Frau Lotta

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Phil Trepal

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Mord im Dorf. Eine halbe Sensation. Ich komme von der Großstadt her. Die Geiergasse und der alte Jungfernpfad. Mein Einzugsgebiet. Die Fachwerkhäuser sind windschief. Ich kenne sie noch aus meiner Kindheit. Noch immer ragen alte, bleiche Äste aus den Hecken hervor und die Wege sind kaum mehr als grob hingeschütteter Beton. Konturbetont, halb gesprenkelt, markieren weiße Linien den Ort, wo der Arme gefunden wurde. Frau Lottas Haus ist neben der großen Buche, unweit vom Tatort entfernt. Phlox und Ginster der er alten Hausdame wehen mir feuchten Sommerdunst entgegen. Wie ein farbenfrohes Mandala erstreckt sich ihr Garten hinter den verwinkelten Gassen meines alten Heimatdorfes, das ich viel zu oft vergessen wollte. Hier und da feine Silhouetten meiner Kindheit, wo ich saß, spielte oder mich im Sommer betrank. Frau Lotta steht am Gartentor, sie hat mich wohl schon kommen hören. Alt war sie schon immer. Schon mit dem zweiten Blick auf Fremde konnte sie jede Knolle und jedes Geflecht im Charakter und Seelenleben eines jeden ausmachen. Sie war schon immer da und sie wird es auch wohl immer sein. Gestickte Blumen wandern über ihre Schürze und verdichten sich am Saum zu einem improvisierten Kranz. Viel kann ich von ihr nicht sehen. Nur dünne Finger die an einem Stück Schnur herumhantieren und feine Knoten darauf auffädeln.

„Sie sind hier wegen meines Händels mit dem altem Erwin!“ Überrascht, dass sie mich bemerkt hat, betätige ich den Messingknauf des alten Törchens, das in ihren Garten führt. Sie hat mich nicht einmal angesehen! ihr Sommerhut wirft einen ordentlichen Schatten vor ihre Füße. Sie bringt es auf den Punkt. Aber ich brauche noch einige Sekunden bis ich bereit bin, mich mit ernsten Dingen zu beschäftigen. Ich schaue auf den kleinen Gartentisch und sehe, dass bereits alles bereitsteht. „Bitte, machen Sie es sich kommod! Tee und Kandis stehen bereit!“

„Gern“, sage ich. „Sie haben mich erwartet?“ Es ist, als betrete man ein Biotop. Summen vom Geschmeiß des Sommers und Duftvarianten von reifem Obst, Kräutern und frisch gemähtem Gras, Gemüse, Mulch und Erde. Ich kenne den Geruch noch von früher. Die Blumen auf ihrer Schürze schlängeln sich unter dem Hut immer weiter nach oben. Die Schnur hängt sie an einen Rosenbusch. Die Erdbeeren daneben sind blutrot.

„Wie geht es voran?“, fragt sie, während sie mit scharfem Gerät die Lücken zwischen den Backsteinen von Moos befreit. Noch immer hat sie sich mir nicht zu gewandt. Ich sehe nur, dass sie sich bückt und krümmt um an das letzte Unkraut heranzukommen.

„Ich bin immer noch damit beschäftigt das halbe Dorf auszufragen. Vielen fällt es schwer sich sowas hier vorzustellen. Viele sind schockiert. Sie können es nicht glauben und zerlöchern uns mit Fragen.“

„Kein Wunder!“, flüstert die Alte unter ihrem Hut. „Wir haben schon vieles gesehen in den ganzen Jahren. Aber sowas?“ Ihre Hände greifen in die frische Erde und sie reißt mit aller Kraft eine dicke Wurzel heraus. Dann schleudert sie sie gekonnt in einen Eimer. Mit erdigen Händen geht sie daran, eine ausladende Blume, die ich noch nie zuvor gesehen habe, mit einem Mal hineinzustopfen. Ich entscheide mich Platz zu nehmen und schlage die Beine übereinander. „Das Dorf hat sich kaum verändert“, werfe ich nachdenklich ein, ohne dass Frau Lotta darauf reagiert. Sie ist noch mit den ockerfarbenen Bachsteinen beschäftigt. Ich versuche etwas aus der Situation zu machen und schaue auf ihren zierlich-drahtigen Rücken. „Haben sie gestern irgendetwas gesehen? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, ich meine so um den Nachmittag herum? vielleicht ist irgendwer vorbeigekommen?“

„Da ist hier alles ausgestorben.“

Ich krame in meiner Jackentasche nach meinem kleinen Notizbuch.

Die Schnur baumelt im Wind am Rosenbusch und schlägt dabei immer wieder leicht an ein Mobile aus Metallglöckchen. Daneben hackt Frau Lotta mit der Schippe das Beet auf und wirbelt Erde herum. Die ganze Zeit sehe ich ihre zierliche Gestalt verdeckt unter ihrem riesigen Sommerhut. Gern hätte ich ihr in die Augen gesehen. Ich erinnere mich noch. Sie sind wie Wasser vom Dorfweiher, das sich Jahre lang konzentriert hat, schlickiger und gelartig geworden ist. Deshalb glänzten ihre Augen immer. Aber hinter den Lidern, irgendwo, im zweiten Wimperschlag, lugt Güte hervor. Heute sehe ich nur den Hut, die Schippe und die rankenden Blumen auf ihrer Schürze, die sich filigran in das Patchwork von geflicktem Stoff und Schnüren verknoten. Der Tee dampft. Frau Lotta lässt mich etwas warten, dann legt sie die Schippe beiseite und klopft ihre Finger an der Schürze aus. Sie beruhigt das Mobile mit einem gekonnten Griff, dann kommt sie heran und hebt den Hut an. Ihre Augen haben sich nicht verändert, sie sind immer noch untermalt mit dem Stich eines glasklaren Geistes. Sie hält den Blick eine Weile und sofort setzen sich Bilder von früher in meinem Kopf zusammen. Ich hatte sie immer nur aus einer gewissen Distanz gesehen, nie trat ich über die Schwelle ihres Gartens und jetzt sitze ich ihr unmittelbar gegenüber. Aber ich denke ihre Mundpartie ist gelaltert, alles andere scheint rosig und gesund, ein Geruch von milder Seife und blumigem Odeur. Sie strafft die Schultern und knetet ihre Hände. Ich lächle und rühre in meinem Tee herum, schaue kurz auf meine Notizen und bereite mich innerlich auf die Befragung vor. Kommunikation habe ich gelernt. Ich weiß, wie man Gespräche führt. ich kenne Fallstricke, die man einsetzt, um Täter oder Verdächtige festzunageln, psychologische Gesprächsanalysen, strategische Wortführung.



Doch das ist das erste Mal, dass ich Frau Lotta so nahekomme.



Strukturiert und bedacht stehen Rauten und Vierecke in voller Blüte. Nur die kleinen Wassergruben für ihre Frösche und Molche wehen mir mit etwas Moder entgegen. Kurz ist meine Nase irritiert. Aber der Tee ist wohl Kamille. Ich konzentriere mich darauf, alles auf eine professionelle Befragung herunterzubrechen. Frau Lotta faltet die Hände und legt sie in ihren Schoß. Ich sammle mich, blättere ein paar Notizen zu dem Fall nach, und will erst gar nicht anfangen. Eher will ich mit ihr reden wie mit einem Freund. Auch wenn ich sie nie persönlich gesprochen hatte, nie in eine Konversation mit ihr gerutscht war. Sie grub damals schon den Boden um und ich hockte in meinem Zimmer im Dachgeschoss mit feuchten Wänden und Dachpappe, klammer Bettwäsche und Wollmäusen und dachte manchmal an Sie. Ich nehme mein Asthmaspray heraus und sprühe nach, obwohl ich hervorragend Luft bekomme.

„Also gut Frau Lotta!“ Ich setze meine professionelle Statur auf, lasse die Schultern breit wirken und nehme die Distanz an, die von mir gefordert wird, Diskretion und eine gewisse Autorität.

„Haben Sie Vorgestern Nacht so zwischen 2 und 4 Uhr etwas bemerkt? Ist ihnen irgendetwas fremd vorgekommen?“

„Da habe ich geschlafen!“ Je länger ich sie ansehe, desto schneller winden sich meine Gefühle zurück in die Vergangenheit. Ich sehe mich vom Abstand der Straße her, als Kind, als Jugendlicher, als jemand, der fortging und dem es schwerfällt, zu vergessen.

„Wie läuft es sonst hier im Dorf? Haben Sie noch Kontakte zu den Höfen oben am Feld?“ Ich weiß nicht ob Frau Lotta merkt, dass ich mit dieser Frage schon den Kern dieser Unterhaltung heraufbeschworen habe.

„Das Tagwerk ist mir genug!“ Sie rümpft die Nase und scheuert daran herum mit einem alten Leinentuch. „Was immer auch da oben passiert, es interessiert mich nicht!“ Ich nicke und schaue wieder auf meine Notizen.

Natürlich wusste ich nach dem Briefing mit dem Team Bescheid. Deshalb habe ich diesen Fall übernommen. Es ging mir dabei nicht vornehmlich um den alten Winkler. Wie verblüfft ich auch war, das Dorf, das den Zustand meiner Seele verzerrt, hätte ich sehr gerne außenvor gelassen.

Es ging mir um sie.

Ich schlürfe etwas an der Tasse, schabe mit dem Löffel daran herum und denke nach was ich fragen könnte, schmecke gemörserte Kamille - wohl aus ihrem Garten - und setze da an, wo es leicht in mir sticht. Ich habe den Wunsch, sie zu verschonen. Aber ich habe keine Mittel.

„Frau Lotta, ist es nicht so, dass sie einige Unstimmigkeiten hatten? Sie und Herr Winkler?“

Sie konzentriert den Blick auf ihre korkigen Sandalen, dann wieder sieht sie mich direkt an. „Mit dem alten Erwin? Wer hat sowas nicht! Wer weiß, was sich so manch Haderlump hier im Dorf einfallen lässt!“ Frau Lotta spitzt nur die Lippen. Ich zücke meinen Notizblock und schreibe etwas hinein. Aber in Wirklichkeit ist das nur Fassade. Es liegt doch auf der Hand und wir beide wissen es.

„Nun, der Postbote hat ihn gestern Morgen am Rathaus gefunden, er ist mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden, vermutlich mit einer Schippe oder Ähnlichem.“

„Aha!“ Frau Lotta nickt energisch. „Wie gesagt, in meiner Stube kann man nichts hören vom Rathaus. Nachts habe ich geschlafen, da kann ich auch nichts hören!“ Sie nimmt die weiße Porzellankanne und schüttet Tee nach, kräuselt ihre Mundpartie. „Sie kannten sich lange?“

„Lange ist kein Ausdruck!“ Sie macht kein Geheimnis aus ihrer Abneigung. Ein Streit der Jahre anhielt, ein Weh und ein Ach zu allem, was in irgendeiner Weise zu einer prekären Angelegenheit gedeihen konnte. Deshalb bin ich hier. Nicht um sie in die delikate Lage einer Mörderin zu pressen. Aber mein Job ist es Fakten zu prüfen, diese zu untermauern, weiterzuschauen. Der Streit mit dem alten Erwin, der mit dem Messingkessel kochte und alles in seinem Garten mit der Sense schnitt, war uralt. Dieser Disput startete schon als ich noch ein Kind war. Es ging dabei um ein Grundstück hinter den Höfen am alten Feld. Ich versuche ihr etwas Zeit zu geben, will nicht, dass sie Druck um ihre Brust spürt und gönne mir selbst etwas Zeit um gedanklich abzuschweifen. Ich konnte es schon auf dem Weg hierher kaum abschütteln. Und schonwieder fliegt mein Blick über die so prächtig aufbereiteten Beete. Über den Lebenssaft in jeder Blüte, die erdige, grobe und doch durchdachte Vitalität. Frau Lotta ist strukturiert. Aufgereiht hängen Wäscheleinen in perfekter Linienführung, im exakten Abstand. Die Töpfe sind gestapelt, der Boden gekehrt, ihr Handwerk geplant bis in jedes Detail. Sie hat sich ihre Welt geschaffen, so wie sie es wollte. Auch ich suche nach Details. Zu viele sind offensichtlich und versetzen mir einen Stich. Es ist kein Geheimnis, dass die Dörfler von Rostig ihre Gedanken in auf ihren Hof richten. Und der Stich, der mich unangenehm kitzelt, kommt von meiner Zuneigung zu ihr. Ich hatte nicht vergessen, wie sie es zuließ, dass wir als Kinder immer wieder kleine Brocken von ihrem Apfelkuchen abbrachen, den sie auf die Fensterbank gestellt hatte um ihn abzukühlen zu lassen. Einmal stand sogar ein kleines Gefäß mit Zuckerguss dabei. Als sie sich damals von uns abwandte und in den Garten zurück stakte sagte sie nur beiläufig, der wäre für ihre Bienen. Und wir hatten verstanden und leckten uns voller Vorfreude über unsere Münder. Nicht wenige waren arm im Dorf, hervorgekommen aus Arbeiterfamilien nach den Kriegsjahren. Honig und Haferkekse mit Zuckerguss zählte beim Tauschen auf dem alten Schulhof oft mehr als Karten und Murmeln. Aber ich hatte verstanden. Und dann begann ich über sie nachzudenken. Die feinen Linien von winzigem, leicht übersehbaren Lächeln malte ich damals in mein Poesiealbum und verband sie zu geraden, symmetrischen Strichen, dann wieder schwang ich sie weicher und malte Kreise und Ovale. Das ließ den Eisklotz der mich zu Hause frösteln ließ in einsamen Stunden in meinem Zimmer etwas schmelzen. Unnahbarkeit in diesen Zeiten und Informationsfetzen über die Tragik ihres Lebens und von der Welt, die uns damals umspann, kamen nur sehr sporadisch bei uns Kindern und später Jugendlichen an. Aber ich merkte, dass etwas an Frau Lotta nagte. Mit der leichten Krümmung ihres Nackens über die Jahre, über ihre Liebe zu weichem Kriechgetier und Botanik. Die Strenge, das hier und da Unnahbare, wich doch oft etwas Fragilem, nicht gerade weich oder herzlich, aber mit Sinn für Gutes, das man erst wahrnahm, wenn man sich längere Zeit etwas mit ihr beschäftigte. Ich sitze hier und denke zurück. Nur ein paar Sekunden will ich mir gönnen. Meine Augen suchen sich etwas, das sie kurz fixieren können.

Wenn etwas Besonderes los war in Rostig, etwas, das gefeiert werden musste, dann trafen wir uns am alten Dorfweiher. Neben der Angelrute die vor zig Jahren irgendwer in den Boden gerammt hatte und der alte rostende Traktor, dem keiner mehr gehörte. Die kleine, aus dünnen Metallstreben gefertigte Bank an der noch Blätter vom vorletzten Herbst klebten. Schwarze Flecke von den zahlreichen Feuern im Sommer hat selbst der Regen nicht wegwaschen können. Und dann saßen wir da. Brieten Futtermais und frische Blutwurst, ekelten uns über die alten Zombiekarpfen, die schwer wie Blei, uralt und milchig von einem Ende des Weihers zum anderen trieben und wieder zurück. Was war das für ein Leben? Und was war das für ein Dorf. Hineingesetzt in die Flächen unweit der Großstadt, aber vergessen und von keinem beachtet. Wieso lebten wir hier? Und wieso haben sich unsere Eltern dazu entschieden, sich hier niederzulassen? Es gab nichts Besonderes an diesem Ort. Keine Attraktivität, nichts Idyllisches, kein Halm der richtig grün war. Es war farblos wie alte Knochen, die auch im Weichbild der Umgebung aus allen Hecken sprossen. Dass dieses Dorf den Namen „Rostig“ trägt, ist eigentlich schon eine unverschämte Begebenheit, ein Zufall, der zu weit geht. Aber das trifft es genau. Wenn uns mal von den Karpfen nicht schlecht wurde, warfen wir Reusen in das trübe Wasser um damit Krebse zu fangen. Doch wenn die Feuer brannten und das Grillrost des Alten fast glühte, wurde uns wieder von den Karpfen schlecht und wir warfen die Krebse zurück in die Brühe. Wenn die Mädchen mal um die Ecke waren, dann pinkelten wir die Feuer aus, tranken den letzen Schluck Schnaps und liefen zum Rathaus. Das, nebenbei bemerkt, jetzt ein Tatort war, an dem der alte Erwin seine letzten Atemzüge tat.

„Wie ist es in der Großstadt?“, wirft Frau Lotta ein. Ihr Interesse bringt mich wieder zurück in die Befragung. Meine Augen verlieren den fixierten Punkt. Es war beinahe so als wäre es wie früher! Mir tut etwas weh, ich atme tief ein und schaue dann zu Frau Lotta. „Anders als hier“, bemerke ich.

Wir sitzen uns gegenüber. Frau Lotta tut allerlei Dinge. Sie rührt fleißig in ihrer elfenbeinfarbenen Teetasse herum, gießt immer wieder kleine Mengen Milch hinein, schürzt die Lippen, rutscht auf ihren Stuhl vor und zurück. Weiß sie um ihre Optionen? Ein Streit, der über Jahrzehnte Unruhe durch Rostig trieb. Und jetz ein Finale, von dem das ganze Dorf weiß und Frau Lottas Leben mit allen Farben darin an die Wand stellt.

Ich entscheide mich zu schweigen. Was soll ich noch fragen? Was soll Frau Lotta mir noch erzählen? Was soll sie antworten? Soll ich das Gespräch unnötig weiterführen?

Ich sitze hier und versuche die Beklemmung um meinen Hals von früher wegzuschieben. Ich konzentriere mich auf die betagte Frau. Das Tor zur kleinen Scheune hat sie verriegelt. Mir fällt auf, dass die kleinen Fenster ihres Fachwerkhauses leer stehen. Was geschah all die Jahre hinter den blauen karogemusterten Vorhängen? Frau Lotta ist damit beschäftigt, in ihrem Tee herumzurühren. Sie wirft Kandis hinein, der sich knackend auflöst und etwas sprudelt. Wir schweigen beide lange Sekunden. Und dann knotet meine Zunge die Worte.

„Kommen Sie bitte mit, Frau Lotta?“ Sie sind nicht zärtlich, wohl aber geformt von ähnlichen Emotionen. Von Dankbarkeit und Zuneigung, von Mitleid Gunst. Nach kurzen Gesten, die so improvisiert und auch verzweifelt wirken - von Nuance zu Nuance - murmelt sie ein leises „Gewisslich“. Das Reiben ihrer rauen Hände klingt nach Sand, der langsam zertreten wird. Sie greift nach ihrer Tasche und ist schon bereit. Jetzt weiß ich, warum sie alles derart sauber hinterlässt, warum nichts mehr in den Fenstern steht, warum die kleine Büchse für den Kandis leer ist. Es ist Einsicht, es ist Recht und Ordnung und ich weiß, sie bleibt diesen Dingen treu. Dann, in einem kurzen, stillen Moment schaut sie auf ihre Füße und hält mir beide Unterarme entgegen, die weiß gegen die Sonne stechen. Die Handschellen sind kalt als wir das Biotop verlassen und die gepflasterte Seitenstraße hinauf zum Streifenwagen gehen. Das feuchtglänzende Kriechgetier quakt noch einmal auf, so als würden sie die Herrin ihrer Welt etwas mitgeben wollen. Sie nimmt den Hut ab und verabschiedet sich. Ich versuche ihr einen warmen, stützenden Arm in die Gebrechlichkeit ihres geknickten Rückens zu legen und polstere das Nackenkissen, das ich vorsichtshalber schon mitgenommen hatte, etwas auf. Wir fahren hinauf, passieren das alte Feld, lassen das Rathaus und den Weiher hinter uns ignorieren das Dorfschild von Rostig. Wir poltern über die kargen, unbestellten Dorfwiesen bis die Straßen endlich wieder an Zivilisation erinnern. Entgegen der metallischen, quadratischen Großstadt. Und dann schaue ich in den Rückspiegel, kurz vor der Hannover, und schenke ihr mein Lächeln. Ich hoffe sie kann sich damit in einsamen Stunden oder Momenten in wärmende Gedanken spinnen, wenn die Farben nicht mehr reichen und das Grau sich in Säulen auftürmt.
 
G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Lieber Phil,
Dein Werk gefällt mir sehr gut!
Herzlichst Sue
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Phil,
auch mir gefällt die Geschichte sehr gut bis ganz ausgezeichnet. Mich begeistert der ausladende Erzählstil. Sonst bin ich eher fürs Knappe. Aber das ist alles so sauber formuliert und anschaulich, dass man jeden Satz gerne liest. All die Details ergeben auch ein stimmiges Ganzes: Das Lebensgefühl auf einem Dorf

Ein paar Details, die mir beim Lesen aufgefallen sind:
„Aha!“ Frau Lotta nickt energisch. „Wie gesagt, in meiner Stube kann man nichts hören vom Rathaus. Nachts habe ich geschlafen, da kann ich auch nichts hören!“ Sie nimmt die weiße Porzellankanne und schüttet Tee nach, kräuselt ihre Mundpartie. „Sie kannten sich lange?“
„Sie kannten sich lange?“ Hier spricht der Erzähler, oder? Dann sollte davor ein Absatz sein.

Die feinen Linien von winzigem, leicht übersehbaren Lächeln
übersehbarem, oder?

Das Reiben ihrer rauen Hände klingt nach Sand, der langsam zertreten wird.
Eher mein persönlicher Geschmack, aber die Formulierung gefällt mir nicht. Sand kann man nicht zertreten. Die Quarzkügelchen kriegt man mit seinen Fußen nicht klein.

Es ist kein Geheimnis, dass die Dörfler von Rostig ihre Gedanken in auf ihren Hof richten.
das "in" ist zu viel.

Da du das Dörfliche so betonst, stört mich auch etwas, dass es ein Rathaus gibt. Das lässt ja eher an eine Kleinstadt denken.

Viele Grüße und gerne mehr
lietzensee
 



 
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