Der Beobachter - 3

Lars Lang

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Der Beobachter – Teil 3

Der Geruch des Bratenfetts passt mittlerweile gar nicht mehr zur Aussicht aus ihrem Imbiss. Die Straße bleibt leerer und grüner, als sie je war. Ich höre, wie Kim das Blut und Wasser Gemisch aus ihren Haaren wringt, wobei ihr die Träger ihrer Unterwäsche immer wieder von den Schultern rutschen. Ich brauche mich nicht umsehen. Ich kenne das Bild. Eine Gänsehaut kriecht über meinen Körper.
Dann kommt von links eine Frau mit einem bodenlangen Umhang und einem strengen Kopftuch ins Bild. Ich beiße mir auf die Unterlippe und weiß, dass es nichts bringt, jetzt die Augen zu schließen. Und wer würde schon in einen Film gehen, den ein blinder Regisseur gedreht hat? Hinter mir hat das Tropfen auf den Boden aufgehört. Ich höre, wie sie „Oh, nein“ haucht, weiß ihren Blick über meiner Schulter. Das nächste Geräusch verursacht ihr feuchtes Haar, dass scheinbar unbeachtet von der Arbeitsplatte rutscht und erneut auf den Boden klatscht. Dann fängt alles noch einmal an.

Wer weiß schon, was sich unter einem Kopftuch versteckt, oder welche Formen sich unter einem weiten Umhang verbergen? Ich weiß, dass wir jetzt Antworten auf diese Fragen erhalten. Jetzt gleich. Zuerst ist es nur ein lauer, unsteter Wind, der die weiten Stoffe etwas flattern lässt und sie um ihre Beine wickelt. Sie trägt zwei volle Einkaufstaschen, die dafür sorgen, dass ihre Hände etwas zu tun haben. Sie ist eine Muslima, soviel ist sicher. Mehr verrät ihre Kleidung nicht über sie. Unter ihrem dunklen Kopftuch könnte wer weiß was stecken – ein riesiges Wollknäul, einige Pakete Watte oder eben eine Menge Haare. Sie ist von Kopf bis Fuß (ich kann ihre Füße unter dem Umhang nicht sehen, vermute aber, dass sie praktische Schuhe trägt) so korrekt und zugeknöpft gekleidet, dass ich kaum glauben kann, dass irgendeine Kraft der Welt ihr etwas anhaben könnte. Trotzdem hat meine Hand nach der Türklinke gegriffen, die ich nun unschlüssig festhalte.
Ein Windstoß wirft eine scheinbar leichte Verpackung über den Rand ihrer Einkaufstasche und lässt diese einige Meter vor ihr über die Straße hopsen. Als sie dies bemerkt, beschleunigt sie ihre Schritte etwas. Das Laufen mit den beiden schweren Taschen sieht furchtbar unpassend aus. Doch der Wind hat anscheinend Mitleid mit ihr und wartet, bis sie den Gegenstand erreicht hat. Erst als sie beide Taschen auf dem Boden abstellt, gibt es den nächsten unsichtbaren Angriff. Beide Tragetaschen werden plötzlich umgeworfen, wobei ein Teil des Inhalts noch im selben Moment auf der Straße verteilt wird. Gleichzeitig stößt sie einen Aufschrei der Überraschung aus und greift mit beiden Händen nach den beiden Stofftaschen. Sie tritt auf ihren Umhang und bringt sich selbst zu Fall. Auf allen Vieren krabbelt sie ihren Einkäufen nach, wobei beide Hände den Griff einer Tasche umklammern. Das ist der Moment, in dem der hinterhältige Wind unter ihren weiten Umhang fährt und ihn mit Schwung über ihren Kopf schiebt. Sie trägt doch High-Heels - außerdem einen knöchellangen grauen Rock, der die schöne Form ihres Hinterns mehr präsentiert als verbirgt. Von der schmalen Taille aufwärts ist sie nun ein Bündel aus flatternden Stoffen, blind und unfähig, sich zu bewegen. Sie kann ihre Arme nicht benutzen, denn dort hängen die Taschen. So strampelt sie ein wenig mit den schönen Schuhen, nur um uns zu zeigen, wie unzufrieden sie mit ihrer Lage ist.
Ich habe die Tür nicht bewegt,denn ich weiß, dass ich keine Sekunde in diesem Sturm aushalten würde. Trotzdem lasse ich die Klinke nicht los und wende die Augen nicht ab. Ich habe das Drehbuch für diesen Film geschrieben, aber ich kann es jetzt nicht mehr ändern. Sie hat eine Tasche losgelassen, die sofort ein Opfer des Sturms wird. Mit der freien Hand versucht sie nun recht erfolglos die Stoffe wieder nach unten zu schieben. Aber ihr unsichtbarer Gegner entreißt ihr das Tuch immer wieder und lässt es erneut um ihren Oberkörper flattern.
Endlich setzt sie sich auf die Knie und schiebt energisch den Stoff nach unten. Einen Augenblick lang sehe ich ihr Gesicht mit den großen dunklen Augen. Panik, Angst, Unverständnis und Hilflosigkeit springen mich in dem Moment an, in dem die Stoffe kurz nicht um ihren Kopf wehen. Noch einmal greift sie nach einigen Einkäufen, rafft sie vor der Brust zusammen und versucht auf ihre hohen Hacken zu kommen. Einige Meter lässt der Sturm sie gewähren, dann hat er eine neue Idee. Ihr weites Tuch weht flatternd in die Höhe und bleibt schließlich in einer Dornenhecke hängen. Sie kämpf auch gegen diesen neuen Widersacher, zerrt und zieht und erreicht, dass der Umhang ihr vom Körper gerissen wird. Mit einem unglaublichen Schwung wird er in die Höhe gehoben, wo er sich in einem Baum verfängt. Mit ähnlich viel Schwung fällt sie auf die Straße, wo sie kurz jammernd liegenbleibt. Sofort kämpft sie sich wieder hoch und streckt sich nach ihrem verlorenen Kleidungsstück, welches in gut drei Metern Höhe im Wind auf und ab tanzt und ich kann mich davon überzeugen, dass auch ihr Körper wahrlich kurvig ist, auch wenn das schwarze, langärmlige Hemd noch die Form ihrer Brüste für sich behält.
Ihre Einkäufe haben sich mittlerweile vollkommen auf der Straße verteilt und selbst ihr strenges Kopftuch flattert ihr nun ins Gesicht. Zu spät erkennt sie, welchen Schaden der Sturm noch anrichten kann. Erst sind es jedoch nur wenige Strähnen, die an ihrem Hinterkopf unter dem Tuch herausgezogen werden, als hätte der Sturm Finger, die nach ihrem Haar greifen. Sie umfasst jetzt mit beiden Händen ihren Hinterkopf und versucht auf wackligen Beinen irgendwo Schutz zu suchen. Erst als sie von einem herumfliegenden Mülleiner getroffen wird, verliert sie endgültig ihr Gleichgewicht und landet erneut auf dem Boden, direkt neben der Straße in einer größeren Pfütze. Sie versucht den Sturz mit einer Hand abzufangen, was nicht geling, um mit der anderen Hand ihr Kopftuch festzuhalten - was ebenfalls nicht gelingt. Immerhin kann sie den Arm um einen Laternenpfahl wickeln und sich mit seiner Hilfe wieder auf die Füße ziehen. Auf der anderen Straßenseite ist ein Torbogen, in dem sie sicher etwas Schutz vor dem rasenden Sturm finden würde. Aber bis zu diesem Ort sind es noch einige Meter. Der Inhalt von diversen aufgeplatzten Mülltüten fliegt an ihr vorbei, ein guter Teil trifft sie aber auch, bleibt kurz an ihrem Körper kleben, um dann ziellos irgendwohin zu fliegen.
Der Boden auf dieser Seite der Straße besteht aus grobem Kopfsteinpflaster, was auch bei idealen Wetterbedingungen ein Problem für ihre Pfennigabsätze wäre. Jetzt ist es eine Katastrophe. Noch steht sie an ihrem Pfahl, den sie umarmt wie einen alten Freund, und presst mit beiden Händen den dicken Ballen ihrer Haare unter ihrem Tuch fest zusammen, während ihr feine gelöste Strähnen ins Gesicht fliegen. Ihr Rock erscheint mir mittlerweile sehr eng. Der Sturm, der sich zwischendurch eine kleine Pause gegönnt hat, greift nun mit frischer Kraft wieder an. Er reißt einzelne Knöpfe von ihrem Hemd, trennt Nähte auf, zieht das Kleidungsstück aus ihrem Rock heraus und freut sich über die knatternden Geräusche, die die herumfliegenden Stoffe von sich geben.
Eine ihrer viel zu kleinen Hände versucht nun mit mäßigem Erfolg die fehlenden Knöpfe vor ihrem üppigen Busen zu ersetzen. Ich sehe, wie sie einen weiteren verzweifelten Schrei ausstößt – hören kann ich diesen im Sturm nicht. Schon im nächsten Moment verschließt ihr eine dicke Strähne Mund und Augen. Ihre Hände haben beide reichlich Arbeit. Natürlich will sie das Kopftuch weiter auf ihren voluminösen Dutt pressen, ebenso hofft sie wohl, nicht weitere Kleidungsstücke an den Sturm zu verlieren. Den linken Arm hat sie immer noch um die Laterne gelegt, aber sie hat hier keinen Schutz. „Wird sie es schaffen?“, holt mich die Frage meiner neuen Begleiterin wieder in den Imbiss zurück. Ich schüttle kaum merklich den Kopf, weiß doch genau, was in den nächsten Minuten passieren wird.
Tatsächlich hat sich der Sturm etwas beruhigt. Sie riskiert es, ihre Bluse loszulassen und sich die Haare aus dem Gesicht zu schieben. Sie stopft das gelöste Bündel wieder unter ihr Kopftuch und sieht sich hektisch um. Mich und ihre Leidensgenossin scheint sie nicht zu sehen und außer uns ist niemand da. Sie lehnt immer noch an der Laterne und rafft nun ihren Rock etwas in die Höhe, wohl um größere Schritte machen zu können. Der Boden um sie herum ist rau und teilweise matschig – sie behält ihre Schuhe an. Endlich stöckelt sie los. Was für ein Anblick! Sie bemüht sich um ein ordentliches Tempo und knickt nach wenigen Schritten um. Ich glaube einen Schmerzensschrei im wieder auffrischenden Sturm zu hören. Schmutziges Wasser spritzt um sie herum. Sie fängt den Sturz mit einer Hand ab, die andere presst immer noch ihr Kopftuch auf ihre Restfrisur.
Aufstehen ist mit ihrem engen Rock nicht einfach, besonders dann nicht, wenn sie nur eine Hand zur Hilfe nehmen kann. Sie ist neben einem Gebüsch gelandet, in dem sich nun ihr Kopftuch verfängt. Beim schwungvollen auf die Beine rappeln zieht sie es sich beinahe vom Kopf. Rechtzeitig bemerkt sie ihren Fehler und lässt sich ein weiteres Mal auf die Knie in den feuchten Matsch fallen. Die feinen Dornen geben ihren Fang nicht kampflos her. Blind tasten ihre Finger über ihrem Kopf nach dem wichtigsten Kleidungsstück. Ein kleines Stück Stoff das eine gewaltige Menge an Haaren beschützen soll.
Der Sturm lacht sie aus. Als sie sich tatsächlich losreißt, schnappt er sich endlich so geschickt wie grob das Tuch. Ich bin mir sicher, dass sie schreit, aber wieder ist ihr Gesicht mit Haaren bedeckt - ein dichter Ballen, der in Sekundenschnelle weiter und weiter auseinandergezogen wird. Sie hatte sich aufgerappelt und den aussichtslosen Kampf gegen die schlechte Straße aufgenommen. Jetzt strauchelt sie blind in die Richtung, in der sie einen windstillen Ort vermutet. Da ihr Rock wieder bis zu den Knöcheln herabgerutscht ist, wagt sie zwei Hüpfer, bei denen ich, obwohl sie mir den Rücken zukehrt, einen herrlichen Tanz ihre schweren Brüste beobachten kann. Dann fegt sie der Sturm ein weiteres Mal von den Füßen. Das Bündel aus schwarzen Haaren, das sie immer noch mit einer Hand versucht zu schützen, breitet sich weiter und weiter aus, wobei immer noch ein Großteil dieser Pracht in der Frisur steckt. Erst als sie ihren Sturz abfängt geht ihr das letzte Bisschen Kontrolle über den gewaltigen Dutt verloren. Das flatternde Haar wird zielsicher in einem Gebüsch verankert, welches mit großem Appetit diesen wunderschönen Fang in sich aufnimmt.
Ich habe bisher nie erlebt, dass ein Sturm einen Hydranten beschädigen kann. Dieser kann es. Aus dem Nichts schießt er einen Wasserstrahl auf unsere Heldin ab, der sie ein weiteres Mal zur Seite drückt und sofort durchnässt. Ihr ehemals strahlend weißes Unterhemd klebt mittlerweile tropfnass und schmutzig an ihren wohl geformten Brüsten.
Was ihre Bluse noch vor wenigen Minuten verbergen konnte, ist jetzt problemlos zu erkennen. Auf allen Vieren krabbelt sie aus dem Wasserstrahl, wobei ihre Brüste nun, da sie frei hin und her schaukeln, noch größer wirken. Einer ihrer gefährlich hohen Schuhe steht noch in dem Matschloch, aus dem sie sich soeben herausgerobbt hat, aber sie will zu dem Dornenbusch, der ihr Haar nicht kampflos hergeben wird. Der Sturm hat sein grausames Werk beendet und sich in ein laues Lüftchen zurückverwandelt. Ich kann sie jetzt wieder weinen hören, als sie sich die Finger beim Befreien ihrer Haarpracht an den kleinen unzähligen Dornen sticht. Sie hockt vor dem Gebüsch und greift planlos in die einzelnen Strähnen, die scheinbar überall verfangen sind.
Endlich drehe ich mich um, schnappe mir einen Topflappen und eines der großen Messer und öffne die Tür.
„Bleib hier“, sage ich kurz über die Schulter, als ich Kims Laden verlasse. Ich weiß, dass ich diese Aufgabe alleine bewältigen muss.
Als sie mich sieht werden ihre ohnehin großen, dunklen Augen noch größer, weiten sich panisch. Sie kreuzt die Arme vor ihrem nassen Unterhemd, aber die Geste wirkt unbeholfen und verfehlt ihr Ziel. Sie betont ihre neu gewonnene Oberweite damit, statt sie zu verdecken.
„Ich will dir helfen“, erkläre ich mit einer Stimme, die Zuversicht und Warmherzigkeit ausdrücken soll. Ihre dunklen Augenbrauen schieben sich nach oben und auch der Rest ihres Gesichts und Körpers zeigt mir, dass sie mir nicht glaubt, überhaupt nicht weiß, was sie glauben soll.
Ich lasse meinen Worten Taten folgen und greife mit dem Topflappen in die wirklich gemeinen Dornen, um mit dem Messer die vielen Zweige und Äste zu durchtrennen, während sie aus traurigen Augen das Chaos ihrer gefangenen Haare betrachtet.
Es bleibt unheimlich still und windstill. Ich arbeite, als wolle ich einen Wettbewerb im Befreien von Haaren gewinnen, bin darauf gefasst, dass in jeder Sekunde ein Orkan mein Werk zunichtemachen kann. Längst habe ich mir Arme und Hände zerstochen, da ich mit beiden Händen in dem dichten Gebüsch herumwerkle. Abgeschnittenes Grünzeug werfe ich hinter mich auf die Straße. Bei aller Eile achte ich darauf, keine Haare mit dem Messer zu durchtrennen. Ich fürchte mich vor meiner eigenen Fantasie.
Als ich das letzte Büschel ihrer dichten Pracht befreit habe, überlege ich, wie wir gemeinsam in den Imbiss kommen können.
„Kannst du laufen?“, frage ich sie, obwohl ich mir die Frage selbst beantworten kann. Ich habe eben gesehen, wie sie läuft. Ich weiß, dass einer ihrer viel zu eleganten Schuhe noch in dem Matschloch auf seine Besitzerin wartet, weiß, dass ihr Rock ihre Beine mehr fesselt und zur Schau stellt, als diese zu verdecken oder ihr Bewegungsfreiheit zu schenken.
„Ich helfe dir mit deinen Haaren“, setze ich nun hinzu, um ihr die Beantwortung meiner ersten Frage zu erleichtern. Schließlich biete ich ihr meine Hand an, die sie zögernd nimmt. Ihre Hand glüht fast. Endlich steht sie auf ihrem einen hohen Hacken, auch wenn sie bedenklich schwankt. Dass sie meinen angebotenen Arm nicht annimmt, kann ich ihr nicht verdenken. Mit beiden Händen versucht sie, ihren Rock etwas nach oben zu raffen, aber dieser ist mittlerweile einfach viel zu eng. Hinkend bewegt sie sich nun langsam auf den Imbiss zu, während ich das unübersichtliche Gewirr aus Grünzeug und Haaren aufgesammelt habe und ihr folge, jederzeit bereit sie aufzufangen, wenn sie doch noch einmal das Gleichgewicht verlieren sollte. Sie weint leise und beißt sich auf die Unterlippe, dann lässt sie ihr Haar schräg vor ihr Gesicht fallen, um alleine zu sein, nicht von mir belästigt zu werden.
Ihre Leidensgenossin öffnet uns die Tür und winkt sie aufmunternd herein. Als wir in den Imbiss stolpern, kommen mir Bedenken, ob der Raum nicht zu klein für all die Haare ist. Ich überlege, wo ich das schwarz-grüne Bündel ablegen soll, platziere es auf dem Stehtisch, an dem doch erst vor wenigen Momenten alles angefangen hat. Natürlich rutscht ein guter Teil herunter, sie steht auf einem Bein in dem Meer aus Nässe und Scherben davor und sieht sich traurig in ihrem neuen Zufluchtsort um.
Noch einmal eile ich nach draußen, angle ihren Schuh aus dem Matsch und bringe ihr diesen. Ich bücke mich zu ihr herunter und ziehe ihr den Schuh über, nachdem ich ihn vorher notdürftig gesäubert habe, wobei sich ihr Fuß etwas zur Seite wegdreht, als hätte er etwas dagegen, dass seine Besitzerin in die Rolle von Aschenputtel schlüpft. Natürlich passt er, auch wenn er vermutlich vor wenigen Minuten noch gar keine Besitzerin hatte.
Ein Schuh aus meinem Kopf. Und ich weiß, dass da noch viel mehr Dinge nach draußen wollen.
„Oh verdammt, du Ärmste“, unterbricht meine erste Liebe meine Gedanken. Ich sehe, wie sie mit spitzen Fingern das Gewirr aus Ästen und Haaren in die Höhe hält und vorsichtig einige Strähnen entwirrt.
Mein neuer Schützling ist immer noch still, schluchzt und wischt sich mit dem Handrücken durch das schmutzige Gesicht, schiebt die Beine in ihrem engen Rock vor und zurück und blickt aus traurigen, großen Augen durch den Vorhang ihrer Haare, die in dichten Locken scheinbar überall hängen.
„Was war das?“, fragt sie nun kaum hörbar in die Stille hinein, die nach dem Sturm so unwirklich wirkt, wie ein Eisbär in der Wüste.
„Was ist mit mir passiert?“, schiebt sie noch etwas lauter nach, wobei ihr Blick durch ihre Haare fährt, die, soviel glaube ich zu erkennen, in etwas bis zum Boden reichen.
„Willkommen in meinem Traum“, hätte ich jetzt sagen müssen und dabei wieder den Zirkusdirektor mimen – mit einladender Geste, weit ausgebreiteten Armen und einem “ich verkaufe Ihnen alles“ Lächeln.
Und mit dieser Geste hätte ich auch zwei vermutlich tote Wüstlinge und das Ergebnis zweier vollkommen unerklärlicher Stürme umfasst. Als Hauptgewinn zwei junge Frauen, die ich in Körper gesteckt habe, die Mutter Natur kaum von alleine erschaffen konnte. Ich spüre die Blicke auf mir und weiß, dass ich jetzt etwas sagen muss. Räuspere mich umständlich und versuche erneut zu beichten, dass dies alles wohl meine Schuld ist.
„Ich möchte mir die Haare schneiden“, kommt es jetzt schon viel selbstbewusster von meiner letzten Errungenschaft, noch bevor ich einen sinnvollen Satz bilden kann. Sie findet die Schere, die ich gesucht habe, trotz all der chaotischen Zustände sofort. Einen Einwand auf der Zunge hebe ich kraftlos die Hand. „Ich gebe zu bedenken, dass ich von einem Fluch geträumt habe.“
Ich glaube nicht, dass sie mich gehört hat, denn sie setzt in diesem Moment die Schere an.
„Das geschnittene Haar wird doppelt so lang nachwachsen“, schiebe ich so schnell wie möglich nach. Doch auch dieser Satz verfehlt seine Wirkung. Was geht sie meine Träume an? Klar kann ich sie verstehen, sehe den Mix aus Haaren, Ästen und Zweigen zu Boden fallen, höre das Geräusch der Schere, die tapfer ihre Arbeit erledigt und sich damit wohl den Posten „beste Freundin“ bei der ehemals Langhaarigen erarbeitet.
Dann überlege ich ein weiteres Mal, ob ich die Augen einfach zukneifen kann, um sie vor ihrem Fehler und meiner Fantasie zu schützen. Und doch kann ich den Blick nicht abwenden, als nun das schulterlange Haar sichtbar wächst, sich den Rücken herabschlängelt, über ihren kugelrunden Hintern fällt und die im engen Rock gefangenen Oberschenkel verdeckt, wie ein Theatervorhang, der undurchdringlich ein Geheimnis verhüllt.
„Was…?“, setzt sie erneut an. Doch dieses Mal fehlen ihr verständlicherweise die Worte. So rafft sie mit beiden Händen die dichten Locken nach oben, die bald mehr und mehr aus dem Haarknäuel rauschen, sich befreien, ihren Weg Richtung Fußboden suchen und finden.
Ich habe ihr mittlerweile die Schere abgenommen, ohne dass sie dies bemerkt hat, überlege für einen Moment, ob ich diese verstecken muss, sehe mir noch einmal an, in welchem Zustand die Unglückliche ist, und entscheide dann, dass sie das scharfe Werkzeug nicht wieder benutzen wird. Aufmunternd höre ich von der Imbisskraft: „Jetzt sparen wir uns wenigstens das Kämmen und Entwirren deiner dichten Locken und ich weiß jetzt, warum ich mir die Haare nicht geschnitten habe. Willkommen in seinem kranken Traum“, setzt sie außerdem mit einem schiefen Lächeln hinzu, wobei sie mit dem Zeigefinger in meine Richtung deutet, als gäbe es hier noch weitere Anwärter auf den Titel „Kranker Träumer“.
„Hey, das ist mein Spruch“, erwidere ich ohne Nachdenken. „Ich hoffe, dass ich das alles erklären kann“, schiebe ich nach, da ich merke, dass Humor von meiner Seite hier nur auf eine sehr begrenzte Zielgruppe trifft.
„Ja, das hoffen wir auch“, sagen beide synchron, wobei sie nun doch etwas schmunzeln müssen.
Und während sie sich gegenseitig mit allen in einem komplett verwüsteten Imbiss zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln (Klartext: ohne Hilfsmittel) gegenseitig in den traumhaften Haaren liegen, beginne ich zu erzählen.
 



 
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