Klappmesser und Hexe (Tränenp. 10)

rotkehlchen

Mitglied
10. Ein Klappmesser und eine Hexe

Etwa zur gleichen Zeit, zu der sich Kommissar Diercksen im städtischen Klinikum umtat, schritt der Hauptkommissar auf die neue Musikschule zu.
Heiland stieg die Stufen zum Portal hoch, vor dem einige Jugendliche beiderlei Geschlechts mit Instrumentenkästen an der Hand oder im Arm standen und sich unterhielten. Über der zweiflügeligen Tür prangte eine Inschrift in schiefergrauen Buchstaben auf weißem Grund:

Wer sich die Musik erkiest, hat ein großes Gut gewonnen.

Wie wahr!, dachte Heiland, ohne Kies läuft anscheinend auch in der Kunst nichts.
In der kühlen Eingangshalle blieb er stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann fragte er einen Schüler nach dem Sekretariat. Kurz darauf stand er im Zimmer des Schulleiters.
Der Raum war fast ganz in Schwarz gehalten: Schwarze Ledersessel, schwarze Vorhänge, schwarzer Schreibtisch, schwarze Aktenschränke. Der Teppich war dunkelgrau mit schwarzen Einsprengseln, die Wände schimmerten immerhin hellgrau. Heiland blickte sich unwillkürlich um, nicht so verhalten-höflich wie immer, wenn er ein fremdes Zimmer betrat, um nach irgendwelchen ermittlungs-relevanten Hinweisen zu suchen, sondern diesmal aus purer Neugier. Er suchte nach Totenkopfemblemen oder anderen Zeichen nekrophiler Vorlieben. Doch der Raum war fast kahl, fast ohne jeden Zierrat. Werden hier schwarze Messen veranstaltet, fragte er sich einen kurzen Moment, in einer Musikschule, in einer öffentlichen Anstalt?
„Herr Hauptkommissar Heiland, was zögern Sie? Treten Sie doch näher!“
Herr Wiedehopf stand halb erhoben hinter seinem schwarzen Schreibtisch und lächelte ironisch. Er streckte seinem Besucher die Hand an einem erschreckend langen Arm entgegen. Sein stark behaarter Unterarm ragte teilweise aus der Manschette heraus. Heiland nahm die Hand und drückte sie. Die Hand war trocken, ihr Druck kraftlos. In dieser Haltung glich ihr Besitzer einem überdimensionalen, halb aufgeklappten Taschenmesser, nur die Krawatte hing senkrecht. Es sah aus, als stütze er sich auf der Halsbinde ab.
Herr Wiedehopf sagte, als er Heilands Hand hielt: „Wiedehopf, angenehm!“ Dabei glitt ein kleines, verlegenes Lächeln über sein Gesicht. Denn ihm war in diesem Moment alles andere als angenehm zumute. Jedesmal, wenn er 'Wiedehopf' sagen musste, zog sich in ihm alles zusammen, denn er hasste seinen Namen. Er hasste ihn aus tiefstem Herzen und seit annähernd fünfzig Jahren.
Damals, in der sechsten Klasse, hatte ein Mitschüler zufällig herausgefunden, dass der Vogel Wiedehopf auch als Stinkhahn bezeichnet wird, weil er bei Erregung ein widerlich riechendes, ätzendes Sekret aus seiner Bürzeldrüse ausscheidet. Seitdem hatten sie ihn nur noch Stinkhahn genannt.
Nun ja, ganz unbegründet war der Schimpfname nicht gewesen. Wiedehopf litt zu der Zeit unter entsetzlichen Schweißfüßen, gegen die anscheinend kein Kraut gewachsen war.
Das alles war nun lange her, und auch die Schweißfüße waren nicht mehr da. Denn, wie´s so geht, mit den Jahren hatte sich auch Wiedehopfs Stoffwechsel geändert, er war nicht mehr so intensiv, die Bakterien hatten auf seinen Füßen keine Zukunft mehr gesehen und waren weitergezogen. Das physische Problem war also gelöst. Blieb noch das psychische.
Als zartbesaiteten Menschen hatte ihn der grausame Spott, den er jahrelang ertragen musste, tief verletzt; die Wunden waren immer noch nicht vollständig verheilt...

Der Schulleiter bat Heiland, Platz zu nehmen. Heiland setzte sich, und auch das Klappmesser knickte weiter ein. Es sprach als erster. „Möchten Sie einen Kaffee?“
Die Stimme war überraschend guttural mit dem Timbre eines knurrenden Löwen. Heiland wehrte dankend ab, er habe schon heute morgen –
„Sie kommen wegen des Kollegen Fehrenkötter“, sagte der Schulleiter. „Am Telefon sagten Sie, bei seinem Tod hätten sich einige Ungereimtheiten ergeben. Inwiefern?“
Heiland, den das Ambiente des Raums bedrückte, versuchte zu witzeln. „Es gibt gewisse Hinweise, dass Herr Fehrenkötter nicht aus freien Stücken starb, und dass dabei jemand assistierte.“
Herr Wiedehopf sah den Hauptkommissar aus leicht hervorquellenden, stahlblauen Augen starr an. „Ich verstehe nicht!“
„Wir vermuten, dass sich noch eine zweite Person auf dem Dachboden aufhielt, als er starb. Doch diese Person ist bis jetzt noch in keinster Weise fassbar.“
„Und diese Person gedenken Sie in meiner Schule zu finden?“
„Möglicherweise.“
Wiedehopfs Intensivblick verstärkte sich. Jetzt habe ich ihn beleidigt, dachte Heiland, er versucht, mich optisch niederzuzwingen. Da der Hauptkommissar jedoch keinerlei Lust verspürte, sich auf ein Augenduell einzulassen, heftete er seinen Blick auf Wiedehopfs Kehlkopf. Er sagte: „Sehe ich das richtig? Ihre Lehrer sind doch fast alle auch Mitglieder des städtischen Sinfonieorchesters.“
„Das sehen Sie durchaus richtig. Nur was hat das – “
„Das städtische Sinfonieorchester spielt doch auch bei Opernaufführungen. Leider war im Stadttheater niemand zu erreichen, deshalb frage ich Sie. Stimmt es, dass bei manchen Opernaufführungen Schweineblut verwendet wird?“
Heiland biss sich auf die Lippen, denn fast hätte er laut aufgelacht. Wiedehopfs Gesicht sah in diesem Moment auch zu ulkig aus.
„Schweineblut? Wie kommen Sie ausgerechnet auf Schweineblut?“
„Beantworten Sie bitte meine Frage. Ja oder nein?“
„Früher schon, besonders in der Barockoper! Wenn´s besonders blutig hergehen sollte, wie zum Beispiel bei der Medea. Bei manchen Aufführungen soll die Bühne von Blut überschwemmt gewesen sein, liest man in alten Rezensionen, sodass es in den Orchestergraben tropfte.“
„Wie wurde das Blut eingesetzt?“
„Das Theatermesser zerdrückte eine mit Blut gefüllte Schweineblase. Wie bei den Gladiatoren im alten Rom. Die starben auch nicht immer einen wirklichen Tod. Heute nimmt man natürlich Farbe. Der Effekt ist immer wieder überraschend, obwohl jedermann weiß, dass es kein echtes Blut sein kann und der Tenor nicht wirklich stirbt.“
„Besonders, wenn der Getötete noch minutenlang weitersingt!“
„Na ja, das ist eben Oper! Ein Welt für sich.“
Heiland lehnte sich zufrieden zurück und nahm seinen Blick von Wiedehopfs Fliege. „Dacht´ ich mir´s doch.“
„Was dachten Sie sich?“, fragte der Schulkönig verblüfft.
Heiland antwortete nicht sofort. Er überlegte, ob es ratsam sei, Herrn Wiedehopf zu bitten, die Schreibtischlampe anzuknipsen. Er hätte zu gerne gewusst, ob sich unter dem grauen Schirm schwarzes Licht –
„Herr Hauptkommissar?“
„Ähem... Entschuldigen Sie... Ja. In einem Bohrloch im Dielenboden neben dem Toten konnten Reste von Schweineblut sichergestellt werden. Das Blut war erst vor kurzem dort eingebracht worden, denn das Bohrloch war neu. Das Blut muss durch die Decke des darunter liegenden Büros getropft sein, denn auf dem Büroboden fanden sich Spuren von organischem Eisen. Deshalb vermute ich eine zweite Person auf dem Dachboden, die das Blut durch das Loch geträufelt hat.“
Wiedehopfs Oberkörper schnellte vor, sodass sich seine silbergrauen dünnen Haare im Luftzug bewegten. „Das ist noch lange kein Grund, diese Person unter meinen Lehrern zu suchen!“ rief er entrüstet. „Werden Sie bitte nicht albern! In der städtischen Wurstfabrik bekommen Sie Schweineblut literweise. Da kann jeder hingehen und sich was holen!“ Sein Blick war jetzt wieder starr auf Heilands Gesicht gerichtet. Der dachte: Natürlich! Meine Schule! Meine Lehrer! Das ist meine Domäne, und hier dominiere ich!
Heiland hob begütigend die Hand. „Herr Wiedehopf, beruhigen Sie sich! Niemand verdächtigt einen Ihrer Lehrer konkret, zumindest bis jetzt nicht. Wissen Sie: Ich stochere gerne mal ein bisschen hier, ein bisschen dort, vielleicht stoße ich ja mal zufällig auf etwas Verwertbares. Jeder hat so seine Methode. Es ist nämlich so: Bis jetzt bin ich mir noch nicht einmal sicher, ob zwischen dem Blut und Herrn Fehrenkötters bedauerlichem Ableben ein ursächlicher Zusammenhang besteht.“ Heiland gab sich zerknirscht. „Alles nur vage Vermutungen. Leider. Möglicherweise werd´ ich es nie herausfinden.“
Er schwieg anscheinend bedrückt. Das war seinen Methode: Den Befragten einschläfern und dann urplötzlich mit einer scharfen Frage wie aus heiterem Himmel zuschlagen. Von irgendwoher erklang leise, aber ziemlich gewöhnungsbedürftige Blockflötenmusik und rhythmisches Klatschen.
„Warum kommen Sie dann zu mir?“
Wiedehopf blickte Heiland fest in die Augen. „Sie können sich anscheinend nicht vorstellen, wie knapp meine Zeit bemessen ist. Um zehn beginnt die Probe für das Abschlusskonzert am Sonntag. Und danach dies und das. Wenn Sie weiter stochern wollen, bitteschön, aber nicht bei mir!“
„Gut, gut, ich will Sie auch nicht mehr lange aufhalten. Eigentlich bin ich nur gekommen, um ein paar Erkundigungen über den Verstorbenen einzuziehen. Was für ein Mensch war er? Wie war er als Musikerzieher, als Kollege? Hatte er Neider, möglicherweise sogar Feinde?“
„Neider? Welcher erfolgreiche Mensch hat sie nicht?“
„War Herr Fehrenkötter erfolgreich?“
„Na und ob! Fehrenkötter war ein außerordentlich begeisterter Musiklehrer, und diese Begeisterung konnte er auf seine Schüler übertragen. Bei Musikwettbewerben räumten seine Flötenkünstler regelmäßig erste Preise ab.“
Heiland überlegte kurz, ob man mit dieser Flötenmusik, die er gerade vernahm, Preise 'abräumen' konnte.
„Ja, ja, der Erfolg“, sinnierte er laut, „manchmal stellt er sich ganz einfach ein... So einfach wie ein Fehler oder ein Heiratsantrag... Vielleicht hat man ja manchmal keinen Erfolg, weil man ihn in seiner Schlichtheit einfach übersieht.“
„Herr Hauptkommissar, worauf wollen Sie hinaus?“
„Hinaus? Ach, entschuldigen Sie, manchmal drehen sich meine Gedanken im Kreis...Und Feinde? Ich meine, hatte Herr Fehrenkötter Feinde?“
Natürlich führte Heiland gerade eine Komödie auf. Natürlich drehten sich seine Gedanken im Kreis, denn ein Lügner war er nicht! Aber es waren nicht die Kreise in irgendeinem Wolken-Kuckucks-Heim, sondern ganz konkrete. Er versuchte, sein Gegenüber einzukreisen und eine schwache Stelle bei ihm zu entdecken.
„Feinde?“, sagte Wiedehopf sichtlich verwundert, „nein, da müsste ich mich schon sehr täuschen. Nun ja, man kann nie wissen... Aber nein, der Gedanke ist absurd. Herr Fehrenkötter war ausgesprochen umgänglich und pflegeleicht.“
Heiland betrachtete versonnen die Beethovenbüste aus Gips, die auf dem schwarzen Schreibtisch krankhaft bleich wirkte. Er sagte: „Was meinen Sie mit pflegeleicht? Diesen Ausdruck verstehe ich nicht.“
Der Musikschulleiter lachte nervös und strich sich mit der Hand durch die dünnen Haare. „Nun ja“, sagte er gedehnt, „es ist so eine Floskel...“ Er räusperte sich. „Herr Fehrenkötter kam eben mit allen Leuten gut aus, zumindest, soweit ich sehen konnte. In Kompetenzstreitigkeiten mischte er sich nie ein, er hatte ja auch andere Sorgen. Sie wissen sicherlich, dass er schwer herzkrank war und deshalb jede Aufregung mied.“
„Und als Pädagoge? Wie war er da?“
„Als Pädagoge... Sie werden lachen, aber darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich habe nur seine Erfolge gesehen und war´s zufrieden.“
„Konnte er sich durchsetzen, hatte er Disziplinschwierigkeiten? Gab es Ärger mit den Eltern? Wenn ich so an meine Schulzeit denke... Da ging es manchmal ziemlich hoch her... Manche Klasse glich geradezu einer terroristischen Vereinigung, haha!“
Herr Wiedehopf brachte doch tatsächlich so etwas wie ein Lächeln zustande. „Herr Hauptkommissar, Sie vergleichen jetzt Äpfel mit Birnen. Gottseidank gibt es keine Musikschulpflicht, dann hätten wir wahrscheinlich ähnliche Verhältnisse. Der Besuch einer Musikschule ist freiwillig und kostet Geld. Wer hier herkommt, weiß warum. Die meisten Schülerinnen und Schüler sind von ihrem Instrument besessen, viele wollen Karriere machen. Schön, manchmal fehlt das Talent, manchmal die Ausdauer, manchmal beides. Na gut, dann meldet man sich eben wieder ab! Wo ist da das Problem? Zum Terror, wie Sie sich auszudrücken beliebten, besteht wahrlich kein Grund. Außerdem haben wir kleine Klassen, fünf, sechs, sieben Schüler, wenn´s hochkommt manchmal zehn. Da fehlt, wie soll ich sagen... Das bleibt weit unterhalb der kritischen Masse, bei der es zu –“
Die Tür ging auf: Die Sekretärin. Sie sagte: „Herr Wiedehopf, in einer Viertelstunde beginnt die Probe!“
Heiland sagte: „Eine letzte Frage noch, bitte. Die Frau Asche-Kowalski unterrichtet doch auch bei Ihnen, so weit ich weiß Cello.“
„Ja. Warum fragen Sie?“
„Der Name dieser Dame tauchte schon mehrmals im Zusammenhang mit dem ungeklärten Verschwinden zweier Personen auf, und seit etwa vierzehn Tagen ist auch Frau Asche-Kowalski selbst unauffindbar. Sie wissen nicht zufällig, wo sie sich gegenwärtig aufhalten könnte?“
„Da muss ich passen. Leider nein. Ich weiß nur, dass sie seit längerem krank geschrieben ist. Wahrscheinlich ist sie irgendwo auf Kur. Warum befragen Sie nicht ihren Hausarzt?“
Heiland lachte aufgesetzt. „Wenn ich denn wüsste, wer es ist! Und wenn ich es wüsste, würde es auch nichts bringen. Auch wenn ich meinen Ausweis zücke, ein bloßer Verdacht reicht nicht, um die ärztliche Schweigepflicht zu brechen. Sagen Ihnen die Namen Großmann und von Bovenden etwas?“
„Sind das die vermissten Personen? Herr Großmann ist soviel ich weiß Frau Asche-Kowalskis Lebensgefährte, und von Bovenden... Hm... Kann es sein, dass der Mann Chirurg ist?“
„Woher wissen Sie, dass es ein Mann ist?“
„Ich vermute.“
„Herr von Bovenden ist Chefarzt der Abteilung für Wirbelsäulenchirurgie am hiesigen Krankenhaus.“
„Ah ja, deshalb kommt mir der Name bekannt vor! Frau Asche-Kowalski hat sich vor etwa einen halben Jahr am Rücken operieren lassen. Dann war er möglicherweise ihr Operateur. Fragen Sie doch einfach im Krankenhaus nach... Ach so, die sagen ja auch nichts.“
„Herr Wiedehopf, eine letzte Frage noch.“ Heilands Blick traf hart auf die Augen des Schulleiters. „In welcher Beziehung stand Herr Fehrenkötter zu Frau Asche-Kowalski?“
Wiedehopf hielt den Blick aus. „Ich wüsste von keiner Beziehung, außerdem interessiert es mich nicht, was meine Lehrer und Lehrerinnen privat –“
„Ich meine natürlich im Schulbetrieb!“
„Ach so!“ Wiedehopf schien irgendwie erleichtert. „Herr Fehrenkötter war hier lange Jahre Vertrauenslehrer. Nicht nur Schüler, sondern manchmal sogar auch Lehrkräfte weinten sich bei ihm aus. Er besaß ein großes Herz und ein offenes Ohr für alle. Er war so etwas wie ein lebender Kummerkasten. Ich erinnere mich, dass Frau Asche-Kowalski einmal mit verweinten Augen aus seinem Zimmer rann... kam. Aber worum es da ging – da fragen Sie mich zu viel. Es ist ja auch schon lange her.“
„Wie lange, bitte?“
Herr Wiedehopf dachte nach. „Nun ja, zehn Jahre bestimmt schon. Ist das denn wichtig?“
„Weiß ich noch nicht.“ Der Hauptkommissar erhob sich, und auch Herr Wiedehopf stand auf. Sein Aufstehen nahm schier kein Ende. Er ist mindestens noch einen halben Kopf größer als ich, stellte Heiland fast bewundernd fest, als er ihm die Hand gab.
„Hier meine Karte! Falls Ihnen noch etwas einfällt, das mir weiterhelfen könnte, rufen Sie mich einfach an!“

Als Wiedehopf wieder allein war, öffnete er seinen Sakko und ließ er sich erschöpft in seinen Bürosessel fallen. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Mit einem Taschentuch betupfte er seine feuchte Stirn und seufzte erleichtert auf. Die Gefahr war vorüber!
Wider alle Vernunft hatte er die ganze Zeit während der Unterhaltung befürchtet, der Hauptkommissar könnte ihn mit Herr Stinkhahn anreden...

Heiland hatte die Musikschule kaum verlassen, da kehrte er wieder um. Ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf. Es war der Anblick von teuflisch verzerrten Gesichtern, und diese Fratzen hatte er gerade leibhaftig gesehen. Er lief zurück in die Eingangshalle zu der Tür gegenüber dem Wandbild, die vorhin, als er kam, geschlossen war, und hinter der er die Klaviertöne und die Stimme gehört hatte. Jetzt stand sie eine handbreit auf, und die Klaviermusik war jetzt laut und deutlich. Er klopfte an, und da niemand reagierte, trat er ein.
Eine Gruppe junger Mädchen mit knabenhaften Körpern, alle in eng anliegenden schneeweißen Overalls, trippelten auf den Zehenspitzen und drehten sich im Kreis, die Arme waagerecht von sich gestreckt. Ihre Gesichter waren mit seltsamen Fratzen maskiert. An einer Schmalseite des Raums stand das Klavier; ein älterer Mann bearbeitete es rhythmisch, indem er auf die Tasten drosch und heftig mit dem rechten Fuß wippte.
Eine der Fratzen löste sich aus der Gruppe und kam auf Heiland zu. Die Gestalt war etwas größer als die anderen, wohl die Gruppenleiterin.
„Bitte?“
Als sie sein verdutztes Gesicht sah, musste die Fratze grinsen, wodurch sie noch unheimlicher wirkte.
Heiland zog seinen Dienstausweis hervor und sagte: „Hauptkommissar Heiland von der Mordkommission.“
Die Fratze stutzte einen Moment, dann brach sie in ein heiteres, helles, unbeschwertes Gelächter aus. Ihr hagerer Körper schüttelte sich. „Aber nicht doch, Herr Hauptkommissar“, brachte sie mühsam hervor, „hier geht alles mit rechten Dingen zu...“ Ein kleines Nachlachen nahm ihr für einen Moment die Sprache. „Wir sind die Ballettgruppe des Stadttheaters und keine Mordmädels! Wir sehen zwar wie Furien aus, aber im wirklichen Leben sind wir ganz harmlos! Weil im Theater umgebaut wird –“
„Ich weiß! Weil im Theater gebaut wird, müssen Sie hier üben. Mich interessieren auch nicht Ihre finsteren Hintergedanken, sondern Ihre finsteren Masken. Sagen Sie, könnte ich mir solch eine Maske für ein paar Tage ausleihen?“
Die Maske sah ihn scharf an. Es war ein Hexengesicht mit einer langen krummen Nase, faltiger Stirn und blaugrünen Pickeln am spitzen Kinn. „Wozu?“
Heiland überlegte einen Moment, bevor er antwortete. „Sagen wir mal so: Es dient der Wahrheitsfindung.“
„Na schön, dann schau´n wir doch mal, was wir da noch haben. Kommen Sie!“
Sie gingen zurück in den Raum, die Hexe öffnete den Schrank und sagte: „Sie können sich eine aussuchen.“ Während Heiland sich die Masken ansah, rief sie händeklatschend in den Saal hinein: „Und eins – Magdalena, die rechte Schulter höher – und dreht – und zwei – und zwei – und ZWEI – Kinder, merkt ihr nicht, dass ihr aus dem Takt seid – Jürgen, etwas langsamer bitte – und beugt – und hoch – und steht!“
Heiland wählte eine Teufelsfratze mit knallroten Lippen und Hörnern.
„Eigentlich darf ich nichts herausgeben“, sagte die Hexe, die nach Stimmlage eine junge Frau sein musste, vielleicht sogar eine hübsche, „Sie müssten sich einen Leihschein vom Stadttheater besorgen.“
Heiland trat verlegen von einem Bein aufs andere. „Geht´s nicht auf dem kleinen Dienstweg? Ich sagte doch schon, es dient der Wahrheitsfindung.“
Die Hexe überlegte einen Moment. „Sie sind von der Mordkommission, sagten Sie? Dann wollen Sie doch bestimmt einen Mord aufklären.“
„Wenn es Ihr Gewissen beruhigt, ja.“
„Na gut. Dann quittieren Sie bitte auf diesem Zettel.“
Heiland quittierte. Die Hexe sagte: „Wenn es sich um einen Mord handelt, verstehe ich nicht, welche Rolle eine schnöde Gummimaske dabei gespielt haben könnte. Sie tun ja gerade so, als könnte man mit einer Maske jemanden umbringen. Das ist doch absurd!“
„Ich fürchte, liebe Hexe, man kann durchaus!“, erwiderte Heiland und verabschiedete sich.

Als er die Musikschule diesmal endgültig verließ, hüpfte er vor Freude die Eingangsstufen herunter. Er strahlte. Mit der Faust schlug er sich in die Hand und murmelte: „Das ist der Durchbruch! Es geht doch nichts über einen verlässlichen Riecher!“
 



 
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