor, ein Auge glotzte Peter an, das andere deutlich an ihm vorbei. Die Gesichtsfarbe war nicht gesund, sondern knallrot, als würde der Kopf jeden Moment explodieren. Die dunkelrote Rübe über der hellroten Windjacke, die ihm jetzt wie ein Zielpunkt vorkam, wirkte geradezu grotesk. Der Mann war ihm vollkommen unbekannt. Die unbestimmte Ähnlichkeit mit einer ihm irgendwie bekannten Person, die sein Gehirn ihm vorgeschlagen hatte, bestand nur auf dem Foto. Sein Mund machte dicke Backen, als sammele er Luft für einen Tauchgang, dann fiel er in sich zusammen, kippte zur Seite und endete verdreht auf dem Grasstreifen am Rande des Weges. Peter stand regungslos vor ihm und hielt sich mit beiden Händen am Lenker seines ebenfalls verstummten Pferdes fest. Von seinem Klienten kam keinerlei Lebenszeichen. Überdeutlich nahm er die Geräusche des Waldes und der Wiese war. Ein Specht hämmerte besinnungslos auf einen Baum ein; Peter bekam schon vom Zuhören Kopfschmerzen und um die wilden Pflanzen am Wegesrand düsten die ersten hektischen Insekten herum. Im Nachhinein schien es Peter ganz logisch, dass der Mann vor ihm zusammengebrochen war. Stell dir vor, du wartest tagelang auf den Schuss, jeder Passant ist ein möglicher Mörder, da ist man doch permanent kurz vor einem Herzinfarkt. Vielleicht hatte er die Killernatur in Peter gesehen, das war dann zu viel gewesen. Im Augenblick des Zusammenbruchs selbst kam es Peter allerdings wie ein schlechter Scherz vor.

Es dauerte ewig, bis der Rettungswagen kam. Peter hatte von seinem eigenen Handy aus angerufen und seinen Namen genannt. Die Zentrale der „Schnellen medizinischen Hilfe“ rief dann noch zweimal zurück, weil die Sanis die Stelle nicht fanden. Peter hatte am Telefon durchblicken lassen, dass am Ableben des Mannes kein Zweifel bestehe. Darauf wollte sich der Typ am Telefon aber nicht einlassen. Er forderte Peter auf, das Handy auf Lautsprecher zu stellen und gab ihm dann konkrete Anweisungen zur Wiederbelebung. Peter kniete sich auf den feuchten Weg, legte dem Mann sein Handy auf die Brust und seine Finger begannen alibimäßig an der Halsschlagader herumzutasten. Und tatsächlich fühlte er einen schwachen Pulsschlag. Auch das noch. Der Brustkorb bewegte sich nicht. Peter führte seine Wange dicht an den Mund des Mannes heran. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber er glaubte, einen ganz leichten Atem zu spüren. Peter war unschlüssig. „Kein Atem, kein Puls.“ sagte er in Richtung Handy. Würde sich die Story mit der unheilbaren Krankheit bestätigen, dann war die Einlieferung in ein Krankenhaus genau das, was der Klient vermeiden wollte. Warum musste er auch so schnell zusammenbrechen, ohne Peter den kleinsten Hinweis zu geben! Sein Handy erteilte ihm mit ruhiger und monotoner Stimme weitere Anweisungen. Peter tat auch so, als würde er sie ausführen, öffnete aber lediglich die Jacke des Patienten, damit es später so aussah als ob und zählte gemeinsam mit der Stimme aus dem Lautsprecher den Rhythmus der Herzdruckmassage im Wechsel mit der Mund-zu-Mundbeatmung. Mund-zu-Mundbeatmung! Soweit kam’s noch. Der Typ am Telefon forderte Peter auf, die Maßnahmen bis zum Eintreffen der Rettungskräfte fortzuführen und legte auf. Peter hielt Ausschau nach Joggern und Frauen mit Kinderwagen, aber niemand ließ sich blicken. So wie es sich entwickelte, würde er den Mann wohl im Rettungswagen ins Krankenhaus begleiten, um sich Stunden später von ihm entweder dankbar oder vorwurfsvoll die Hand drücken zu lassen. Sie haben mir das Leben gerettet. Verzwickte Sache! Würden sie den Klienten erst mal verfrachtet haben, gäbe es nach dieser Aktion hier für Peter kaum noch eine Möglichkeit, ihn unauffällig umzulegen. Noch immer war niemand zu sehen. Der knallrote Kopf sprach eigentlich für die Krankheitsvariante. Wie war das mit der Mund-zu-Mundbeatmung? Peter griff mit einer Hand das Kinn, mit zwei Fingern der anderen hielt er dem Mann die Nase zu. Er beugte sich hinunter, bis ihre Gesichter sich fast berührten. Peter betrachtete die geschlossenen Augenlider. Seine Hand löste sich vom Kinn, schob sich auf den Mund und blieb dort liegen.
Das Geräusch des Rettungswagens war schon lange zu hören, bevor sich die weißrote Blechkiste aus dem Wald heraus schob. Die Karre kämpfte mit dem Untergrund und als die Sanitäter endlich ausstiegen, waren sie ziemlich sauer. Kurz bevor sie ankamen, hatte Peter erneut nach dem Puls getastet, aber nichts gefunden. Die Gesichtsmuskeln zeigten keinerlei Spannung mehr und das Blut musste in die unteren Körperbereiche gesackt sein, Stirn und Wangen waren käsig geworden. Der Mann sah eindeutig tot aus. Die Sanis schleppten mehrere Geräte vom Auto zum Kunden und unternahmen lust- und erfolglos einige Wiederbelebungsversuche. Wäre Peter nicht dabei gewesen, hätten sie sich die Mühe wahrscheinlich gespart. Beim Einpacken erwähnten sie beiläufig, dass sie nun die Polizei verständigen werden. Da der Mann bei ihrem Eintreffen schon tot war, könnten sie ihn nicht in den Rettungswagen verladen und einfach mitnehmen, das sei Sache der Polizei. Peter solle doch bitte solange hier warten. Natürlich wäre er am liebsten abgehauen, aber dafür war es zu spät. Immerhin hatte er Namen und Telefonnummer angegeben. Peter glaubte, die Sanis würden sich aus dem Staub machen und ihn mit der Leiche hier sitzen lassen, aber das war wohl gegen die Vorschrift.

Die Polizei fand den Tatort zum Glück wesentlich schneller als die Rettungsheinis. Sie kamen zu zweit mit einem VW-Bus, eine Frau und ein Mann. Peter hatte die ganze Zeit überlegt, ob es ratsam war, den Tod des Mannes genauso zu schildern wie er ihn erlebt hatte oder ob er ihn vielleicht einfach nur leblos gefunden hatte. Die Sanis hatten inzwischen umrissen, dass sie mit ihrem Wagen nicht an dem Polizei-Bus vorbeikamen und in der Falle saßen. Sie erkundigten sich bei Peter, wohin der Weg führte. Eine gefährliche Frage, denn wenn er sich hier gar nicht auskannte, was hatte er dann hier zu suchen? Seine Wohnung lag nicht gerade um die Ecke. Er sagte, der Weg führe weiter hinten in eine Kleingartenkolonie, aber wahrscheinlich komme der RTW da nicht durch. Das klang plausibel und sollten sie es doch versuchen und einen Ausweg finden, wären sie sicher nicht nachtragend. Der Beamte telefonierte, die Beamtin setzte sich mit Peter in den VW-Bus, um den Papierkram zu erledigen. Alles ganz routiniert. Peter beantwortete ruhig und gewissenhaft die Fragen. Bei einer kleinen Radtour hatte er den leblosen Körper am Wegesrand entdeckt. Berufliche Tätigkeit: arbeitslos. Das passte auch zur Radtour am späten Vormittag. Am wichtigsten war der Polizistin der Bericht der Sanis, damit ließ sich ein Großteil der offenen Fragen abhaken. Leider war keiner von ihnen Arzt, weshalb der Tod des Mannes nur vorläufig feststand. Immer wieder sah Peter zum Wachturm hinüber und war sich sicher, von dort beobachtet zu werden. Der Doktor, der Typ, der die Fotos gemacht hatte oder die beiden Mädchen? Am Ende bemerkte die Polizistin, dass er sehr gefasst wirke. Peter glaubte einen leicht vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme zu hören. „Wahrscheinlich stehe ich unter Schock.“ schlug Peter vor. Das hatte er sich nicht gut überlegt, denn jetzt mussten die Sanis nochmal ran und ihm in die Augen leuchten. Sie empfahlen ihm, das Fahrrad stehenzulassen oder zu schieben, mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu fahren und sich dort auszuruhen. Er versprach, es genauso zu machen, warf einen letzten Blick auf seinen mit einer weißen Plane abgedeckten Klienten und machte sich auf den Heimweg.
Zuhause stürmte er direkt ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Er nahm zwei der Tabletten, die ihm die Sanis gegeben hatten und legte sich ins Meer. Den Melissen-Zusatz goss er diesmal erst später dazu, der Schaum war ihm doch etwas zu viel gewesen. Dafür nahm er diesmal vier Verschlusskappen. Nach dem Bad wickelte er die Teile des Jagdgewehrs wieder in die Knallfolie, verstaute sie in den Aldi-Tüten und setzte eine sms ab. Auftrag ausgeführt. Bin morgen früh zehn Uhr am selben Ort. Die Antwort kam prompt. Warten auf Bestätigung. Morgen zweiundzwanzig Uhr. Selber Ort. Danke.

Die Nacht und der Morgen waren furchtbar verlaufen. Peter hatte vier Biere zum Einschlafen gebraucht, war nach nur zwei Stunden schweißgebadet und frierend aufgewacht und hatte trotz dieses Flüssigkeitsverlusts ständig pinkeln müssen. Um fünf war er dann endgültig aufgestanden, hatte sich rasiert, geduscht und gefrühstückt. Wenigstens der Appetit war ihm geblieben. Es wurde ein Tag, der einfach nur vorbei sein sollte. Er überstand ihn ohne Kaffee aber mit viel Tee und wenig fester Nahrung. Beim letzten Tageslicht verließ er das Haus. Da er noch drei Stunden totschlagen musste, ignorierte er die Bushaltestelle und ging den ganzen Weg zu Fuß. Zehn vor zweiundzwanzig stand er mit seinen Aldi-Tüten in Sichtweise des stockdunklen Arbeitsamtes und rechnete damit, jeden Moment eine Kugel in den Kopf geschossen zu bekommen. Warum sonst hatten sie ihn in der Dunkelheit an diesen verlassenen Ort bestellt? Er malte sich den Polizeibericht aus: Männliche Leiche, um die Fünfzig. Todesursache: Kopfschuss. Natürlicher Tod: Strich. Aufgefundene Gegenstände: Schlüsselbund und Kleingeld. Auffälligkeiten: In der rechten Hand befanden sich abgerissene Tragegriffe zweier Einkaufstüten. Spätere Ermittlungen würden sicher die Herkunft der Plastiktüten aufdecken. Der Vergleich mit der Akte vom Arbeitsamt würde enthüllen, dass er keine Reise ins ALDI-SÜD-Gebiet angemeldet hatte. Wahrscheinlich würden sie ihm posthum das Arbeitslosengeld kürzen.

Dr. Best erschien pünktlich und trug immer noch den Regenmantel. Vielleicht war es eine Art Markenzeichen. Als wäre es bereits Routine, gingen sie in Richtung der Wohnsiedlung. An einer unübersichtlichen Stelle, außer Sichtweite der Hauptstraße, blinkte ein blauer VW-Golf mit Münchner Kennzeichen kurz auf, ohne, dass der Doktor eine zusätzliche Bewegung gemacht hätte. Verdammt cooler Hund. Er streckte wortlos die Hand aus und Peter reichte ihm ebenso wortlos die ALDI-Tüten. Nach so vielen Jahren der Zusammenarbeit kannte man sich in und auswendig. Die Tüten verschwanden ungeprüft im Kofferraum, der Doktor setzte sich hinter das Steuer, wodurch Peter automatisch der Beifahrersitz zufiel. Um nicht zu defensiv zu wirken, begann Peter die Unterhaltung. „Das Gewehr ist unbenutzt, es wäre zu auffällig gewesen, ich habe es anders gelöst, unauffälliger.“ Die Worte hatte Peter sich den Tag über zurechtgelegt und nun klangen sie auch ganz gut. Zum ersten Mal lächelte der Doktor und Peter fiel sogleich ein Stein vom Herzen. Der Doktor erwähnte den Polizeibericht, den er im Auftrag seiner Organisation besorgt hatte und übermittelte Peter deren Dank. Man sei sehr zufrieden. Peter erhielt einen dicken braunen Umschlag, den er nicht öffnete; er wollte nicht unhöflich und unnötig misstrauisch wirken. Peter holte das Foto des Unbekannten und das Handy aus seiner Jackentasche und legte beides in die mittlere Ablage. Der Doktor steckte das Foto weg und schlug Peter vor, das Telefon zu behalten. Natürlich nur wenn er wolle. Peter war froh, den Einsatz so glimpflich überstanden zu haben und wollte alle damit verbundenen Gegenstände loswerden. Deshalb war er von sich selber überrascht, als er das Handy nahm und zurück in die Jackentasche schob. Nun gab es nichts mehr zu sagen, ihr einziges gemeinsames Thema war erschöpft und beide hielten small talk für überflüssig. Sie verabschiedeten sich, Peter verließ das Auto und wanderte erleichtert die unbeleuchtete Straße hinunter. Den Umschlag behielt er in der Hand, er fühlte sich gut an. Er ging vorbei am schlafenden Arbeitsamt und musste an die Berater denken, die ihn stets mit Fragebögen und Gesprächsterminen überhäuften, ihm aber noch nie einen Job vermittelt hatten. Man musste sich eben selber kümmern. Peter hatte nicht vor, auf den Nachtbus zu warten. Erleichtert und den Umständen entsprechend gut gelaunt schlenderte er am Rand der sechsspurigen Straße entlang. An der nächtlichen Kreuzung zweier großer Hauptstraßen bot sich ihm ein verrücktes, vollkommen inszeniert wirkendes Bild dar. Die Ampeln spielten sinnlos ihre Phasen durch, keine Fahrzeug weit und breit. Ein Radweg war frisch markiert, aber die Markierung nicht ganz gelungen, jedenfalls zog sich ein großer weißer Farbstreifen in Schlangenlinien über die Haltelinie hinweg auf die Kreuzung hinaus, wo er als großer leuchtender Fleck endete. Wilde Muster weißer Auto- und Fußspuren traten nach allen Seiten aus ihm hervor. In hundert Metern Entfernung ragten die gelben Lichter einer Shell-Tankstelle in den Himmel. Das Abfahrtssignal einer S-Bahn wehte herüber, dann fuhr der Zug an und beschleunigte. Peter schaute von einer der Ecken über die Kreuzung. An den drei anderen Ecken standen ebenfalls Männer. Jeder von ihnen stand sehr aufrecht neben einem orangen Müllbehälter in dem der rechte Arm bis zur Schulter verschwand. Und jeder der drei hielt in der linken Hand eine Plastiktüte. Zweimal Aldi, einmal Lidl.
 



 
Oben Unten