Vater vacant

Sicherlich brauchte er, wie er damals in der ganzen Fülle der Selbstverwirklichung dastand, niemanden, am allerwenigsten diesen Vater aus Fleisch und Blut, den er vergeblich in Mr. Mc Gregor suchte. ...“ Henry Miller, „Wendekreis des Steinbocks“

Die Geschichte hinter dem Zitat ist folgende. Vor dem New Yorker Elternhaus eines Freundes von dem Verfasser stand eines Tages plötzlich jemand, der behauptete, aus einer vorigen Beziehung des Familienoberhauptes zu sein. “Ich bin gekommen, um meinen Vater kennenzulernen”, teilte er der verblüfften Familie mit und zog für eine Weile bei ihnen ein.

Zu einer anderen Zeit und auch nicht in Amerika: “Wer kann das sein”, dachte er und öffnete die Haustür. Als er die junge Frau, die vor ihm stand, anschaute, erstarrte er. Er blickte in einen Spiegel. So in etwa muss es meinem Vater gegangen sein, als ich eines Tages spontan vor ihm auftauchte.

Aber das war gar nicht mein erster Versuch. Den startete ich ein paar Jahre vorher, als ich neunzehn war und seit ein paar Monaten in Berlin wohnte. Seinen Wohnort und den Namen hatte ich meiner Mutter entlocken können. In dem Dorf in Norddeutschland, wo mein Vater wohnte, fragte ich einen Mann, der auf der Straße langlief, nach seinem Haus. Er zeigte es mir und wunderte sich, warum ich davor stehen blieb und nicht anklopfte.

Es wurde dunkel. Ein großer Schäferhund kam und beschnüffelte mich. Er schlug aber nicht an und trollte sich nach einer Weile friedlich. Ich wunderte mich. Dorfhunde sind ja meist ziemlich aggressiv. Vielleicht roch er ja, dass ich die gleiche DNS besaß wie sein Herrchen. Ob da was dran sein könnte? Vielleicht ist das aber nur eine lose Theorie.

Durch das erleuchtete Fenster konnte ich drei Leute sehen. Eine uralte Frau lag im Bett, eine jüngere Frau und ein Junge, wohl ihr Enkel, saßen am Tisch. Von meinem Vater war nichts zu sehen. Ich sah mir die Szene eine Weile an und ging dann wieder. Am Bahnhof stieg ich in den nächstbesten Zug, der leider bald endete. In einer Kleinstadt saß ich nun in dem kleinen und eiskalten Wartesaal.

Wie eine Erscheinung tauchte plötzlich aus der Dunkelheit ein junger Mann mit langen Haaren auf, dessen nackte Beine aus Kniehosen hervorragten, es war Februar. Er hielt eine Geige in der Hand und gefiel mir auf den ersten Blick. “Meine Band ist gerade im Klub von der Ingenieurschule aufgetreten. Wir machen Bluegrass. Das Konzert war super”, erzählte er mir euphorisch und ließ sich auf der Bank neben mir nieder. “Du gefällst mir”. Bald stießen auch noch die anderen der Band, es waren zwei Mädels und ein Typ mit Gitarrenkoffer, zu uns, wobei die Frauen mich nicht allzu freundlich ansahen. Damals wusste ich noch nicht, dass die meisten Szenefrauen keine anderen Frauen leiden können.

Da wurde die Tür zu dem kleinen Wartesaal wieder aufgerissen, und eine verheulte, junge Frau mit einem blauen Auge stürzte herein. “Mein Mann schlägt mich. Ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll”, sagte sie zu uns. Nun waren wir schon zu sechst.

Uns allen knurrte er Magen. “Hier muss sich doch irgendwo etwas zu essen auftreiben lassen”, meinte der mit der Geige. An die Wartehalle angeschlossen war eine kleine Mitropa, die natürlich schon lange dicht hatte. Irgend wie gelang es den beiden Männern in den Vorraum reinzukommen, wo sie einen Kohlkopf fanden. Der Kohl war ja im Osten unsere wichtigste Vitaminquelle und wurde, meist in geraspelter Form, zu jeder Mahlzeit gereicht. Das wird in Nordkorea nicht anders sein.

Sie zerteilten ihn mit dem Taschenmesser und bald saßen wir alle mit einem Viertel Rotkohl in der Hand da. Ein Hauch von Woodstock nachts in der Bahnhofshalle. Wo dann mit einem Mal die Transportpolizei herkam, weiß ich auch nicht. Zum Glück ging noch alles irgendwie glimpflich ab. Ich sah uns schon hinter Gittern. Die Trapo ist bei uns gefürchtet gewesen. Ich habe nie verstanden, warum sich die Autonomen über die Bullen im Westen immer so aufgeregt haben. Da hätten sie mal unsere erleben sollen.

Aber die Stimmung war gekippt. Die Staatsmacht war eingeschritten. Ein lustiger Streich hätte zur Folge haben können, dass die Musikanten aus ihrem Studium geflogen wären. Da waren die nicht zimperlich im Osten.

Als der Zug in ihre Stadt endlich eintraf, stiegen wir ein. Ich schaute noch öfter verstohlen zu dem Geiger rüber, der inmitten seiner Bandkumpels saß, aber er beachtete mich nicht mehr. Bloß die beiden Frauen warfen mir böse Blicke zu. Er sah irgendwie resigniert und müde aus. Das rebellische war verschwunden. Ich war enttäuscht. Alle stiegen in der nächsten größeren Stadt aus, und ich fuhr weiter nach Berlin.

Ich war nicht die einzige, die sich auf Vatersuche begab. Vor ein paar Jahren liefen eine Freundin, die ich lange nicht gesehen hatte und ich uns über den Weg. “Morgen habe ich Geburtstag. Wir grillen in der Lichtenberger Parkaue. Komm doch auch. Dann kannst du meine Söhne kennenlernen.” Ihren ältesten hatte ich das letzte Mal gesehen, da war er zwei, und den jüngsten hatte sie im Kinderwagen geschoben, als wir uns vor etlichen Jahren mal begegneten.

Ihre Mutter war eine Kommilitonin von mir gewesen und wir wohnten im Wohnheim zusammen. Ihre Regel war erst einen Tag vakant, da war sie sich schon sicher, dass sie schwanger war und freute sich. Ich war skeptisch, denn der Kindesvater war verheiratet. Da ich selbst meinen Vater nicht kennengelernt habe, konnte ich mir ausmalen, wie es ihrem Kind vielleicht mal gehen könnte. Besonders schlecht sind ja die dran, die entstanden sind, als ihr Erzeuger fremdging, wie bei mir.
Es schockte mich, als ich erfuhr, wie Karl Marx, der Begründer des Kommunismus, der die Menschheit befreien wollte und für die Gerechtigkeit kämpfte und in Kinderbüchern immer als gütiger Mann mit weißem Rauschebart dargestellt wurde, seinen unehelichen Sohn, den er mit einem Dienstmädchen hatte, behandelte. Dieser, den sein Vater verleugnete, wuchs bei Pflegeeltern auf und durfte sich mit seiner Mutter nur in der "Küche" treffen. Marx, der die Welt aus den Angeln reißen wollte, schaffte es in seinem eigenen Leben nicht, sich über bürgerliche Konventionen hinwegzusetzen und seinen Sohn zu akzeptieren. Später nahmen die drei Töchter von Marx, die Frauenrechtlerinnen waren, Kontakt zu ihrem Bruder auf.

Wenn ich Biografien von bekannten Männern lese, interessiert mich aus naheliegendem Grund immer besonders, wie diese mit ihren Kindern verfuhren, die unehelich entstanden sind. Goethe ist da vorbildlich. Er hat seinen Sohn gleich legitimiert und das Durcheinander in der Stadt nach Einzug der Franzosen genutzt, um gegen alle Widerstände seine Freundin zu heiraten.

Das Schicksal von Brechts ältestem Sohn dagegen ist traurig. Er wuchs woanders auf, hatte aber zu beiden Eltern Kontakt. Als die Mutter heiratete, nahm sie ihn aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung nicht in die Familie auf. Er fiel im Zweiten Weltkrieg. Sein Bruder hat sich später sehr mit dem Thema beschäftigt.

Alfred Döblin verließ seine schwangere Freundin und heiratete eine andere. Es soll aber Kontakt bestanden haben. Auch sein Vater hatte seine Mutter schon sitzen lassen. Der Sohn kehrte nicht aus dem Zweiten Weltkrieg zurück.

Wolfgang Koeppen war mir gleich sympathisch. Zum einen kommt er aus Greifswald, eine Stadt in der Nähe meines Dorfes, und zum anderen kannte auch er seinen Vater nicht. Mit seinen Büchern kann ich leider nicht so viel anfangen.


Eigentlich hatte ich keine Lust auf den Grillabend, aber ich wollte es ihr nicht abschlagen. Es war eine große Gesellschaft. Ich saß zusammen mit den beiden jungen Männern und ihren Freundinnen auf der Bank in der Lichtenberger Parkaue. Der älteste ihrer Söhne, der schon einiges getrunken hatte, kam auf ein Thema zu sprechen, dass ihn sehr beschäftigte.

Wie ich, war ja auch er ohne Vater aufgewachsen. Er hatte jahrelang vergeblich gewartet, dass der ihn mal besuchte. Die einzige Begegnung mit seinem Vater, da war er noch sehr klein, und wusste gar nicht, wer der Mann war, mit dem seine Mutter sich in einem Café unterhielt, hat sich tief in ihm eingebrannt, und er hat sie wieder und wieder rekapituliert.

So ging es mir auch mit dem einzigen Besuch meines Vaters bei uns, obwohl ich erst drei Jahre alt war und gar nicht wusste, um wen es sich bei ihm handelte. Noch heute sehe ich meine Mutter zum Wohnzimmerschrank gehen und den Aschenbecher, auf dem das Wappen ihrer Heimatstadt Malchin drauf war, rausnehmen und auf den Wohnzimmertisch stellen. Das habe ich mir gemerkt, weil ansonsten bei uns niemand rauchte.

Mit meinen Befürchtungen, ihren Sohn betreffend, hatte ich also vor zweiundzwanzig Jahren im Studentenwohnheim recht behalten. Das sein Vater ihn ablehnte, wie ich es voraus geahnt hatte, machte ihm zu schaffen. “An meiner Pinnwand hängt sein Foto, dass ich aus dem Internet habe", erzählte er mir. Sein jüngerer Bruder, der mit einem Vater aufgewachsen war, auch wenn mein Freundin schon seit einer Weile geschieden war, kam besser mit sich klar.

“Es würde mir ja schon reichen, mal ein Bier mit ihm zu trinken, um ihn kennenzulernen”, sagte ihr Sohn. Der jüngere ist skeptisch. “Dein Vater wird sich eingerichtet haben”, erwiderte er lebensklug. Auch ich mache mir Sorgen, wenn ich an das Desaster denke, was ihm bevorsteht. Ich habe da sehr einschlägige negative Erfahrungen gemacht. Mein Erzeuger schmiss mich nämlich gleich raus, als ich ihm einen Besuch abstattete.

In meiner Kindheit bin ich noch damit aufgewachsen, dass rings um mich her Familien existierten. Meine Mutter gehörte in unserem Dorf zu den wenigen Alleinerziehenden. Ich habe an ihre Alleinerziehung mit viel Geschrei und Gewalt bedeckte, man könnte auch sagen, ziemlich dunkle, Erinnerungen. Sie wollte sich wohl über mich an meinem Erzeuger rächen.

Der sogenannten Mutterliebe, von der in rührseligen Schmonzetten immer soviel die Rede ist, traue ich seitdem nicht mehr über den Weg. Aber es hätte mir ja schlechter ergehen können. Die Freundin von einem Kumpel und ihre Schwester sind jahrelang von ihrem Stiefvater missbraucht worden. So was habe ich zum Glück niemals erlebt.

Bei einem Zoommeeting zu Coronazeiten sah ich das erste Mal ein junge Kollegin, die in einer anderen Zweigstelle arbeitete. Sie war noch in den Zwanzigern und verabschiedete sich immer vorzeitig, da sie ihre drei Kinder abholen musste. Eine glückliche Familie - Mann, Frau und drei Sprösslinge - nahm ich an und war ein bisschen neidisch. Das sollte sich als Trugschluss erweisen, denn bei einem anderen Onlinemeeting erwähnte sie, dass sie alleinerziehend war. “Wir vier”, sagte sie. Der Neid verging mir. “Was ist hier los in Berlin?”, dachte ich. Wo sind bloß all die Väter hin.

Die Lebensgeschichte einer Berliner Schauspielerin, die ein Workoholic sein muss, weil sie ständig überall präsent ist, steht exemplarisch für die Vatermisere hier. In ihrer Familie ist Alleinerziehung Tradition. Von ihrer Mutter, auch eine Schauspielerin, ist sie ohne Vater aufgezogen worden. Leider verstarb die früh, und sie wuchs bei Theaterleuten auf. Ihre eigene Tochter zog sie auch allein auf. Diese wiederum ebenfalls eine Tochter. Jetzt warten alle schon gespannt darauf, dass sie endlich in die Fußtapfen ihrer Vorfahrinnen tritt.

Ein verliebtes Pärchen turtelt händchenhaltend vor mir auf dem Waldweg. Beide Punk. Ich nehme an, sie gehören zur Wagenburg in der Wuhlheide. Sie bemerken mein Fahrrad, lassen sich los und treten lächelnd zur Seite. Nachdem ich zwischen ihnen hindurchgefahren bin, verschränken sie die Hände sofort wieder ineinander. “In neun Monaten gibt es eine alleinerziehende Mutter mehr”, geht es mir durch den Kopf.

Eine bekannte Autorin hat im Radio mal über ihren Vater geredet. Ich wurde hellhörig, denn das Thema interessierte mich sehr. Auch sie wuchs bei einer alleinerziehenden Mutter auf. Der, ihr unbekannte, Vater meldete sich plötzlich aus heiterem Himmel als sie fünfzehn war. Ein Jahr hatten sie Kontakt. Dann starb er. Wahrscheinlich ist es kein Zufall. Er wird irgend etwas gewusst oder geahnt haben. Vielleicht hätte er sich sonst nie gemeldet.

Auch Albert Camus wurde in Algier als Sohn einer alleinerziehenden Mutter geboren. Sein Vater ist im ersten Weltkrieg gefallen. Er besaß kein einziges Foto, nur eine Postkarte. Aber trotzdem beschäftigte ihn sein Vater sehr. In seinem autobiografischen Roman “Der erste Mensch” habe ich gelesen, dass es ihm nach langer Suche endlich gelang, da war er schon über vierzig, das Grab seines Vaters zu finden.

Jemand erzählte mir, das er gerade die Eltern seiner Freundin in Nicaragua besucht hatte. Dort hat die Familie eine große Bedeutung. Alle haben einen Haufen Kinder und leben in großen Verbänden zusammen. Ich wollte ihn noch fragen, ob er “Hundert Jahre Einsamkeit” von Garcia Marquez gelesen hat. Es spielt ja auch in Südamerika. Aber ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich damals, von den Sexszenen abgelenkt, gar nicht groß über den tieferen Sinn nachgegrübelt habe. Ich weiß bloß noch, dass ein Pärchen gar nicht mehr aus dem Bett rauskam und ihre Fruchtbarkeit auf die gesamte Umgebung übergriff, und sich plötzlich sogar die Tiere wie verrückt vermehrten.

Ich kann immer gar nicht verstehen, warum die, die durch künstliche Befruchtung entstanden sind, so ein Heck Meck machen, um ihren Vater kennenzulernen. Nachher stellt sich meist raus, dass es ein Student war, der sich mit Samenspenden was dazuverdient hat und wenig begeistert über den Besuch ist. Trotzdem sind viele schon seit Jahren auf der Suche. Sie tun mir leid. Was versprechen sie sich davon?

Meine Familie kenne ich aus dem Internet. Meine Freundin, die nach jemandem gegoogelt hatte, mit dem sie mit Anfang Zwanzig mal zusammen war - sie entdeckte von ihm merkwürdigerweise ein Bild, auf dem er mit einem Dudelsack drauf war und erfuhr, dass er Geschäftsführer von zwei Firmen ist - brachte mich auf die Idee, dass world wide web zu nutzen, um nach meinen Wurzeln zu forschen.

Ich gab meinen Erzeuger ein, der aber schon lange nicht mehr unter uns ist, und fand allerhand über meine Verwandtschaft raus. Bukowski hat mal irgendwo geäußert, das er, der keine Geschwister hatte, sich darunter nichts vorstellen kann. Da kann ich mich ihm nur anschließen.

Deshalb war es ein eigenartiges Gefühl, als ich die Bilder sah. Mein jüngste Halbschwester hatte doch tatsächlich meine Augen. Auch von ihrer Schwester fand ich ein Foto. Darauf lachten sie und ein behinderter, dunkelhäutiger Junge sich an. Als ich die Bilder von meinen Halbschwestern sah, dachte ich: “Ich wünsche euch alles Gute. Aber hoffentlich laufen wir uns nie über den Weg.” Warum will ich sie nicht kennenlernen? Die Antwort ist: Weil sie ganz normale Frauen sind. Weil sie nicht neugierig genug sind, aber auf alle Fälle bestimmt nicht genug Fantasie haben, um über eine dritte Schwester begeistert zu sein.

Obwohl ich ins grübeln komme, wenn ich in der Onlineausgabe der Lokalzeitung lese, dass meine älteste Schwester dem Jungen aus Sri Lanka, der auf dem Bild ist, einen Rollstuhl geschenkt hat.

Auch in der nächsten Generation bin ich fündig geworden. Ein Neffe, ein Sohn meines Bruders, neigt zur Rundlichkeit, jedenfalls nach den Fotos, und nimmt deshalb an Marathonläufen teil. Außerdem hat er Ärger mit der Kita seiner Kinder. Und sogar einen Großneffen habe ich entdeckt. Er gewinnt scheinbar ständig Matheolympiaden, scheint aber das Rundliche von seinem Vater nicht geerbt zu haben.
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Auch über den Heimatort meines Erzeugers, einem Vorort von Hildesheim habe ich mich schlau gemacht. Ein Spielmannszug zog bei youtube durch die Straßen seines Dorfes. Der Dorfpolizist trägt den selben Familiennamen wie er. Die Zahnärztin ebenfalls.

Über das Gymnasium, das Josephinum in Hildesheim, durch dessen historische Hallen, es geht schon auf Ludwig den Frommen zurück, er einst wandelte, habe ich Filmmaterial im Internet gefunden. Auch darüber wie Lena auf seinem ehemaligen Schulhof gesungen hat. Wir leben ja in einer Zeitschleife, und alles wiederholt sich. Vielleicht forscht in ein paar Jahrzehnten die Tochter eines der Schüler, der beim Flashmob auf dem Domplatz zu sehen ist, oder dabei, wie er mit den anderen in einen Bus steigt, der sie nach Spanien oder zum Papst bringt, ebenfalls nach der Schule ihres unbekannten Vaters. Wer weiß, vielleicht wird der Kleine, der mit unschuldigen Augen in die Kamera blickt und begeistert von der Reise nach Rom berichtet, und dessen naives Vertrauen in die Welt mich rührt, ja auch mal so ein Filou wie mein Erzeuger.

Unter diesem Namen habe ich auch eine Dichterin entdeckt. Die kommt aus demselben Ort wie er und ist wahrscheinlich meine Cousine und die Tochter des jüngsten Bruders meines Erzeugers. Sie sieht meiner jüngsten Halbschwester sehr ähnlich und ist eine schöne Frau, sieht aber überhaupt nicht aus wie ich. Ich ähnele im Gegenteil eher diesem Neffen, der zur Molligkeit neigt.

Ich spielte schon manchmal mit dem Gedanken, ihr eine Mail zu schicken. Sie ist eine Künstlerin und bei ihr erwarte ich mehr Verständnis. Natürlich ist mir klar, dass ich da mächtig daneben liegen kann. Gerade mit intellektuellen Frauen habe ich oft schlechte Erfahrungen gemacht. Vielleicht ist sie der Typ Frau, der keine anderen Frauen leiden kann. Aber über sie könnte ich an Fotos von unseren gemeinsamen Großeltern kommen, die ich nie kennengelernt habe. Ich würde aber gern mal in die Gesichter von Leuten blicken, von denen mein Vater abstammt.

Meine unbekannte Großmutter hat durch den Krieg drei ihrer Söhne verloren. Das waren Onkels von mir. Wie konnte sie das jemals verarbeiten und zur Tagesordnung übergehen. Das kann ich sie leider nicht mehr fragen. Ich nehme an, dass sie das nie verkraftet hat.

Die, die meine Cousine zu sein scheint, hat schon einige Gedichtbände veröffentlicht und auch öffentliche Lyriklesungen habe ich schon auf youtube gefunden und zahlreiche Interviews und Fotos von ihr schwirren im Netz. Merkwürdigerweise liebt auch sie “Die Glasglocke” von Sylvia Plath, wobei sie das th wie ein s aussprach. Möglicherweise liege ich mit meinem t richtiger als sie, da Sylvia Plath deutsche Wurzeln hatte.

Übrigens tröstet mich immer, wenn jemand meine Storys nicht gut findet, dass die Glasglocke, ein Jahrhundertroman, von vielen renommierten Verlagen abgelehnt wurde, als seine Autorin ihn in Amerika veröffentlichen lassen wollte. In England war er ja schon erschienen, aber irgendwie untergegangen.

Wie konnte es bloß passieren, dass erfahrene Lektoren, die lange im Business sind, sich so irren konnten. Wenn sie Sylvia Plaths Roman angenommen hätten, wäre ihr Leben bestimmt ganz anders verlaufen, und sie hätte neuen Lebensmut gewonnen, denn sie, von ihrem Mann mit den Kindern allein gelassen, hat ja den Gashahn aufgedreht.

Der Fänger im Roggen ist auch zwei Mal abgelehnt worden, und kurz darauf vom selben Verlag auch “On the road”. Das sind Bücher, die wohl in überhaupt jede existierenden Sprache übersetzt wurden und Millionen Menschen was gegeben haben, aber in denen versierte Literaturkenner in den Verlagen nichts gesehen haben.

Die Antwort darauf ist wohl, das die Leute vielleicht ein Gespür für gute Literatur hatten aber nicht für geniale. Wie Proust schreibt, dessen “Auf der Suche nach Swann” sogar von Andrè Gide, einem bekannten Dichter, der zu der Zeit Leiter von einem Verlag war, abgelehnt wurde, und der seinen Erstling deshalb auf eigene Kosten drucken ließ, hören die Leute, wenn sie Musik hören, die völlig etwas neues ist, zuerst einmal gar nichts. So ist es wohl mit der Literatur auch.

Eigentlich wollte ich ja betrübliche Dinge über vaterlose Kinder schreiben, stattdessen komme ich hier von Hundertsten ins Tausendste. Das sentimentale liegt mir sowie nicht. Dagegen habe ich einen natürlichen Widerwillen, bin aber auch nicht völlig dagegen gefeit. Bei der Sendung von Julia Leischick, wo sie verschwundene Familienmitglieder aufspürt, musste ich schon öfter mit den Tränen kämpfen, worüber eine Freundin immer mit dem Kopf schüttelt. Sie ist mit einer kompletten Familie, bestehend aus ihren Eltern und Brüdern, aufgewachsen. Deshalb versteht sie das nicht.

Zum Schluss noch ein Zitat aus dem Wendekreis des Steinbocks, den ich am Anfang schon erwähnt habe, in dem es darum geht, dass der Vatersuchende weiterzog und die Familie verstört zurückließ.

„Sie waren bestürzt und beraubt und waren sich undeutlich, sehr undeutlich bewußt, dass sich ihnen irgendwie eine große Gelegenheit geboten hatte, die zu ergreifen sie weder Kraft noch Phantasie gehabt hatten.“
 
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