Horst M. Radmacher
Mitglied
Mit Zucken der Augenlider fing es an. Als schwere Schlafstörungen hinzukamen, die Antriebsschwäche und Konzentrationsmängel verstärkten, konsultierte Kilian Funke seine Hausärztin. Für diese gab es kein Vertun: der Patient leidet unter einem stressbedingtem Erschöpfungszustand. Für diesen eine nicht ganz unerwartete Diagnose, er fühlte sich überfordert. Die gutgemeinten allgemeinen Ratschläge der Ärztin hörten sich vernünftig an, gaben ihm aber wenig Hoffnung auf baldige Besserung. Einen Schub nach vorne erhielt er durch die Empfehlung, drei Wochen auszuspannen, alle belastenden Situationen zu meiden. Dies ergab für ihn Sinn. Und Kilian hatte sofort eine Idee, wie dies zu bewerkstelligen wäre.
Er begab sich auf eine Reise nach Schweden, in die kleine Stadt Vimmerby im Südosten des Landes. Hier in der Nähe des Themen- und Theaterparks der Schriftstellerin Astrid Lindgren hatte er als Kind mit seinen Eltern unvergessliche Ferientage verbracht. Er war sicher, auch jetzt würde ihm diese Ponyhofidylle, ein Leben wie im Dorf Bullerbü, gut tun. Die Anfahrt aus seinem Wohnort in Mecklenburg-Vorpommern per Auto und Fähre nach Trelleborg in Schweden bewältigte er auch in seinem Zustand ohne Probleme. Und dort fand er alles so vor, wie erhofft. Er sog die Ruhe dieser ländlichen Idylle vom ersten Tag an förmlich in sich auf; die Aura von Pippi Langstrumpf lag über dem Land. Kilian fühlte sich schnell auf einem guten Weg. Er konnte es kaum glauben, es schien alles wie vor knapp dreißig Jahren zu sein. Und schon nach wenigen Tagen konnte er wieder ruhig durchschlafen, was unter anderem auch auf die langen Waldspaziergänge zurückzuführen war. Er wandelte auf bekannten Pfaden, so empfand er es. Bald stieß er in einer Lichtung des Kiefernwäldchens auf den riesigen Findlingsblock aus Granit, der früher Mittelpunkt fantasiereicher Spiele gewesen war. Zusammen mit den Kindern des nahen Dorfes hatten sie hier einen großen Teil ihrer Freizeit verbracht. Und ihre Superheldin Pippi Langstrumpf schwebte immer über allem; die Kinder spielten deren Abenteuer nach. An diesem mächtigen Stein unterbrach Kilian nun seine täglichen Wanderungen, dieser Felsen wurde zum Ruhepunkt seiner Exkursionen. Dann, in der letzten Nacht seines Erholungsaufenthalts in Schweden, durchlebte er einen furchtbaren Albtraum. Er träumte, er müsste einen schweren Stein einen Hügel hinaufrollen, was ihm jedoch nicht gelang. Dann wurde es bizarr. Es wurde ihm zur Bewältigung Hilfe angeboten, ausgerechnet von Sisyphus, dem erfahrenen 'Steinhinaufroller'. Und gemeinsam mit diesem mühte sich Kilian im Traum bis zur Erschöpfung ab. Die Aufgabe war jedoch auch zu zweit nicht zu bewältigen, der Stein rollte ständig zurück. Schweißnass und verstört erwachte er am Morgen und trat später am Tag seine Heimreise an.
Einige Tage lang hielt der der Erholungseffekt der Reise an. Dann kam der Kipppunkt. Ihm, als Vermessungstechniker einer regionalen Baubehörde, wurde eine Mitschuld für das aufsehenerregende Absacken eines Teilstücks der Autobahn A20 zwischen Lübeck und der polnischen Grenze angelastet. Er gehörte seinerzeit zwar dem Planungsteam an, war sich jedoch keines Fehlers bewusst. Diese unerhörte Anschuldigung traf die Seele Kilian Funkes schwer, massive Schlafstörungen machten ihm wieder zu schaffen. Er hatte erneut diesen steinigen Traum: Gemeinsam mit Sisyphus einen Felsbrocken hochrollen zu müssen und immer wieder daran zu scheitern. Und es kam noch schlimmer. In der gesteigerten Absurdität dieses Traumes erhielten die beiden Unglückseligen Unterstützung. Ihnen wurde durch Pippi Langstrumpf, der anarchisch freien und mit riesen Kräften ausgestatteten Heldin seiner Kinderzeit, Hilfe zuteil. Aber auch diese Traumsequenz endete tragisch. Der unglücklich agierende Sisyphus versagte; er ließ den großen Brocken unkontrolliert rollen und dieser zerquetschte Pippi Langstrumpf. Das war zu viel für Kilian. Dieses Traumerlebnis, am Tag als Pippi Langstrumpf starb, warf Kilian Funke aus der Bahn. Er kam nicht mehr zur Ruhe; seine schweren Schlafstörungen machten ihn zum seelischen Wrack. Den Alltag konnte er nur noch unter schwerer Medikation bewältigen. Kurze Zeit später schied er aus dem Berufsleben aus.
Was dann folgte, war ein Leben in einem seelischen Dauertief, das er nur noch unter Einfluss von Psycho-Pharmaka bewältigen konnte. Dennoch, Kilian war im Grunde ein durchstrukturierter Mensch, der feste Regeln brauchte. So taktete er bald regelmäßige Auftritte im Internet; das World Wide Web wurde zu seinem Zufluchtsort. Nach ungezählten Tagen und Nächten hatte er sich in der digitalen Welt der Chatrooms und der Foren heimisch eingerichtet. Dies wurde zu seinem Leben mit den Menschen 'da draußen'. Und hier lebte er seine Emotionen aus und stellte fest, es waren die Gefühle anderer, die ihn besonders intensiv ansprachen; ganz speziell die Reaktionen auf seine immer bissiger werdenden Kommentare. Kilian wurde zu einem Troll, einer von diesen bösartigen Zeitgenossen, die gezielt andere Mitglieder einer Community im Internet emotional angreifen, um sich an deren Reaktionen zu ergötzen. Aber schon bald durchschauten etliche User ihn, allein aufgrund seines Pseudonyms, 'pitbull' wurde er geoutet. Rückmeldungen auf seine Attacken blieben daraufhin aus, er wurde ausgegrenzt. An dem Punkt wäre eine Umkehr noch machbar gewesen. Kilian überdachte nur kurz seine Lage und entschied sich gegen einen Ausstieg, der vermutlich auch nur noch mit professioneller Hilfe möglich gewesen wäre. Aber das Leben in der Anonymität unter dem Schutz eines Pseudonyms blieb sein Lebensinhalt. Hier konnte er seine niederen Instinkte ausleben. Er wechselte das Pseudonym; statt einen Namen mit aggressiver Deutung, wählte er einen sanfteren. So wollte er auf subtile Art tiefer in die Emotionen seiner Mitmenschen gelangen. Der Name 'pippi' erschien ihm hierfür ideal: positiv besetzt durch die taffe Mädchengestalt Pippi Langstrumpf. Auch eine andere mögliche Assoziation dieses Begriffs wäre ihm recht gewesen. Dass er seine tatsächliche Geschlechtszugehörigkeit mit dem Pseudonym 'pippi' verschleierte, empfand er als besonders gelungen.
Kilians virtuelles Leben nahm wieder an Fahrt auf. Die Formulierungen wurden geschliffener, seine unterschwelligen Attacken aggressiver. Er weidete sich an den empörten und verschreckten Reaktionen seiner Opfer. Für ihn hatte das fast eine erotische Dimension - als Neurotiker sah er sich aber nicht. Das alles hatte ein Ende, als einer der Chat-Teilnehmer 'pippi' als Troll identifizierte. Schluss mit, „zwei mal drei macht vier...“. Mit einem energischen, „Pippi, troll dich!“ wurde er aufgefordert, sich aus dem Forum zu verziehen. Aber Pippi blieb.
Er begab sich auf eine Reise nach Schweden, in die kleine Stadt Vimmerby im Südosten des Landes. Hier in der Nähe des Themen- und Theaterparks der Schriftstellerin Astrid Lindgren hatte er als Kind mit seinen Eltern unvergessliche Ferientage verbracht. Er war sicher, auch jetzt würde ihm diese Ponyhofidylle, ein Leben wie im Dorf Bullerbü, gut tun. Die Anfahrt aus seinem Wohnort in Mecklenburg-Vorpommern per Auto und Fähre nach Trelleborg in Schweden bewältigte er auch in seinem Zustand ohne Probleme. Und dort fand er alles so vor, wie erhofft. Er sog die Ruhe dieser ländlichen Idylle vom ersten Tag an förmlich in sich auf; die Aura von Pippi Langstrumpf lag über dem Land. Kilian fühlte sich schnell auf einem guten Weg. Er konnte es kaum glauben, es schien alles wie vor knapp dreißig Jahren zu sein. Und schon nach wenigen Tagen konnte er wieder ruhig durchschlafen, was unter anderem auch auf die langen Waldspaziergänge zurückzuführen war. Er wandelte auf bekannten Pfaden, so empfand er es. Bald stieß er in einer Lichtung des Kiefernwäldchens auf den riesigen Findlingsblock aus Granit, der früher Mittelpunkt fantasiereicher Spiele gewesen war. Zusammen mit den Kindern des nahen Dorfes hatten sie hier einen großen Teil ihrer Freizeit verbracht. Und ihre Superheldin Pippi Langstrumpf schwebte immer über allem; die Kinder spielten deren Abenteuer nach. An diesem mächtigen Stein unterbrach Kilian nun seine täglichen Wanderungen, dieser Felsen wurde zum Ruhepunkt seiner Exkursionen. Dann, in der letzten Nacht seines Erholungsaufenthalts in Schweden, durchlebte er einen furchtbaren Albtraum. Er träumte, er müsste einen schweren Stein einen Hügel hinaufrollen, was ihm jedoch nicht gelang. Dann wurde es bizarr. Es wurde ihm zur Bewältigung Hilfe angeboten, ausgerechnet von Sisyphus, dem erfahrenen 'Steinhinaufroller'. Und gemeinsam mit diesem mühte sich Kilian im Traum bis zur Erschöpfung ab. Die Aufgabe war jedoch auch zu zweit nicht zu bewältigen, der Stein rollte ständig zurück. Schweißnass und verstört erwachte er am Morgen und trat später am Tag seine Heimreise an.
Einige Tage lang hielt der der Erholungseffekt der Reise an. Dann kam der Kipppunkt. Ihm, als Vermessungstechniker einer regionalen Baubehörde, wurde eine Mitschuld für das aufsehenerregende Absacken eines Teilstücks der Autobahn A20 zwischen Lübeck und der polnischen Grenze angelastet. Er gehörte seinerzeit zwar dem Planungsteam an, war sich jedoch keines Fehlers bewusst. Diese unerhörte Anschuldigung traf die Seele Kilian Funkes schwer, massive Schlafstörungen machten ihm wieder zu schaffen. Er hatte erneut diesen steinigen Traum: Gemeinsam mit Sisyphus einen Felsbrocken hochrollen zu müssen und immer wieder daran zu scheitern. Und es kam noch schlimmer. In der gesteigerten Absurdität dieses Traumes erhielten die beiden Unglückseligen Unterstützung. Ihnen wurde durch Pippi Langstrumpf, der anarchisch freien und mit riesen Kräften ausgestatteten Heldin seiner Kinderzeit, Hilfe zuteil. Aber auch diese Traumsequenz endete tragisch. Der unglücklich agierende Sisyphus versagte; er ließ den großen Brocken unkontrolliert rollen und dieser zerquetschte Pippi Langstrumpf. Das war zu viel für Kilian. Dieses Traumerlebnis, am Tag als Pippi Langstrumpf starb, warf Kilian Funke aus der Bahn. Er kam nicht mehr zur Ruhe; seine schweren Schlafstörungen machten ihn zum seelischen Wrack. Den Alltag konnte er nur noch unter schwerer Medikation bewältigen. Kurze Zeit später schied er aus dem Berufsleben aus.
Was dann folgte, war ein Leben in einem seelischen Dauertief, das er nur noch unter Einfluss von Psycho-Pharmaka bewältigen konnte. Dennoch, Kilian war im Grunde ein durchstrukturierter Mensch, der feste Regeln brauchte. So taktete er bald regelmäßige Auftritte im Internet; das World Wide Web wurde zu seinem Zufluchtsort. Nach ungezählten Tagen und Nächten hatte er sich in der digitalen Welt der Chatrooms und der Foren heimisch eingerichtet. Dies wurde zu seinem Leben mit den Menschen 'da draußen'. Und hier lebte er seine Emotionen aus und stellte fest, es waren die Gefühle anderer, die ihn besonders intensiv ansprachen; ganz speziell die Reaktionen auf seine immer bissiger werdenden Kommentare. Kilian wurde zu einem Troll, einer von diesen bösartigen Zeitgenossen, die gezielt andere Mitglieder einer Community im Internet emotional angreifen, um sich an deren Reaktionen zu ergötzen. Aber schon bald durchschauten etliche User ihn, allein aufgrund seines Pseudonyms, 'pitbull' wurde er geoutet. Rückmeldungen auf seine Attacken blieben daraufhin aus, er wurde ausgegrenzt. An dem Punkt wäre eine Umkehr noch machbar gewesen. Kilian überdachte nur kurz seine Lage und entschied sich gegen einen Ausstieg, der vermutlich auch nur noch mit professioneller Hilfe möglich gewesen wäre. Aber das Leben in der Anonymität unter dem Schutz eines Pseudonyms blieb sein Lebensinhalt. Hier konnte er seine niederen Instinkte ausleben. Er wechselte das Pseudonym; statt einen Namen mit aggressiver Deutung, wählte er einen sanfteren. So wollte er auf subtile Art tiefer in die Emotionen seiner Mitmenschen gelangen. Der Name 'pippi' erschien ihm hierfür ideal: positiv besetzt durch die taffe Mädchengestalt Pippi Langstrumpf. Auch eine andere mögliche Assoziation dieses Begriffs wäre ihm recht gewesen. Dass er seine tatsächliche Geschlechtszugehörigkeit mit dem Pseudonym 'pippi' verschleierte, empfand er als besonders gelungen.
Kilians virtuelles Leben nahm wieder an Fahrt auf. Die Formulierungen wurden geschliffener, seine unterschwelligen Attacken aggressiver. Er weidete sich an den empörten und verschreckten Reaktionen seiner Opfer. Für ihn hatte das fast eine erotische Dimension - als Neurotiker sah er sich aber nicht. Das alles hatte ein Ende, als einer der Chat-Teilnehmer 'pippi' als Troll identifizierte. Schluss mit, „zwei mal drei macht vier...“. Mit einem energischen, „Pippi, troll dich!“ wurde er aufgefordert, sich aus dem Forum zu verziehen. Aber Pippi blieb.