Gefesselte Enten

Bo-ehd

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Moritz Brückner bot ein Bild des Schreckens. Der Kopf erinnerte auf den ersten Blick an eine Mumie. Ein Sehschlitz von 2 cm Höhe und eine ebenso große Öffnung zum Sprechen waren das Einzige, was von seinem Gesicht zu sehen war. Der Hals steckte in einer Plastikschale, die Arme samt Schultern waren ganzflächig umwickelt. Das Korsett aus Mull und Gaze reichte bis zu seinen Knöcheln. Schlimmer konnte ein Unfallopfer nicht aussehen.
Wenn Brückner vor Schmerzen stöhnte, dann vor allem wegen des undefinierbaren Ziehens und der völligen Steifheit seiner Arme und Beine. Er spürte keinen Muskel, keine Sehne, keine Haut. Nur so konnte ein lebendiger Toter – oder ein toter Lebender- empfinden. Wie dankbar er doch war, als Dr. Marcel Wirtz sich zu ihm hinunterbeugte und ihm ankündigte, nochmals etwas gegen seine Schmerzen zu spritzen.
In diesem Augenblick betrat Hauptkommissar Rolf Becker die kleine Krankenstation, im Schlepptau der katholische Priester. Dr. Wirtz klärte die beiden sofort auf, wobei er bewusst so laut sprach, dass auch Brückner das Gespräch mitverfolgen konnte, ja musste.
„Ich schätze, ein PKW mit mindestens 70 km/h hat ihn von seinem Radel katapultiert. Man hat ihn zufällig und halb zermatscht im Straßengraben gefunden und hierhergebracht. Wir haben mitten in der Nacht ein paar Röntgenaufnahmen gemacht, dann verbunden und ihn wegen der großen Schmerzen sediert. Wenn du eine Diagnose willst, Rolf, wüsste ich nicht, wo ich anfangen soll. Am schlimmsten sind die Risse in beiden Lungenflügeln, der Leberschaden und die Rippenbrüche. Letztere sind sehr gefährlich, weil die Splitterteile teilweise in der Lunge stecken. Ach, bevor ich’s vergesse: Er hatte freundliche 2,6 Promille im Gepäck. So riecht er auch.“
„Wie lange wird er noch durchhalten?“, wollte Becker wissen.
„Mit diesen Lungen? Höchstens noch ein paar Minuten.“
Becker rückte einen Stuhl an das Bett. „Hallo Brückner, du erkennst mich wieder? Kommissar Becker! Wir haben früher einmal gegen dich wegen deiner kleinen Waffengeschäfte ermittelt. Aber das ist Geschichte, jetzt geht es uns darum, den Mord am Schnaidsee aufzuklären. Meinst du nicht, dass es an der Zeit ist, zu sagen, was du weißt, um dein Gewissen von dieser Last zu befreien? Wie ist das da abgelaufen mit euch Vieren? Erzähl mal von Anfang an.“
„Steht es wirklich so schlecht um mich?“
„Deine beiden Lungen lassen sich auf die Schnelle nicht reparieren. Du hast ja den Doktor gehört. In ein paar Minuten geht für dich das Licht aus. Lass uns also keine Zeit verlieren. Nun erzähl schon.“
„Ich will nicht.“
„Dann übergebe ich dich mal für dein letztes Gebet.“
Pfarrer Mertens trat an Brückners Bett. „Mein Sohn, ein letztes Mal will ich dir deine Beichte …“
„Kommissar!“, rief Brückner so laut, wie es ging. „Was will’n der hier?“
„Du hast eine letzte Gelegenheit, dass ein Priester dir die Beichte abnimmt. Er will dir die Sterbesakramente spenden. Das ist üblich bei Sterbenden“, klärte ihn Becker auf.
„Schick ihn weg, ich will den Schwarzkittel nicht“, krächzte Brückner.
Pfarrer Mertens trat einen Schritt zurück, und Becker nahm wieder auf dem Stuhl neben dem Bett Platz.
„Brückner, jetzt hör mir mal gut zu! Du liegst hier im Sterben. Kein Mensch kann dir noch helfen, verstehst du? Wenn du weiter so mauerst und die Augen für immer zumachst, heißt es im ganzen Ort „Der Brückner, der Hund, nimmt einen Mord mit ins Grab.“ Was meinst du, wie das auf deine Frau und deine Tochter zurückfällt. Die können gleich woandershin ziehen. Willst du das wirklich?“
„Wir haben uns geschworen, nichts zu sagen.“
„Verstehe ich, nur ist die Situation jetzt eine andere. Du hast nichts mehr zu verlieren, die anderen schon. Und wer weiß, wer dich da über den Haufen gefahren hat. Im Augenblick überprüfen wir die Fahrzeuge deiner beiden Kumpel Ebertinger und Galland. Wir haben da so einen Verdacht.“
„Sie bluffen.“
„Sehe ich so aus? Wir haben grüne Lackspuren an deinem Fahrrad entdeckt. Fährt einer deiner Kumpels ein grün lackiertes Auto? So ein richtig scheißgrünes – sowas fahren doch die Jäger, oder?“
„Ich will schlafen.“
„Knack mir jetzt ja nicht weg, Brückner. Wir sind noch nicht fertig. Hochwürden!“ Becker gab ein Handzeichen, dass der Pfarrer wieder übernehmen soll.
„Herr Brückner, Sie sind doch ein gläubiger Christ. Ich habe Sie sogar schon einmal in der Kirche gesehen. Jetzt versündigen Sie sich doch nicht und legen Sie die Beichte ab.“
„Geh weg. Dir sage ich nichts.“
Becker übernahm wieder. „Brückner, nun gib dir einen Stoß, komm schon. Red endlich. Was soll ich deiner Frau und deiner Tochter erzählen? Dass du zwei Halunken deckst, von denen dich einer umbringen wollte? Einer hat gestern in der Dorfkneipe schon verlauten lassen, dass er deiner Frau die Äcker abkaufen will, wenn du das Zeitliche gesegnet hast. Wenn du mich fragst, ich würde mich nicht so verschaukeln lassen.“
Brückner schwieg eine halbe Minute, dann begann er zu erzählen. „Hinter dem Schnaidsee befindet sich eine Reihe von kleineren Seen, Teichen und Tümpeln. Es ist unser Entenrevier, in dem wir drei oder vier Mal im Jahr gemeinsam jagen. Es verlief auch alles wie immer. Wir schossen Einiges und machten uns auf den Heimweg, bevor es dunkel wurde.“
„Wie habt ihr die Vögel transportiert?“, wollte Becker wissen.
„Jeder hat ein Stück Seil bei sich. Wir legen einen Knoten um die Entenfüße und ziehen zu. So haben wir auf einen Meter Seil Platz für vier Enten. Die hängen wir uns um den Hals und dann Abmarsch. Ist das wichtig?“
„Wir haben ein solches Seil gefunden. Es gehörte Rockstroh und hat sich wahrscheinlich von seinem Hals gelöst. Da trieben plötzlich vier gefesselte Enten auf dem Wasser. Den Rest haben die Taucher gemacht. Weiter!“
„Natürlich haben wir über den Windpark gesprochen. Für Galland, Ebertinger und mich ist das Projekt die finanzielle Rettung. Wir bekommen vom Betreiber jeden Monat so viel Kohle, wie wir mit unseren Äckern gar nicht erwirtschaften können. Wir waren sofort bereit zu verpachten, aber Rockstroh hat bis auf den heutigen Tag gemauert. Sein Grundstück ist aber das wichtigste. Es führt mitten durch den Park. Der Betreiber sagt, ohne dieses Grundstück fingen sie erst gar nicht an zu bauen.
Wir haben gebettelt, dass er sich uns anschließt, aber er hat nur immer wieder gesagt, auf dem Erbe seiner Vorväter würde sich so ein Scheißding nicht drehen. Dem Galland ist dann die Sicherung durchgebrannt. Er stellte sich mit entsicherter Schrotflinte vor ihm auf, brüllte ihn an, er solle sich nicht querstellen, wir seien doch alle Freunde, aber der Rocky machte keine Anstalten, sich umstimmen zu lassen. Im Gegenteil, er deutete auf das Gewehr, sagte noch ‚Spinnst du jetzt!‘ und wollte weitergehen, da ging der Schuss los. Rocky war sofort blutüberströmt, und wir wussten nicht, was wir jetzt machen sollten. Da haben wir ihn samt seinen Enten ins Wasser geworden.“
„Wo genau ist der Schuss gefallen?“
„Auf dem südlichen Uferweg Richtung Bootshaus vor der ersten Bank.“
Das war genau die Stelle, an der man die Blutflecken auf den Pflastersteinen gefunden hat. „Und wie spät war es da?“
„Weiß nicht genau, ich denke so gegen halb neun.“
„Danke, Brückner, das reicht mir. Ich werde ein paar versöhnliche Worte für deine Frau finden, das versprech ich dir.“
Becker wandte sich dem Doktor zu. „Spritz ihm noch was, damit er sich nicht mehr an das Gespräch erinnert. Und wenn er schläft, nimm diesem armen Teufel die verdammten Bandagen ab. Morgen schickst du ihn heim, zu Fuß, damit seine Knochen wieder in Gang kommen.“
„Hab ich schon. Der weiß morgen früh nicht mehr, ob er geträumt oder dir tatsächlich etwas erzählt hat. Du willst dieses Geständnis hoffentlich nicht vor Gericht verwerten? Ich warne dich, die Anwälte zerreißen dich in der Luft.“
„Nein Marcel, das Geständnis hat als solches keine rechtliche Wirkung. Aber ich weiß jetzt, wie alles abgelaufen ist. Jetzt liefere ich dir verwertbare Geständnisse im 30-Minuten-Takt, und zwar von allen Dreien. Darauf kannst du dich verlassen.“
 



 
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