Das Kind aus Holz

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Das Kind aus Holz

Vorbei, alles ist vorbei. Kerzenschein, Christbaumkugeln, süße Teller, Päckchen mit bunten Schleifen, alles ist vorbei. Karpfen mit Meerrettichsahne – schärfer hätte sie sein können – zerlassene Butter, das Rotkohlkochen für den ersten Feiertag, er soll schließlich schon mulchig werden, alles ist vorbei. Aber er hätte sich wirklich nicht vollaufen lassen müssen.
Dass es immer so endete – traurig eigentlich. Aber sie war ja allem rechtzeitig entkommen, sie musste die letzte Bahn nehmen, jeder wusste es, deshalb konnte sie gehen, viel leichter diesmal, nun ohne alle Geschenke, nur Annis kleinen Glaswürfel hielt sie in Ehren, ein niedliches Gesicht eingeschmolzen in klares Glas, verewigte Jugend, das war ein überraschendes Geschenk, den ganzes Abend drehte sie den Würfel in ihren Händen, konnte sich nicht satt sehen an dem lachenden jungen Mädchen, nein, der jungen Frau musste sie wohl sagen, wie von einem Zauberer in Eis gebannt. Den wird sie unter die Leselampe auf dem kleinen Tischstellen, um sich immer wieder daran zu freuen. Im Herbst hatte sie sich endlich von den Topflappen und Deckchen früherer Jahre getrennt. Ulli hatte leere Hände gehabt, junge Männer haben so viel im Kopf, St. Pauli hat das Pokalspiel gewonnen, darüber vergisst mann die Oma. Die Theaterkarte der Kinder im Unicef – Umschlag wiegt nicht schwer. Aber so allein im Theater – ihr graute ein bisschen vor den Paaren, die in den Pausen am Sekt nippen.
Vorbei alles. Von der Gans mit ihrer Nachbarin sind nur ein paar Reste im Kühlschrank. Die könnte sie sich übermorgen warm machen. Das war’s dann. Das Fest ist vorbei. Zwischen den Tagen muss er arbeiten. Er hätte sich wirklich nicht vollaufen lassen müssen. Sie hatte die feuchten Augen ihrer Tochter gesehen. Das war nicht die Reflektion der Kerzen auf wohlgecremter Haut. Das ging nun schon monatelang so. Immer Cola – Whisky, gläserweise, eimerweise. Manchmal morgens schon. Rosi hat das mal angedeutet. Zum Glück wurde er nicht aggressiv. Er wurde melancholisch, nein, er war traurig, das war der Grund.
Irgendwie verstand sie ihn. Der Druck wurde immer größer. An seinem Platz saßen früher vier Leute. Nur er war übrig geblieben. Und sie wollten mehr Erfolg sehen. Monatlich gab es ein „Ranking“, wie sie es nannten. Und wenn er es nicht schaffte… 15 Jahre noch für das Haus die Raten, das Auto fuhr auch noch auf Kredit – man mag es sich nicht ausmalen. Für die Schulen der Kinder muss er nun auch mehr hinblättern und später kommen die Semestergebühren… Er kann auch nicht alles hinschmeißen. In seinem Alter findet er nichts wieder. Mit 50 gilt man als gebraucht – wie ein Auto, das 50.000 hinter sich hat. Sie erinnert sich an ihre Schulzeit, da haben sie es gelernt vom 17. Juni, sie wurden es immer wieder gefragt: Mit Normerhöhungen begann es damals. Das brachte die Bauarbeiter auf die Straßen. „Soll ich gegen die Versicherung auf die Straße gehen“, fragte er einmal bitter. Sie konnte den Griff zur Droge verstehen. Aber es war der falsche Weg.
Nun saß er da in seinem Sessel, dem Christbaum gegenüber, das Glas mit dem süßen Gift in der Hand und prostete tatsächlich dem Kind in der Krippe zu. „Prost, Jesus!“ rief er sarkastisch und nahm einen tiefen Schluck. Die jungen Leute hatten rechtzeitig das Weite gesucht, Freunde besuchen, sagten sie. Das war auch besser so. Ihr Vater steigerte sich richtig in seine Begegnung mit dem Christkind hinein. „Prost Jesus, wie gut, dass du noch so klein bist. Du kriegst von allem nichts mit. Außerdem bist du aus Holz.“ Wieder ein langer Zug aus dem Glas. Dann wurde nachgefüllt, viel Gold und wenig Ebenholz. Und wieder: „Auf dein Wohl, Jesus, du kannst auch nichts dagegen machen. Was kann schon ein Kind ausrichten – gar nichts.“
Sie sah zu ihrer Tochter. Eine Träne verfing sich in ihrem Mundwinkel. Sie kniff die Lippen zusammen, hatte schon lange aufgehört, etwas zu sagen. Er hatte sich dem Strom seines Jammers hingegeben, irgendwann würde es ihn wieder ans Ufer spülen, dann nahm er eine Aspirin und wusste nichts mehr. „Wohlsein“, sprach er wieder mit ungehorsamer Zunge, „da stehst du machtlos vis-à-vis, sie machen, was sie wollen und du schaust zu. Was sollst du auch machen, bist ja selbst arm dran.“ Wieder das Glas halbleer. „Los, steh auf, mach was!“ forderte er plötzlich. Ihr klang es wie ein Gebet.
Sie ließ sich von ihren Gedanken tragen. Weihnachten hatten sie schon in der Nissenhütte gefeiert. Den Baum hatte ihre Mutter aus einem der Kleingärten organisiert. Die gelben Kekse aus Maismehl fielen ihr ein. Anderes Mehl gab es ja nicht. Zum Glück bekamen sie Heringe am Fischmarkt, hintenrum versteht sich. Ihre Gedanken trugen sie höher und höher. Sie sah die Soldaten, die damals im Schützengraben alle Granaten vergaßen und miteinander die Heilige Nacht feierten. Sie sah bleiche, hustende Wäscherinnen, die in kalten Kellern mit mageren Kindern sich um eine Kerze sammelten. Wenn das Kind nur aus Holz wäre, gäbe es keine Hoffnung. Aber so sicher, wie es hell wird nach den langen Winternächten, wird der Traum nicht untergehen von einer besseren Welt. Sie wollte nur wünschen, dass er sie erkennen würde – außerhalb seines Glases.
Als sie ging, brachte er sie nicht zur Tür. Er hatte mit sich tun und mit dem Krippenkind. Sein Weihnachten. Sie drückte ihre Tochter mit aller Kraft. „Das Kind ist nicht aus Holz“, sagte sie. Ihre Tochter nickte. „Ich weiß“, flüsterte sie leise.
Nun war alles vorbei. Der ganze Weihnachtszauber. Morgen musste er wieder in die Firma. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihrer Tochter nicht zu viel versprochen hatte.
 

BikeXdream

Mitglied
Hallo,

sehr schöne, moderne Weihnachtskurzgeschichte, die die Situation der Arbeitnehmer der heutigen Zeit gut zum Ausdruck bringt.
Das Damoklesschwert der „drohenden Arbeitslosigkeit“ das über uns schwebt und der damit verbundene Seelenkummer werden gut zum Ausdruck gebracht.


Frohe Weihnachten
und alles gute im neuen Jahr
wünscht

Bike :)
 



 
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