Cutters geheimes Leben

VeraL

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An einem schönen Sommertag, an dem der Duft der frühen Rosen in der lauen Luft lag, durchbrach ein wütender Schrei die Stille: „Du blödes Mistding. Hätte ich dich bloß nicht gekauft. Du bist einfach totaler Schrott.“ Thomas trat ärgerlich nach dem Rasenmähroboter und stapfte brummend zurück ins Haus.

Cutter, der Mähroboter, blinkte traurig auf. Er wollte seinen Menschen nicht enttäuschen und er wusste selber, dass er versagt hatte, wenn er nur ein kleinen Kreis um die Ladestation mähte. Das Gras auf der anderen Seite des Gartens wucherte schon hoch. Jedesmal nahm Cutter sich vor, auch mal dort hinzurollen, doch es gab ein Problem: Cutter hatte Angst. Er fürchtete sich vor dem roten Gartenschlauch, vor dem aufblasbaren Krokodil im Pool, vor dem Echodot auf der Terrasse, aus dem ganz plötzlich Musik in voller Lautstärke plärren konnte und vor fast allem anderen im Garten. Nur an seiner Ladestation fühlte er sich wirklich sicher.

Langsam wurde es dunkel. Niedergeschlagen rollte Cutter zurück zu seiner Station und schlief ein. In dieser Nacht träumte er davon, wie sein Mensch ihn in einen Karton stopfte, ins Auto lud und zurück in den Elektroladen brachte, um ihn umzutauschen. Entsetzt schreckte Cutter hoch. Das durfte er nicht zulassen. Morgen würde er seinen ganzen Mut zusammen nehmen und bis zur Terrasse rollen. Jawohl. Diesmal würde er, Cutter, der Robomow Deluxe 3000, sich nicht unterkriegen lassen.

Am nächsten Tag, gleich nachdem die Menschen das Haus verlassen hatten, rollte Cutter fest entschlossen los. Er schaffte es tatsächlich aus seinem üblichen Kreis heraus und schnitt fröhlich surrend das Gras entlang des Pools genau auf die eingestellte Länge. Das grüne Plastikkrokodil, das ihn die ganze Zeit anzustarren schien, ignorierte er tapfer. Doch plötzlich traf ihn etwas Eiskaltes, nasses auf seiner grünen Rückseite. Erschrocken blinkte er auf, drehte abrupt um und rollte so schnell er konnte zurück zu seiner Ladestation. Erst dort beruhigte er sich etwas. Es war doch nur nur das Wasser des Rasensprengers, das er abbekommen hatte.

Für die nächsten zwei Tage blieb Cutter wieder ängstlich in der Nähe der Ladestation, doch dann musste er immer wieder daran denken, wie es sein würde, wenn er zurück in den Laden gebracht würde und wie die anderen Rasenroboter ihn dann ansehen würden. Vielleicht würde sein Mensch dann sogar seinen größten Konkurrenten, den Blitz X 2.0, kaufen. Das durfte nicht sein. Also nahm Cutter wieder seinen ganzen Mut zusammen und schaffte es am nächsten Tag sogar bis vor das große Fenster. Stolz ruhte er sich einen Moment aus und schaute in das Haus.

Drinnen gab es viele weitere beängstigende Dinge, doch als Cutter gerade wieder umdrehen wollte, rollte das schönste Wesen in sein Blickfeld, das er jemals gesehen hatte. Es war perfekt rund und hatte oben einen großen Kreis in der gleichen Farbe wie seine Rückseite. Sie musste ein Staubsaugerroboter sein. „Dustia“ stand auf ihrer Seite. Cutter konnte nicht anders, als sie anzustarren, während sie fast geräuschlos über den Boden glitt. Sie schien sich vor nichts zu fürchten, sogar an der Stereoanlage rollte sie ohne zu zögern vorbei. Cutter bleib vor dem Fenster stehen, bis sie aus dem Raum rollte und er sie nicht mehr sehen konnte.

An diesem Nachmittag rollte Cutter kreuz und quer durch den Garten ohne sich vor irgendetwas zu fürchten. Er konnte nur an dieses wunderbare Wesen denken. In den nächsten Tagen wurde der kleine Rasenroboter immer mutiger. Er mähte den Rasen fast um das ganze Haus herum, da er festgestellt hatte, dass es auch auf der anderen Seite große Fenster gab, durch die er seine Angebetete noch länger beobachten konnte. Auch sein Mensch schien mit ihm zufrieden zu sein. Als er mit Freunden auf der Terrasse saß, empfahl er Cutter sogar weiter: „Am Anfang habe ich die Programmierung nicht richtig eingestellt bekommen, er hat nur einen kleinen Kreis bearbeitet, aber jetzt mäht er einwandfrei und hat sogar eine größere Reichweite als vom Hersteller angegeben.“ Cutter wurde vor Freude ein bisschen rot, als er das hörte.

Nachts schlief Cutter nicht mehr. Er dachte darüber nach, wie er Dustia auf sich aufmerksam machen könnte. Er hatte eine Idee, aber … nein, das konnte er nicht tun. Wenn sein Mensch das mitbekam, würde er ihn sofort in das Geschäft zurückbringen. Cutter überlegte, doch etwas anderes wolle ihm nicht einfallen.

Als er sicher war, dass keine Menschen mehr im Haus waren, rollte er an den Rand des Blumenbeets und betrachtete die farbenfrohen Blüten. Eine gefiel im besonders gut. Er würde es tun. Cutter rollte über die feuchte Erde auf die Blume zu und mähte sie vorsichtig um, sodass sie auf ihn fiel. Er dachte nicht darüber nach, was passieren würde, wenn Thomas seine Spur im Beet entdeckte und rollte glücklich auf das Haus zu. Nach ein paar Minuten tauchte der Staubsaugerroboter auf. Cutter blinkte und blinkte und hoffte, dass Dustia ihn sah. Als sie auf ihn zurollte, ihn ansah und nach einem kurzen Moment zurückblinkte, war Cutter der glücklichste Rasenroboter auf der ganzen Welt.

Den ganzen Sommer über trafen sie sich jeden Tag an der Scheibe und blinkten einander zu. Hin und wieder wagte Cutter es, ihr eine Blume aus einem der Beete mitzubringen. Im August war der Rasen so braun und trocken, dass Cutter nichts mehr zu tun hatte und er genoss die freie Zeit, die er immer vor den Scheiben verbrachte und dem wunderschönen Staubsaugerrobter bei der Arbeit zu sah.

Dann wurde es Herbst und die Blätter fielen von den Bäumen. Der ganze Rasen war voll davon und es wurde immer schwieriger für Cutter, sich zum Haus durchzukämpfen. Eines Morgens wachte er auf und stellte entsetzt fest, dass der ganze Garten von einem kalten weißen Zeug bedeckt war. Cutter wollte unbedingt zum Haus, aber nach ein paar Metern musste er aufgeben. Er kam einfach nicht durch dieses Zeug und er hatte das Gefühl, seine Räder würden vor Kälte abfallen. Da sah er seinen Menschen auf sich zukommen. Er wird mir bestimmt helfen und den Weg frei machen, dachte Cutter. Doch Thomas schnappte ihn samt der Ladestation und ging in die Garage. Dort sah Cutter eine große Kiste, in der schon das platte Krokodil aus dem Pool lag. „Nein“, rief er still, „Dustia! Bitte nicht“. Es half nichts. Thomas steckte ihn in die Kiste und es wurde dunkel, als der Deckel sich über ihm schloss.

„Diese verdammte Technik“, fluchte Thomas. Er betrachtete den Staubsaugerroboter, der vor dem Fenster stand und sich einfach nicht mehr rührte. Auch die Lichter blinkten nicht mehr. „Nach einem Jahr kann das blöde Teil doch noch nicht kaputt sein.“ „Vielleicht hat sie sich von der Heizungsluft verzogen?“, schlug seine Frau vor. „Das Ding funktioniert nicht richtig, seit der erste Schnee gefallen ist. Die Garantie ist abgelaufen. Eine Reparatur ist wahrscheinlich zu teuer. Am besten wir schmeißen das Ding weg und kaufen einen neuen.“

Thomas packte den Staubsaugerroboter und wollte ihn zu dem anderen Elektroschrott bringen, als er ihm plötzlich Leon einfiel. Leon war sein Neffe, der gerne an allem Möglichen herumbastelte. Er hatte schon den Toaster und den Radiowecker repariert. Wenn er in den Osterferien zu Besuch war, würde er sich freuen, ein neues Projekt zu haben. Um ihn im Frühjahr nicht zu vergessen, brachte Thomas den kleinen Roboter in die Garage und stopfte ihn in die Kiste mit den Gartensachen. Wenn er dabei genau hingesehen hätte, hätte er bemerkt, wie zwei kleine Roboter glücklich aufblinkten.
 

VeraL

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Das ist eine der ersten Geschichten, die ich geschrieben habe. Sie wurde vor Jahren in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht. Aber Cutter ist immer noch einer meiner absoluten Lieblingshelden, deswegen wollte ich sie mit euch teilen.
 



 
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