für Ole ...
das fiel mir auch noch dazu ein ...
Fremder Blick im Bahnhof
„ ... kalter Wind streicht durch mein Haar, als ich am kalten Bahnsteig stehe und auf meinen Zug nach "Irgendwo" warte. Mein Blick fällt auf ein Geschöpf des Himmels, das Herz beginnt zu schlagen, im gleichen Rhythmus erklingt das Rattern des einfahrenden Zuges. Langsam kommt der Zug zum Stehen, meinen Blick kann ich kaum abwenden von den Augen dieses Mannes aus der weiten Ferne. Ein einziges Wort nur will ich ihm zuflüstern, und meine Liebe, meine Treue, meine Hoffnung ihm gestehen. Doch da erklingt das schallende Geräusch des Bahnhofslautsprechers, welcher die Abfahrt des Zuges bekannt gibt. Seine Augen leuchten ein letztes mal in meine Richtung, in der Hoffnung: er wird mich wiedersehen ...“
Nikita klappte das Buch zu. Sein Haar wurde vom aufkommenden Wind zerzaust, um sich dann wild durcheinander wieder niederzulegen. Es rahmte ein weißes, müde aussehendes Gesicht ein, welches durch eine Narbe über dem rechten Augen an Interesse gewann. Seine Augen konnte kaum jemand beschreiben, niemals wagte sich einer, diese Augen näher zu betrachten. Zu viel Respekt flößte die stattliche Figur des Einzelgängers ein. Doch gab es eine Beschreibung für solche Augen, die sehen konnten wie ein Adler und die Farbe des Himmels bei Nacht hatten.
Leise nahm er sich eine Zigarette aus der Schachtel und legte das Buch auf den Tisch. Er dachte nach. Seine Stirn legte er in Falten und betrachtete die Zigarette in seiner Hand. Der Blick glitt vom Filter zu seinen Fingern, er erkannte, dass er schon alt geworden war. Der junge Haudegen war er schon lange nicht mehr. Die kleinen braunen Flecken machten sich breit auf seiner Haut.
Die Tür der Stube öffnete sich und eine Frau trat herein. Ihr Blick fiel auf das Buch und der Schrecken zeichnete sich in ihrem jungen Gesicht ab. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und versuchte, ihre Tränen zu verbergen. Doch leise bildeten sich die Salztropfen in ihren blauen Augen.
„Setzt dich, Anuschka.“, sprach Nikita und seine Stimme ließ das Mädchen erbeben. Zitternd und ängstlich kam sie zwei Schritte in die Stube hinein, nahm auf den Schemel Platz und wagte keinen Blick zu heben.
„Hast du das geschrieben?“, wollte Nikita wissen. Anuschka nickte nur. Zu sehr war ihr der Schrecken in die Glieder gefahren, als Nikita ihr Tagebuch fand.
Der Mann nickte und steckte sich nun die Zigarette an, zog den ersten Rauch tief ein und hustete ihn sogleich heraus.
„Du weißt, dass das verboten ist.“, brummte der alte Mann. Wiederum nickte Anuschka nur. Sie wusste, dass sie etwas verbotenes tat, doch viel schlimmer war, dass Nikita nun wusste, dass sie lesen und schreiben konnte. Das konnte bedeuten, dass sie nicht mehr zur Gemeinschaft gehören würde. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und begann zu sprechen:
„Es tut mir leid. Ich wollte es nicht, doch mein Inneres war stärker. Ich konnte mich nicht dagegen wehren.“ Und dabei schaute sie in Nikitas Augen.
„Du bist das Mädchen auf dem Bahnhof?“, fragte er und schaute auf das Tagebuch, welches sich in einem alten ledernen Umschlag befand.
„Ja.“, stotterte Anuschka und konnte kaum den Blick von diesen Augen wenden.
„Ich schenke dir die Freiheit.“, sagte Nikita nach einigen Sekunden, in denen er sich an seine Vergangenheit als junger Mann erinnerte. Anuschka konnte kaum verstehen, sie durfte gehen? In die Stadt, zu den Menschen? Was hatte Nikita umgestimmt, dass er das Gesetz zu ihrem Vorteil änderte, sie wusste es nicht und doch hatte sie auch Angst. Was wird kommen in der großen Stadt? Wird sie den jungen Mann finden? Wo wird sie ihn finden?
„Ich danke dir, Nikita.“, flüsterte Anuschka ehrfürchtig und beugte sich immer wieder vor dem Altem nieder.
„Schon gut, Anuschka. Geh’ bevor ich es mir anders überlege.“, sagte er und gab zu verstehen, dass sie gehen sollte. Sein Herz brach in diesem Augenblick, er musste sie ziehen lassen. Seine Anuschka musste er gehen lassen. Sie hatte sich entschieden. Er wollte sie nicht quälen. Nein, zu lange hatte sie nur von ihm geträumt. Von seiner Jugend und von seiner Liebe.
Nachdem Anuschka die Stube verlassen hatte, schaute Nikita aus dem Fenster, wehmütig betrachtete er die Wolken, wie sie an ihm vorüber zogen. Es wurde Herbst für ihn, die Kraft ließ nach. Wenn der Winter in seinen Körper Einzug hielt, würde er gehen, schweigend gehen. Sein Platz würde ein junger, kräftiger Mann einnehmen. Er dachte an den Bahnhof, wo er einst seine Anuschka fand ...
Als die Salzperle seine Lippen berührte, schlug sein Herz das letzte mal und Anuschka stand am Bahnhof und wartete auf den ankommenden Zug aus „Irgendwo“ ...
Reneè Hawk ©2001
Liebe Grüße
Reneè