Bruchlinien - Eine Vorgeschichte (Teil 4)

Wenn ich dann unser Holzhaus erreichte, fand ich es meist verlassen vor. Die fremden Kinder spielten vielleicht an entlegenen und manchmal gefährlichen Plätzen, ihr Vater ging irgendwo einer Arbeit nach, auch ihre Mutter sah ich selten. Mein eigener Vater war, wenn ich dort eintraf, meist auf dem Acker, meine Mutter versorgte das Kleinvieh oder jätete Unkraut in irgendeinem kürzlich angelegten Narzissen- oder Gladiolenfeld – auch den Anbau von Schnittblumen fand mein Vater jetzt lohnend. Die Haustür war nie verschlossen. Ich betrat den langen Vorraum, der uns als Küche, Speisezimmer und Baderaum diente und den unsere Mieter durchqueren mussten, um in ihre Räume zu gelangen. Auf dem Tisch lag ein Zettel, wenn meine Mutter damit rechnete, ich würde zum Essen kommen. „Bin Kartoffeln ausmachen. Bin zwischen fünf und sechs wieder da. Auf dem Herd in dem großen Topf ist Nudelsuppe für Dich“, las ich beispielsweise. Wenn ich den Suppentopf inspizierte, fand ich die Brühe verdampft und nur noch eine breiige Nudelmasse vor. Ich aß sie gern. Im Haus war es vollkommen still. Wenige Geräusche ließen sich von draußen hören. Ein dicker Augustapfel fiel aus dem alten Baum gleich neben dem Haus hörbar zu Boden. Ich würde gleich hinausgehen und mir zum Dessert aus dem Fallobst das schönste und dickste Exemplar aussuchen.
Manchmal stand als freundlicher Wächter auf der niedrigen Treppe zur Haustür der andere Vater, allein zu Haus geblieben. Ich glaube, er war Maurer, daran gewöhnt, stets auf den Beinen und an frischer Luft zu sein. Die Treppe war an Tagen, an denen er keine Arbeit gefunden oder nicht erst gesucht hatte, sein liebster Aufenthaltsort. Gleichmütig stand er da, wippte auf den Zehen, einen Anflug von Heiterkeit um die Augen und die Mundwinkel. Im Gegensatz zu meinem Vater, den mannigfache Probleme belasteten und der selten aus dem unfrohen Pläneschmieden herauskam, schien unser Mieter fast immer unbekümmert, ganz sorglos.
Einmal bot auch dieser Phlegmatiker ein Beispiel für Tatkraft, das mich nacheinander erst anzog und dann abstieß. Damals sagte er gut gelaunt zu mir: "Deine Mutter ist bei den Hühnern. Die Katze hat Junge bekommen. Wir müssen sie fortschaffen. Kommst du mit?" Ich nickte. Er sagte: "Warte" und verschwand im Keller. Als er zurückkam, waren die Außentaschen seiner Jacke etwas ausgebuchtet. Drinnen zappelte es. Er schlug den Weg zu den Felsen ein. Zwei seiner Kinder, noch nicht im Schulalter und auf einmal auch zur Stelle, folgten uns neugierig. Wie wir uns vom Haus entfernten, ließ sich empörtes Miauen aus dem Keller vernehmen, gedämpft zwar durch dicke Mauern, dafür in seinem Ausdruck noch schmerzlicher. Wir gingen, bis wir zu der Stelle kamen, an der sich vor der Felswand die Abfallgrube auftat.
Der Vater griff in seine Jackentasche und holte eines der neugeborenen Kätzchen heraus. Es war rotweiß gestreift und nicht länger und nicht dicker als der Mittelfinger seiner rechten Pranke, mit der er es sogleich über die Grube hinweg auf die glatte Steinwand schleuderte. Undeutlich sah man, wie etwas von der Wand in die Grube fiel. Die übrigen drei kleinen Würmer, blind und außerhalb der mütterlichen Wärme orientierungslos, wanden sich noch zuckend in seiner Hand - dann erging es ihnen ebenso. Wir Kinder verfolgten regungslos das Geschehen und staunten.
Schon nach einer Minute war alles vorbei. Wir traten den Rückweg an. Keiner sagte ein Wort. Doch das Gesicht des Vaters, sonst so harmlos und friedfertig, wies jetzt einen Ausdruck von Befriedigung auf, den ich bis dahin noch nicht an ihm wahrgenommen hatte. Man konnte ihn mit nur einem Wort beschreiben: erledigt!
Hatte ich mich allein zu beschäftigen, schlug ich oft einen schmalen, vom Haus steil abwärts führenden Pfad ein. Er kreuzte den Fahrweg, den ich vom Dorf her gekommen war, und verschwand dann zwischen sehr hohen Vogelkirschbäumen. Wenn ich einen kräftigen Zweig entdeckte, riss ich ihn ab. Die Zone der Vogelkirschen war schon nach zwei Minuten durchschritten. Ich betrat jetzt eine weitere sonderbare Landschaft, einen stark abfallenden Hang, mit scheinbar endlosen Brennnesselwäldern bedeckt, über denen sich die Kronen verwilderter Pflaumenbäume erhoben. Diese missratene Kultur schloss sich an den ruinierten Obstgarten des Großvaters an, sie war erst von meinem Vater nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft angelegt worden. Er hatte hier den ursprünglichen Wald gerodet, damit das Gelände als Auslauf für Hühner dienen könnte, denen er am Fuß des Hanges, nahe an den älteren Gebäuden, zwei Ställe baute. Die Hühner zeigten jedoch wenig kolonisatorische Neigungen und bevorzugten den Garten meiner Großmutter, die dort unten noch immer in ihrer „Villa Lustig“ lebte. Aus jenem Garten breiteten sich stattdessen vereinzelt vorkommende Brennesseln über den gesamten gerodeten Hang aus. Sie entwickelten ein geradezu bösartiges Wachstum, dem mein Vater hilflos gegenüberstand. Ans Mähen war schon aufgrund der vielen Wurzelstöcke nicht zu denken …
Hier nahm ich nun mit meinem Stock den Kampf auf. Ich schwang ihn wie Uhlands Kreuzritter seinen Säbel und mit jedem Hieb sanken, statt zween halben Türken, zehn oder fünfzehn Brennnesselhalme zu Boden. Manche von ihnen waren höher als der kleine Berserker, der mit Ingrimm tief in die feindlichen Formationen vordrang, sich wütend rundum Raum schuf, Verbindungen zwischen den dezimierten Nesseln zerstörte und die eingekesselten Reste vernichtete. Auf dem Schlachtfeld roch es trocken-zundrig. Die üppigen oberen Blätter hatten schon lange jede Feuchtigkeit absorbiert, die unteren waren vertrocknet und zerbröselten jetzt. Kein Tau hatte seit langem den Boden befeuchtet. Einmal stieß ich in dieser staubtrockenen Unterwelt auf ein Nest. Zwei winzige, fast nackte Vogeljungen sperrten erschreckt ihre Schnäbel auf, mir entgegen. Hatte ich die Eltern durch meine Schläge in den Brennnesselwald vertrieben? Ich ging weg und mied die Stelle fortan. Ein weiteres Mal erschreckte mich ein Schlänglein, das seinerseits vor mir floh. So legte ich große Flächen frei. Befriedigt blickte ich über ein Feld, auf dem zwischen halbhohen Stoppeln grau-grüne Blättermassen welkten. Der Krieg gegen die Nesseln beschäftigte mich mehrere Nachmittage. Dann begann es vielleicht zu regnen oder mein Vater trug mir eine andere Arbeit auf. Die geköpften Stauden trieben an den Wurzeln neu aus und stellten in kurzer Zeit den grünen Teppich wieder her. Kehrte ich nach einigen Wochen an die Stätte meines Feldzugs zurück, bot sich beinahe wieder das ursprüngliche Bild weithin wogenden ätzenden Nesseltums. Ich schwang den Stock und stürzte mich gleich wieder in die Schlacht. In unserem Hühnervolk hatte ich übrigens keine Bundesgenossen. Die dummen Tiere, dachte ich, in deren Interesse ich doch meinen Schweiß vergoss, sie schauten mir eine Weile verständnislos von fern zu und kratzten dann in der fetten Gartenerde weiter nach Würmern.
Mein Vater betrachtete meine Feldzüge mit gemischten Gefühlen, das war ihm deutlich anzumerken. Wenn er mir begegnete und mich am Werk sah, leuchteten seine Augen teilnahmsvoll, aber um den Mund zuckte es ärgerlich. Er schien unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. So räusperte er sich und ging dann weiter, ohne ein Wort gesagt zu haben. Nach einigen Schritten sah er sich nach mir um und warf mir einen langen Blick zu, in dem so viel demonstratives Wohlwollen lag, dass ich unsicher und misstrauisch wurde. Vielleicht nahm er sich gerade vor, mich an Orten zu beschäftigen, die ihn weniger an seine eigenen gescheiterten Projekte erinnerten? Zunächst durfte ich die kleinen Blechkrippen, aus denen die Küken fraßen, mit angenehm duftendem Futtermehl füllen. Dabei wurde ich von ihm fürs Familienalbum fotografiert.

Wenige Jahre später sollte es heißen: "Wenn der Beamte kommt, dann sag ihm bloß nicht, dass du den Hof nicht übernehmen willst." Mein Vater war Landwirt und hatte einen größeren staatlichen Kredit für einen Hausbau beantragt. Ich war der einzige Sohn und ohne Aussicht auf einen Hoferben würde der Kredit vielleicht nicht bewilligt werden. Von Zeit zu Zeit tat mein Vater so, als sei noch alles offen. Dann hielt er mich zur Mitarbeit an, übertrug mir kleine Aufgaben. So hatte ich einmal den erwähnten Beamten im Gelände herumzuführen. Wir gingen den Brennnesselpfad abwärts. Der Beamte tat sich schwer und sagte: „Alles sehr romantisch, aber für Landwirtschaft völlig ungeeignet.“

Und dann trugen die Buschbäume erstmals reichlich. Meinem Vater fehlte die Zeit, selbst alles abzuernten. Er war ein gehetzter Mann. Ich lief ihm zur falschen Zeit über den Weg.
"Es wird Zeit, dass du dir einmal einen Überblick über unser Wirkungsfeld verschaffst ..." Er liebte allgemeine Betrachtungen als Einleitung, ich fand seine Ausdrucksweise dann geschraubt. Bald kam er, schon barscher, zur Sache: "Die Pfirsiche müssen vom Baum. Du wirst sie herunterholen, gleich jetzt." Ich hatte Besseres vorgehabt: mich draußen in der Landschaft mit Jungen aus der Nachbarschaft zu treffen. Da gab es eine Mulde mit vielen Quellen und kleinen Bächen. Man konnte sie leicht aufstauen und dann das Wasser auf einmal als Sturzbach, alles wegreißend, abfließen lassen.
Mein Vater bemerkte meinen Unwillen und beschloss, die Sache rasch abzumachen. Er sagte in scharfem Ton: "Dort am Rand steht der Baum. Siehst du ihn? Hol sofort den großen Korb aus dem hinteren Keller und stell ihn nachher aufs Treppenpodest." Er ging schnell weg. Er hatte sich durchgesetzt, mein Wille war gebrochen. Ich machte mich eilig an die Arbeit. Wenn ich bald fertig war, konnte ich doch noch zu den Quellen gehen.
Das Buschbäumchen war schon zur Hälfte leer gepflückt. Die Früchte lagen im Korb. Da stellte ich fest, dass diese Pfirsiche noch hart waren. Sie waren ziemlich klein und von graugrüner Farbe. Offenbar waren sie unreif. Richtig, reif waren die Früchte des nächsten Baumes in der Reihe. Wie hatte ich mich so täuschen können? Mein Fehler musste vertuscht werden. Ich kippte den Korb um, die vorzeitig gepflückten Früchte kollerten den Abhang hinunter und verschwanden unter wilden Himbeeren. Dann pflückte ich die schönen roten Pfirsiche vom Nachbarbaum.
Mein Vater kam unerwartet zurück, um mich zu kontrollieren. Er lobte mich und nahm einen Pfirsich aus dem Korb. "Schöne Früchte, gut geraten. Wenn nur alles so gut würde." Er ließ den Blick über die anderen Bäume schweifen. Fiel ihm nichts auf? Da trug ein Baum nur auf einer Seite Früchte, es sah doch sonderbar aus. Mein Vater sagte nichts. Wir trugen den Korb zum Haus. Ich fragte mich, ob er wirklich nichts bemerkt hatte.

Im Winter darauf gründeten wir eine Schülerzeitung. Ich suchte Stoff für meinen ersten Artikel und kam auf die Sache mit den Pfirsichen. Ich beschrieb es so, wie es sich abgespielt hatte, doch nicht als Ich-Erzählung. Die Geschichte war einem Jungen namens Werner passiert. Am Schluss stellte ich die Frage: Und war Werners Vater am Ende wirklich nichts aufgefallen? Oder machte er sich Vorwürfe, den richtigen Baum nur von fern und in Eile gezeigt zu haben?
Ich war ursprünglich kein verschlossenes Kind. Als die erste Nummer der Schülerzeitung verteilt war, erzählte ich es meiner Mutter. Mein Vater hörte beim Mittagessen davon und wollte das Heft sehen. Mir fiel keine Ausrede ein, ich brachte es ihm, auch neugierig, wie er es aufnehmen würde. Es war meine Erstveröffentlichung, und mein Vater war der erste Leser, dessen Reaktion ich kennenlernte. Er ging den kleinen Bericht durch. Unmittelbar danach las ich einander widerstreitende Gefühle von seinem Gesicht ab. Kam noch etwas? Mein Vater sagte - nichts.
Vielleicht bilden wir uns den Ablauf der Zeit wirklich nur ein. Vielleicht ist alles nur sich endlos dehnende Gegenwart. Im Grunde schreibe ich noch immer, um mir Fragen zu stellen, die mein Vater unterlassen hat.


Im Umkreis der väterlichen Macht fühlte ich mich oft unbehaglich, konnte zum Glück entweichen. In den ersten Jahren wanderte ich fast jeden Abend zurück zu den Großeltern. Später, als unsere Mieter ausgezogen waren, blieben die Verhältnisse in der Baracke beengt. Oma Elses luftige, lustige Villa war eingestürzt und die Ruine, bald von Holunderbüschen halb verdeckt, passte gut in das Bild eines Englischen Gartens, dem das väterliche Anwesen immer ähnlicher wurde. Meine Eltern überließen der alten Frau die gerade frei gewordenen Räume. Wenn ich doch einmal auf der Klappcouch übernachtete, hörte ich jetzt auch die Mäuse, die im Zimmer herumtrippelten. Ich ekelte mich vor ihnen.
Das liebste Tischgespräch der Großeltern war: was auf den Tisch kam, bei ihnen selbst - und vor allem: bei den anderen. Großmutter schnob durch die Nase und dann kam ihr Standardspruch: „Weißt du, Opa, was es bei denen gibt – Margarine!“ Opa grinste amüsiert und sagte verächtlich: „Ach so, Margaretchen …“ Das hieß: erledigt, indiskutabel diese Leute. Wenn einer sich statt Butter Margarine aufs Brot schmierte, war das für die beiden der untrügliche Beweis, dass der Ärmste sich nichts leisten konnte. Nur eine Gruppe war noch übler dran als diese Margarinefresser – die, die überhaupt nichts zu beißen hatten. Auf sie gemünzt lautete die Feststellung, in hochdramatischem Ton vorgebracht: „Die? Die haben das Brot nicht über Nacht im Haus!“ Schlimmer konnte es um einen nicht stehen.
Nun waren die Not- und Hungerzeiten schon länger vorbei, auch die Fresswelle der Fünfziger abgeklungen. Die Wirtschaftswunderjahre standen in ihrem Zenit, Diäten wurden langsam ein Thema, bald wird Twiggy die Bühne betreten. Woher dann diese panische Sorge ums tägliche Brot, die anhaltende Wut auf die Margarine und die Vergötterung der Butter bei den Alten? Daumendick versprach die Großmutter sie dem Enkel aufs Brot zu streichen – doch er war ein schlechter Esser. Tante Martha, eine von Großmutters Schwestern, gab ihm eines Tages einen Tipp. „Weißt du“, sagte sie, „deine Großeltern behaupten immer, andere könnten sich nichts zu essen leisten, nur bei ihnen soll’s was Gutes geben … Das musst du nicht glauben. Ein bisschen viel Propaganda, meine ich. Deine Oma will sparen und das neue Haus schnell abbezahlen. Und deinem Opa macht sie es mit dem Gerede schmackhaft … Aber sag’s ihnen bloß nicht.“ Ihre Bemerkung – gepriesen sei sie dafür - führte für den Jungen zur ersten Einübung in Kritik und in selbständiges Denken. Er hörte nun genauer hin und erfasste bald Form und Inhalt der abendlichen Responsorien als Ganzes, ihre Struktur sozusagen. Sie liefen stets etwa so ab, wenn er die Küche betrat:

GROSSMUTTER: Ah, du kommst grade recht. Willst du mit uns essen? Haben dir deine Eltern nichts gegeben? Aber hier ist der Tisch immer gedeckt.“
ENKEL (schweigt, wohl wissend, dass eine Antwort nicht erwartet wird.)
GROSSVATER: Frau, jetzt lass uns aber anfangen. Ist noch von der Blutwurst da? Ist das alles an Brot?
GROSSMUTTER: Nein, da unten liegt noch ein Dreipfünder. Als ob uns das Brot je ausgegangen wär! Das wär ja furchtbar – das Brot nicht über Nacht im Haus haben. Aber das kommt bei Leuten vor, von denen es keiner glaubt. Schicke Kleider und neue Mäntel und immer noch ein Hütchen …
GROSSVATER: Ja, außen hui – aber das Brot nicht über Nacht im Haus …
GROSSMUTTER (bringt von der Veranda einen kleinen gusseisernen Topf herein): Und dann müssen sie jetzt auch einen Kühlschrank haben. Aber es ist nichts drin bei ihnen! Das hier ist unser Kühlschrank. Mit Butter und mit Wurst.
GROSSVATER: Kühlschrank? Alles nur Geschäftemacherei! Ist die Blutwurst noch in Ordnung? (Er riecht an ihr.)
GROSSMUTTER: Kann man sie noch essen? Geht wohl noch, hab ich erst vorgestern geholt. Bis zum Oberen Markt bin ich gelaufen, nicht mit der Straßenbahn, alles zu Fuß. Dort war sie wieder billiger. Warum soll ich denen hier die Wurst teuer bezahlen? Da lauf ich doch lieber bis zum Pilatus …
ENKEL (schweigt weiter. Ihm fällt auf, dass sie hier in Widerspruch zu ihrer Lieblingsmaxime sonst gerät: Der Preisunterschied liegt immer in der Ware, sagt sie, wenn sie sich in einem Geschäft das Ansehen einer potenten und kundigen Käuferin geben will – aber er hütet sich, die liturgische Handlung durch blasphemische Äußerungen zu stören. Man ist inzwischen zu Tisch gegangen.)
GROSSVATER (schneidet Scheiben vom Brotlaib für alle ab, jeder bestreicht die seine mit Butter und belegt sie mit der preiswerten Blutwurst): Das schmeckt wirklich gut.
GROSSMUTTER: Ja, beim Essen darf man nicht sparen.
GROSSVATER: Aber das machen die meisten, beim Essen sparen.
GROSSMUTTER: Wann gibt’s da schon mal Wurst?
GROSSVATER: Oder Butter?
GROSSMUTTER: Margarine!!!
GROSSVATER: Mit Fenner Harz drauf!
GROSSMUTTER: Und Fleisch …
GROSSVATER: … kennen die gar nicht. Das ist doch so wichtig. Sonntags ein Stück Fleisch, das gibt Kraft.
GROSSMUTTER: Fleisch, das ist für die meisten Leute ein Fremdwort.
GROSSVATER: Bub, sag, gibt’s bei euch droben so oft Wurst wie hier? Und wann kommt bei euch mal Fleisch auf den Tisch?
ENKEL (weiß, dass jetzt eine Antwort erwartet wird und welche. Aber zu Hause gibt es jeden Tag Wurst und nicht allezeit dieselbe billige Blutwurst. Und sie haben daheim nicht nur sonntags ihr Huhn im Topf, es ist ihm schon über. Also antwortet er zögernd und ungenau, in der Hoffnung, es allen recht zu machen): Nei – ein. (Und das war nun eine frühe Einübung in Unaufrichtigkeit und auch in Scham darüber.)
GROSSMUTTER: Sein Vater macht sich auch noch lustig über mich, weil ich überall auf den Preis sehe. Behauptet, ich verbrauche alles für neue Sohlen, was ich an der Wurst spare.
GROSSVATER (zum Enkel): Dein Vater ist kein Kaufmann. Sieh nur, wie er mit Kunden umgeht – so zurückhaltend darf man nicht sein. Und was er alles anfängt, nun auch noch mit Blumen. Das bringt doch nichts. - Frau, jetzt die Dickmilch.
GROSSMUTTER (schüttet jedem eine große Tasse voll.)
GROSSVATER: Die Dickmilch! Etwas Besseres gibt es nicht. Eine halbe Stunde vorm Tod eine Tasse Dickmilch und du stirbst nicht!
GROSSMUTTER: Nachher wirst du dir wohl eine drehen? Reicht der Tabak noch bis Samstag, wenn ich wieder in die Stadt gehe? Das schöne Geld, aber ein Laster darfst du auch haben.
Großvater drehte sich sehr langsam seine Zigarette und rauchte sie ebenso behutsam, mit sichtlichem Behagen. Er schaltete das Radio ein. Wir hörten „Die bunte Abendpost“, die mit schmissiger Erkennungsmelodie begann. Es folgten Kalauer im Dialekt. Ein älteres Paar trug einen Dialog vor, über den meine Großeltern lachten. Es war fast wie bei ihnen, nur dass im Radio der Mann das Stichwort lieferte, manchmal kluge Kalendersprüche in Hochdeutsch, und die Frau das Echo abgab. Ich langweilte mich und hörte bald nicht mehr hin. Wieder einmal versenkte ich mich in den Anblick des großen Bildes an der Wand: fahles Zwielicht über dem Vierwaldstätter See. Ein hübscher Bauer winkt einer jungen Frau zu, die aufrecht in ihrem kleinen Boot stehend auf den See hinausrudert. An unserer Küchenwand tickte und tackte der schwarze Uhrkasten, schwerfälliges, schwarzes Biedermeier. Um sieben wurde ich auf mein Zimmer geschickt, damit ich es in der Schule zu etwas brächte.

Großmutter ihrerseits nahm gerade einen neuen Anlauf, es zu noch mehr an Vermögen zu bringen. Erst hatte sie gezögert, die Baulücke neben dem Biedermeierhaus zu schließen, sich also noch einmal zu verschulden. Dagegen sprach vor allem, dass Großvater schon Rentner war. Meine Großmutter besaß zwar nicht die Bildung, die ich mir erst aneignen sollte, dafür verfügte sie über Instinkt, der sie sicher durch unübersichtliche Zeiten brachte. Die allgemeine Lage unterschied sich nur wenig von der zu Beginn ihrer Ehe. Wir teilten wieder die Schicksale der Franzosen, ihre Währung galt bei uns und sie verlor an Wert. In den Jahren, in denen ich mit zu Frau Klein ging, ereignete sich viel, von dem ich damals nichts erfuhr oder begriff. Die Schlacht bei Dien Bien Phu ging verloren, dann Indochina; Marokko und Tunesien schieden aus dem Kolonialreich aus; in Algerien brach der Aufstand los. Die Kriege kosteten viel Geld. Die rasch wechselnden Regierungen in Paris finanzierten sie über Inflation.
Im Jahr fünfundfünfzig durfte das Ländchen erneut abstimmen und lehnte es wiederum ab, ein politisch separates Gebilde zu sein, wirtschaftlich an Frankreich gebunden. Die Kampagne wider das Statut, das zur Abstimmung stand, war die erste politische Bewegung, die ich bewusst miterlebte. Die Mieter im Biedermeierhaus lehnten das Statut ab, meine Großeltern waren als überzeugte Separatisten bekannt. Eines Tages drückte mir der halbwüchsige Sohn der Mieter einen Bogen mit Etiketten in die Hand, Parolen, die ein Nein zum Statut forderten. Wie mir der sympathische Junge es auftrug, beklebte ich damit die Haustür meiner Großeltern. Der kleine Skandal ging vorüber, die Großeltern rechneten ohnehin nicht damit, dass ihre Richtung sich durchsetzen würde. Nach der Abstimmung zeichnete sich ab, dass wir bald wieder zum Reich gehören würden. Als der Vertrag darüber im Oktober sechsundfünfzig unterschrieben wurde, stand unser Rohbau schon und wenige Monate nach dem politischen Anschluss zogen die beiden Mietparteien ein. Wirtschaftlich erfolgte die Rückgliederung erst zwei Jahre später. Die Zeit bis dahin nutzten meine Großtanten dafür, die billigeren deutschen Industriewaren ins französische Währungsgebiet zu schaffen. Wöchentlich fuhren sie hinüber und die Schmuggelei bildete den Hauptgesprächsstoff bei jedem Kaffeeklatsch. Meine Großmutter beteiligte sich an diesen Fahrten nicht, sie nutzte die Zeit auf ihre Weise. Nach dem Suezabenteuer verschlimmerte sich die Inflation und die Tilgung des Bankdarlehens wurde immer leichter. Das vermietete Haus am Waldrand war verkauft und der Erlös in den Neubau investiert. Es gab noch eine Währungsreform, der Franc wurde im Verhältnis 1 : 100 abgewertet - und wir hatten in der Lotterie gewonnen, wie meine Großmutter gern sagte.
Das neue Haus war das Kronjuwel im großelterlichen Imperium, der Beweis, dass nicht alle Kleinbürger infolge von Kriegen und Inflationen verarmten. Einige aus dieser Klasse hatten sich über ihre Nachbarn erhoben wie die Stinnes und Thyssen über die Masse der Kapitalisten. Wie stolz war die Großmutter, wenn sie an dem soliden neuen Kasten vorbeikam. Er enthielt zwei Drei-Zimmer-Wohnungen mit richtigen Bädern, die Ausnahme noch in dieser Straße. An die Fassade hatte der Architekt kaum einen Gedanken verschwendet. Konnte man dieses weiß verputzte Mauerwerk ohne Zierat, ohne Gliederung der Fenster überhaupt eine Fassade nennen? Unsere Straße wirkte wie ein Freilichtmuseum, das den Fortschritt der inneren Ausstattung und den Verfall äußerer Formen in eineinhalb Jahrhunderten augenfällig werden ließ. Allerdings war auch dieses Straßenbild nur von kurzer Dauer. Als die letzte Baulücke geschlossen war, ging die nächste Generation daran, die älteren Schachteln auszumisten und aufzumöbeln. Es wurde der Stuck heruntergeklopft, es wurden die hohen Fliederbüsche abgeholzt, die verspielten Parkmäuerchen abgetragen und an die Stelle eines Rundbogens oder eines Holzerkers traten Glasbausteine, darunter sogar farbig leuchtende. Die ausgeräumten Vorgärten waren bereit, alte Wagenräder, Holzkarren oder Butterfässer aufzunehmen. Man erwarb diese Versatzstücke einer Ländlichkeit, die es hier kaum gegeben, auf dem Flohmarkt oder bei einem Trödler in der nächsten Großstadt.
Als das neue Haus bezogen war, verlor ich mein Interesse an ihm. Wie viel hatte es auf der Baustelle zu sehen gegeben! Man darf aber nicht fortgeschickt werden, nur weil man erst sechs ist. Man muss alles aus der Nähe betrachten und untersuchen dürfen. So viel lag da zwischen Baugrube und Straßenrand herum und wartete darauf, verbaut zu werden.
Es gab zum Beispiel Haufen von rotem und von weißem Sand. Nur in der Farbe unterschied er sich. Wir Kinder drangen mit den Händen ins Innere dieser Sandberge vor, die höher waren als wir selbst. Jedenfalls waren sie es, bevor wir damit anfingen. Es war sehr spannend, im Sand kleine Höhlen zu bauen. Wir trieben dazu Stollen hinein und warteten ab, ob die ausgehöhlten Berge vielleicht einstürzten. Das kam manchmal vor. Bei unserer Arbeit entdeckten wir Verschiedenes. An warmen Tagen hatte die äußere Sandschicht eine hohe Temperatur. Wo die Sonne daraufschien, glühte der Sand beinahe. Er war trocken und rieselte fein wie Zucker. Drangen wir dann mit unseren Fäusten ins Innere vor, nahm seine Temperatur schnell ab. Der Sand dort klebte feucht an den Händen. Mit ihm konnten wir die Decken der von uns schon ausgehöhlten Stellen festklopfen.
Um sich zu entspannen, sprangen die kleinen Bauarbeiter auf die Gipfel und Hochflächen der von ihnen noch nicht eingeebneten Sandberge und rutschten auf ihren Hosenböden zu Tal. Noch mehr Spaß machte es, wenn man sich im Rutschen auf die Seite warf und von den nachfolgenden Sandmassen ein bisschen verschütten ließ. Wie das prickelte, wenn der Arm oder ein Bein vom Sand niedergedrückt wurde. Aber wenn man wollte, kam man immer schnell wieder frei.
Doch bald schimpften die Maurer. Es war ihnen zu viel Arbeit, eine Schubkarre mit Sand zu füllen, wenn das Material nun in kleine Haufen verteilt war. Nach einem Regenguss verfolgten wir den Weg des weggeschwemmten Sandes. Er führte in Schlieren zum Rinnstein, Sandkorn für Sandkorn. Wieder waren wir schuld und der Großvater wurde gerufen. Wir durften nicht mehr mit dem Sand spielen.
Da kam uns etwas anderes in den Sinn. Wir mussten nur warten, bis die Maurer Feierabend hatten. Danach machten wir uns rasch ans Werk und bauten aus Hohlblocksteinen unser eigenes Haus. Die Steine waren zum Glück nicht so schwer, wie sie aussahen. Wir schleppten sie zu zweit zu unserer Baustelle. Sie lag hinter dem Bauwagen und blieb daher von Nachbarn und Passanten lange unbemerkt. Auf Mörtel mussten wir verzichten, das Häuschen sollte noch vor dem Abendessen fertig werden. Es gab nur ein Zimmer und es hatte kein Fenster, aber vier Ecken, wie es sich gehört. Das Dach machte uns etwas Kopfzerbrechen. Schließlich fanden wir ein großes Stück Dachpappe, das wir mit viel Mühe über die aufgeschichteten Wände warfen. Dabei wackelten die Mauern, beinahe wäre alles zusammengefallen. Dann gingen wir hinein. Innen konnte man aufrecht stehen. Wir waren alle sehr stolz auf unser Werk. Wir hatten etwas geschafft und fühlten uns in unserem eigenen Haus jetzt wohl und sicher.
Leider war es inzwischen Zeit für das Abendbrot geworden. Wir verabredeten, später alle noch einmal zu unserem neuen Haus zu kommen. Ich ging als Erster heim. Kaum saß ich mit den Großeltern am Tisch, kam ein Nachbar angerannt und berichtete von unseren neuesten Taten. Der Steinhaufen könne jeden Augenblick in sich zusammenstürzen, sagte er, und die restlichen Kinder unter sich begraben! Großvater unterbrach seine Mahlzeit und rannte zur Kinderbaustelle, um die Steinblöcke abzutragen. Ich musste an diesem Abend im Haus bleiben und bekam eine Strafpredigt gehalten. Immer wieder hieß es da: gefährlich und unvernünftig. Ich begriff es nicht ganz, wir hatten uns doch so geborgen gefühlt, da drinnen in unserem Haus. Wir mussten uns etwas Neues ausdenken.
 
Hallo Arno,

vielen Dank dafür, dass Du Kindheitserinnerungen in mir wachgerufen hast, wenn auch keine guten. Aber so schreckliche nun auch wieder nicht. Meiner Oma habe ich übrigens meine Großzügigkeit und Freigiebigkeit und meinen Hass auf Geiz zu verdanken. Das ist wohl eine Gegenreaktion darauf, was ich da erlebt habe. Du hast mir meine Großmutter geklaut. Ich bin mir völlig sicher, dass wir dieselbe Großmutter hatten.
Meine Stiefoma, Witwe mit erwachsenem Sohn hatte Mann mit erwachsener Tochter geheiratet, war genauso wie Deine. Das Gegeize da immer. Ein Alptraum meiner Kindheit war, als ich Lebenwurst beim Fleischer holte, meine Oma nachwog und mich an der Hand hinter sich her wieder in den Laden zog. Dort machte sie ein Fass auf. Der Laden war voll, und die anderen Kunden haben uns komisch angekuckt. Und das schlimmste war: In diesen Laden musste ich ja noch öfter. Und natürlich haben sich die Verkäuferinnen mein Gesicht gemerkt.

Der Dialog war übrigens köstlich. Man kann sich richtig vorstellen, wie sie dasitzen mit ihrer billigen Blutwurst. Mir hat nur eines bei dem Abendmahl gefehlt, und plötzlich hast Du das auch erwähnt: Dicke Milch. Ein Alptraum für mich. Auf dem Fensterbrett standen immer zwei Schälchen. Darin wurde saure Milch dick. Obendrauf lag eine Brotscheibe, die mit Zucker bestreut wurde. Zum Glück sind sie nie soweit gegangen, mir das zuzumuten. Allein bei dem Gedanken bekam ich schon Brechreiz.

Ich werde auch die eine Woche, wo wir nur Spinat gegessen haben, den ich heute übrigens sehr gerne esse, damals leider nicht, nie vergessen. Wenn wir beim Abendbrot saßen, die beiden ihre dicke Milch löffelten mit verzückten Gesichtern, und wegen mir extra ein Ei gebraten werden musste, erntete ich böse Blicke von ihnen, und mir wurde vorgeworfen, meine Großeltern an den Bettelstab bringen zu wollen. “Sag du doch mal was dazu Willi”, herrschte meine Oma meinen Opa an.

Auch mein Oma sparte den Kühlschrank ein. Ebenfalls wusch sie ihre Wäsche mit der Hand. Der Waschautomat stand jahrelang in der Verpackung auf dem Flur, bis ihr Sohn ihn sich abholte.

Butter war auch ein Thema bei meiner Mutter. Ein Dorf weiter gab es eine Familie mit fünfzehn Kindern. Das älteste Mädchen war in ihrer Klasse. Die Leute erzählten sich, dass man sich dort Sonja, die billigste Margarine im Osten, aufs Brot strich. Wie fruchtbar. Tiefer konnte man nicht sinken. Immer, wenn ich heute Sonja im Kühlregal sehe, muss ich an die Familie denken. Ich hasste Butter als Kind und kratzte sie immer heimlich vom Brot ab.
Es ist immer noch ein Akt der Rebellion für mich, wenn ich auf eine Scheibe Brot einfach eine Scheibe Schinken lege. Das können viele, die mal bei mir zu Gast waren, nicht begreifen. Von Kindheit an sind wir ja daran gewöhnt worden, Fett aufs Brot zu streichen. Meine Gäste fragen mich immer ganz verzweifelt nach Butter oder Margarine und lassen sich das auch nicht ausreden. Mein Freund, Spanier, träufelt sich immer Oel aufs Brot.

Gruß Friedrichshainerin
 
Danke, Friedrichshainerin, für deine aufschlussreichen Anmerkungen. Von besonderem Interesse waren für mich die Übereinstimmungen im Alltagsverhalten der Großmütter. Ich fand darin bestätigt, dass es über große Distanzen, über Staatsgrenzen und zum Teil auch noch über Generationen eine Art kultureller Identität innerhalb annähernd derselben sozialen Schicht geben kann. Worin mag das begründet sein? Tradition, ökonomische Verhältnisse, Stand der zivilisatorisch-technischen Entwicklung?

Ich erfinde es jetzt nicht: Auch meine Oma besaß lange nur eine Waschmaschine, die nicht benutzt wurde. Im Keller stand ein Monstrum aus der Vorkriegszeit; unklar, ob es jemals gebraucht worden war. Sie wird im nächsten und letzten Teil die Kulisse für eine unfrohe Badeszene bilden, ebenso wie eine peinliche Fleischwurstepisode in der Schlachterei. Es waren also immer dieselben Requisiten in einem kleinbürgerlichen Ausstattungsstück.

Allerdings bin ich längst frei von allen negativen Einstellungen, ich denke oft an diese Menschen, mit mehr Verständnis als früher, oft ist da jetzt eine Art verspätetes Mitleiden. Sie sind lange tot, das Einzige, was getan werden kann, ist die Fixierung und Gestaltung von Erinnerung. Ihre Spuren sind so Stoff für Literatur.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 



 
Oben Unten