verschlossen 2

Nougat

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Der Ruf kam, unerwartet, plötzlich, traf das Organ in meiner linken Brust, ein Volltreffer, millimetergenau in die Mitte.
Ein lauter Ruf, denn eine ganze Stadt rief, eine Stadt die ich die deine nenne, die die deine ist, für mich. Ich folgte ihm.

Auf dem Bahnstieg roch es nach Zigaretten, nach Urin, nach Erdbeerkaugummi und deinem Haar. Ich war da.
Ich spürte die Euphorie längst vergangener Tage, als wäre genau heute ein vergangener Tag, diese irrsinnige aber auch hoffnungsvolle Vorstellung, dass sich ein vergangener Tag in die Gegenwart verirren könnte.

Der Weg der zu dir führt warf sich vor meine Füsse mit all seinen Kostbarkeiten, den kleinen Details,den 1287 Schritten bis zu deiner Haustür (ich liebte jeden dieser Schritte), der abgebrochene Randstein beispielsweise, die regenbogenfarbene Friedensfahne an einem Fenstersims mit acht Reissnägel befestigt, zwei davon in blau, oder die Hausecke die mysteriöserweise immer nass war, gelbnass. Nicht zu vergessen der Holunderstrauch dem ich, wann immer er grün war, ein Blatt stahl und es während dem Gehen auseinander riss, in ganz kleine Stücke und sie streute wie Hänsel und Gretel im Wald ohne aber von jemandem gefunden werden zu wollen. Es war Glück. Dieser Weg, für mich.
Dieses Mal entriss ich dem Holunder nichts, übersah mindestens die Hälfte der Kleinode, sah dafür jedoch dein Haus schon bevor ich es sehen konnte.
Mein Herz schlug so laut, dass ich es als Kirchenglocke hätte verkaufen können. Je näher ich deinem Haus kam, je mehr bewegte ich mich als ginge ich auf Stelzen aus Gummi.

Ich hörte es. Dein Haus rief. Mit deiner Stimme. Meine Stelzen begannen zu schmelzen, ich blieb bei jedem Schritt einen Moment auf dem Asphalt kleben. Dann war ich da. Ganz. Ganz angekommen. In deiner Stadt bei deinem Haus. Bei dir. Beinahe.
Dein Fenster war erleuchtet und stand offen, ich klebte genau darunter und hätte den Kopf in den Nacken legen müssen um hochsehen zu können. Ich zögerte. Stille. Abrupt. Die Stadt war verstummt, dein Haus, deine Stimme. Ich ging, ohne Stelzen, schnell und sicher und kraftlos.
Das Fenster stand offen. Die Tür war verschlossen. Du hattest nicht gerufen. Es war mein Herz, das nach mir rief.
 



 
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