Die alte Schlampe

Bo-ehd

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„Ich vermisse meine Frau“, sagte Harry auf dem Polizeirevier.
„Setzen Sie sich“, forderte der wachhabende Beamte ihn auf und zeigte auf einen Stuhl neben einem Schreibtisch. „Wir benötigen ein Protokoll mit allen notwendigen Daten, dann können wir eine Suche starten. Er schaltete das Aufnahmegerät ein. „Sie sind?“
„Ich heiße Dr. Harry Forner, geboren am 22. 4. 1974, und ich wohne in der Platanenallee 79 hier in Waldstetten.“
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Botaniker mit Fachgebiet Pflanzenchemie und Arzt für Naturheilkunde und habe die letzten zwölf Jahre als Institutsleiter bei Hoffmann Pharmaceutics in Frankfurt gearbeitet. Seit einem Jahr wohne ich hier, ich werde in der nächsten Woche die Praxis von Dr. Engler übernehmen und unterrichte in meinem Fachgebiet an der Uni in Frankfurt.“
„Nun erzählen Sie mal.“
„Ich bin seit 21 Jahren mit Miriam Häusler, geboren am 1.3. 1976 in Freiburg, verheiratet. Wir haben keine Kinder. Unsere Ehe war in letzter Zeit ziemlich anstrengend, also um ehrlich zu sein, wir haben kaum noch etwas füreinander empfunden und ständig, ich meine täglich, miteinander gestritten. Ich habe viel nachgegeben, meistens des Hausfriedens wegen, aber wir lebten uns immer weiter auseinander. Alle Bemühungen, sie im Haus zu halten, waren vergebens. Eines Tages, es war der 10. oder 11. Juni, packte sie ihre Koffer und verließ mich. Ich ging davon aus, dass sie nur vorübergehend, vielleicht eine oder zwei Wochen, einen Tapetenwechsel brauchte und dann wieder zurückkommen würde. Aber das war wohl eine Fehleinschätzung. Jetzt sind über vier Wochen vergangen. Sie hat sich nicht ein einziges Mal gemeldet, und telefonisch ist sie auch nicht erreichbar.“ Anschließend beschrieb er ihr Äußeres.
„Ist das alles?“
„Ja.
„Um ehrlich zu sein, Herr Forner, ist das kein Fall für die Polizei. Eine Trennung, die im Wesentlichen einvernehmlich erfolgte, ist reine Privatsache. Ich empfehle Ihnen, einen Anwalt aufzusuchen.“
„Ab und zu bekomme ich ein Einschreiben vom Amtsgericht oder vom Finanzamt oder eine Rechnung. Ich will damit nichts mehr zu tun haben, was soll ich denn da machen?“ Harry gab sich bewusst hilflos.
„Das sind die rein zivilrechtliche Angelegenheiten, die ich meine. Besprechen Sie das am besten mit einem Rechtsbeistand. Der kann Ihnen garantiert weiterhelfen. Wir können erst eingreifen, wenn eine Straftat begangen wurde oder Anzeichen vorliegen, dass eine begangen werden soll oder eine Person richtig vermisst wird.“
„Gut, das war’s dann. Wenn Sie etwas in Erfahrung bringen, würden Sie mich bitte benachrichtigen? Mir liegt viel daran zu wissen, wo sie sich aufhält und wie es ihr geht.“
Der Beamte nickte. „Auf Wiedersehen, Professor. Vielleicht kommt sie ja doch zurück und die Wogen glätten sich. Dann rufen Sie mich bitte an, damit ich den Vorgang hier löschen kann.“

*

Nachdem Harry das Behandlungszimmer seiner Praxis eingerichtet und ergänzt hatte, überprüfte er die gesamte Ausstattung vom Schröpfglas bis zum Ultraschallgerät. Besondere Beachtung schenkte er dabei der Kontrolle der über einhundert pflanzlichen Stoffe, die er zum Teil selbst gewonnen hatte und in lichtdichten Gläsern verwahrte.
Dann begann er, sein Besprechungszimmer einzurichten, wobei er aus Kostengründen einen Großteil der Einrichtung seines Vorgängers übernahm. Neu waren lediglich die Computeranlage mit sämtlichen Nebengeräten, ein riesiges Bücherregal mit Fachliteratur, zwei große Schautafeln, auf denen die Organe beziehungsweise das Muskelskelett mit den Meridianen für die Akupunktur abgebildet waren und ein menschliches Ganzkörperskelett, mit dem sich vortrefflich veranschaulichen ließ, wenn Patienten zum Beispiel mit Gelenk- oder Wirbelsäulenschäden zu ihm kamen.
Die Praxis hatte von Anfang an guten Zulauf, und Harry kam zu der Überzeugung, alles richtig gemacht zu haben.
Nach zwei Monaten bekam er einen Anruf. „Hier ist Hauptkommissar Becker von der Kripo.“
„Oh, haben Sie meine Frau gefunden? Wo ist sie?“, fragte Harry deutlich euphorisch.
„Wir haben ein Unfallopfer, das wir nicht identifizieren können und auf das Ihre Beschreibung passt. Darf ich Sie in Ihrer Praxis aufsuchen, ich muss etwas mit Ihnen besprechen?“
„Ja, natürlich, Sie können gleich kommen. Sie ist doch nicht tot, oder?“

Eine Viertelstunde später betrat Becker die Praxis.
„Nehmen Sie Platz, bitte. Sagen Sie, ist es Miriam? Haben Sie schon etwas herausgefunden? Darf ich sie sehen?“
„Wir können sie nicht identifizieren. Sie hatte keine Papiere bei sich, und da ihr Gesicht ziemlich zerschmettert ist, ist jegliche Erkennung unmöglich. Sagen Sie, hätten Sie vielleicht ein Foto von ihr? Wissen Sie, die Forensik hat da ihre Möglichkeiten.“
„Ja, bitte, hier.“ Harry drehte ein Bild herum, das auf seinem Schreibtisch stand.
„Darf ich das mitnehmen?“
„Ungern, es ist das einzige Bild der letzten Jahre.“
„Kein Problem. Ich fotografiere es ab.“ Becker stand auf, drehte das Bild so, dass das Glas nicht spiegelte, trat einen Schritt zur Seite und drückte auf den Auslöser. „Hätten Sie vielleicht noch eine Haarbürste oder einen Kamm, den nur sie benutzte?“
„Da muss ich in der Wohnung oben schauen. Ich habe ja nichts weggeworfen. Falls sie wiederkommt…“
Nach wenigen Minuten kam er zurück und legte eine Haarbürste auf den Tisch. Sie war gesäubert, aber einige wenige Haare waren um den Kern gewickelt.
„Wir versuchen es mit einer DNA-Probe. Das verschafft uns hundertprozentige Klarheit. Auf Wiedersehen.“
Als Becker wieder an seinem Schreibtisch saß, hefteten sich seine Augen auf das Foto auf dem Bildschirm, als würde er den heiligen Gral darin suchen. Irgendetwas ließ ihn nicht los, er wusste nur noch nicht was. Anfangs waren seine Augen auf das Gesicht von Harrys Frau gerichtet, jetzt wanderten sie aber am Bildrand vorbei. Da war noch ein Stück des Skelettes zu sehen, das neben Harrys Schreibtisch stand. Er vergrößerte den Ausschnitt, und da fiel ihm plötzlich auf, dass es am Brustkorb eine Unregelmäßigkeit gab, die er sich aber nicht erklären konnte. Er lehnte sich zurück und überlegte, dann griff er zum Telefon und bat den Pathologen zu sich, der im Nachbargebäude seinen Dienst tat.

*

„Und deswegen bitten Sie mich her?“, fragte er.
„Spannen Sie mich nicht auf die Folter, Doktor.“
„Das ist ein verheilter Rippenbruch“, erklärte er. „Sehen Sie, ein, zwei, drei Rippen waren gebrochen und sind etwas versetzt wieder zusammengewachsen.“
„Musste das ein Arzt behandeln?“
„Ein Krankenhaus ist wahrscheinlicher. Die Person muss unglaubliche Schmerzen gehabt haben. Wer ist das eigentlich?“
„Das verrate ich Ihnen spätestens morgen Abend. Sie haben mich da vielleicht auf eine ganz heiße Spur gebracht.“
Becker klapperte die drei regionalen Krankenhäuser ab und wurde prompt fündig. Ein Hospital besaß Röntgenaufnahmen, die in der Notaufnahme gemacht wurden. Der behandelnde Arzt konnte sich sogar noch an die Frau erinnern.
Stunden später nahmen Becker und ein uniformierter Kollege Dr. Harry Forner fest. Er zog seinen Mantel an, setzte seinen Hut auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Als er an dem Skelett vorbeiging, blieb er stehen, setzte dem kahlen Schädel seinen Hut auf und sagte: „Es hätte mich auch gewundert, du alte Schlampe. Du hörst einfach nicht auf, mir Schwierigkeiten zu machen.“
 

Bo-ehd

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Hallo Binsenbrecher,
ja, wenn schwärzester Humor nicht mehr ausreicht, wird's böse. Freut mich, dass dir die Geschichte gefällt.
Gruß Bo-ehd
 

Tonmaler

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Hallo Bo-ehd, eben ostermontags noch deine Geschichte gelesen.

Zunächst einmal, das ist elegant/gekonnt geschrieben. War flüssig zu lesen, da sind mir auf Anhieb keine kritischen Kommentare eingefallen.
Der einzige Wermutstropfen war für mich:


Neu waren lediglich die Computeranlage mit sämtlichen Nebengeräten, ein riesiges Bücherregal mit Fachliteratur, zwei große Schautafeln, auf denen die Organe beziehungsweise das Muskelskelett mit den Meridianen für die Akupunktur abgebildet waren und ein menschliches Ganzkörperskelett, mit dem sich vortrefflich veranschaulichen ließ, wenn Patienten zum Beispiel mit Gelenk- oder Wirbelsäulenschäden zu ihm kamen.
Ab da war mir klar, dass dieses Skelett die Gattin ist. Natürlich kann es sein, dass das nicht allen so geht. Für mich war es aber zu früh, sodass der Rest kaum noch Spannung hatte, denn ich war mir sehr sicher. Ich frage mich, was man da machen könnte. Entweder die Praxiseinrichtung kommt erst später ins Spiel (denn natürlich fragte ich mich, aha, wieso wird die so genau beschrieben?) -- oder vielleicht braucht es einen falschen Hasen, eine falsche Fährte, um die Leser abzulenken. Eine zweite Spur.

Es ist natürlich die Frage, ob auch weitere Leser ab dieser Stelle die Lösung ahnen.

Die Plotidee, dass der Arzt seine Frau auf diese Weise weiterverarbeitet, ist wunderbar schwarzhumorig. Wenn du das obige 'Problem' der zu frühen Auflösung noch hinbekommst ...


Gruß
tt
 

Bo-ehd

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Hallo Tonmaler,
du hast die Problematik dieser Geschichte gut erkannt. Ich habe versucht, das Skelett in der Aufreihung der Einrichtungsgegenstände zu "verstecken"; dir ist es trotzdem sofort aufgefallen.
Ich hätte das Skelett bei der Auflistung auch unterschlagen und im letzten Absatz erwähnen können, dann hätte ich aber einen klassischen Fall von einem Deus ex machina produziert. Das wird mir aber nie passieren.
Letzte Möglichkeit: Die Sache mit der Einrichtung später zu bringen. Das hätte aber die ganze Chronologie durcheinandergebracht. Also habe ich die beste der drei schlechten Lösungen gewählt.
Die Geschichte hat (für manchen) noch einen Haken: Warum ist Dirty Harry überhaupt zur Polizei gegangen? Ohne diesen Besuch wäre die Sache im Dunkeln geblieben. Das ist richtig, aber der weitsichtige Harry wollte eine amtliche Aktennotiz haben für den Fall, dass Freunde und Nachbarn dumme Fragen wegen Miriam stellen.
Schönen Nachmittag noch.
Gruß Bo-ehd
 

Tonmaler

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du hast die Problematik dieser Geschichte gut erkannt. Ich habe versucht, das Skelett in der Aufreihung der Einrichtungsgegenstände zu "verstecken";
Ja, das habe ich schon gesehen, dennoch ...

Bleibt abzuwarten, wie viele die Lösung ahnen.

Ich hätte das Skelett bei der Auflistung auch unterschlagen und im letzten Absatz erwähnen können, dann hätte ich aber einen klassischen Fall von einem Deus ex machina produziert. Das wird mir aber nie passieren.
Stimmt, das geht nicht. Zumindest müsste man das schon sehr geschickt arrangieren, dass es kein 'Deus' ist.


Die Geschichte hat (für manchen) noch einen Haken: Warum ist Dirty Harry überhaupt zur Polizei gegangen? Ohne diesen Besuch wäre die Sache im Dunkeln geblieben.
Den Punkt kritisiere ich nicht, wie du selbst sagst, ein Typ, der keine Vermisstenanzeige macht, ist auffällig.

Mir fiel noch ein Punkt ein: der Titel.
Wer außer der Frau könnte die 'alte Schlampe' sein -- und das beißt sich mit des Prots Aussage, er vermisse sie ... wer vermisst schon eine alte Schlampe?
Das weist also auch darauf hin, etwas stimmt nicht ...

Gruß
tt
 

Bo-ehd

Mitglied
Mit dem Titel hast du Recht. Der Originaltitel lautet "Kinky Harry" in Anlehnung an Dirty Harry. Aber da hätte mancher Leser hier im Forum nachschlagen müssen, und das wollte ich nicht.
 



 
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