KW 10/24 Vom Glück des Prokrastinierers

Kai Kernberg

Mitglied
KW 10/24 Vom Glück des Prokrastinierers

Warnung! Dieser Tagebucheintrag ist ungeeignet für Menschen, die chronisch neidisch sind und wiederkehrende Versagensträume haben.

O Ja, ich habe die Warnung verstanden.
O Nein, ich werde keine missgünstigen Kommentare schreiben.



Die Leute erzählen gelegentlich von ihren Träumen. Besonders häufig erzählen sie von dem wiederkehrenden Albtaum nach dem Muster: Eine wichtige Aufgabe ist zu bewältigen und eine ganz zentrale Gelingensbedingung geht unverrückbar schief. Und immer enden diese Träume schlecht. Ein paar Beispiele: Bei einer Zugreise hast Du Deinen Koffer irgendwo stehenlassen. Die Umzugsspedition steht vor der Tür und Du hast Nichts gepackt. Die Examenszeit ist um und Du hast vergessen, eine Pflichtprüfung abzulegen. Diese Art von Traum kenne ich auch. Vielleicht kennen ihn sogar alle Menschen weltweit?
Heute morgen hat mich wieder so einer erwischt. Es muss gegen fünf Uhr (reale Zeit) gewesen sein. Ich befand mich Dekaden zurück in der Schule. Es war Abiturprüfungszeit. Das dritte Prüfungsfach "Physik" war heute (Traumzeit) zu schreiben. Das Problem war nur, dass mein Physiklehrer in den vergangenen zwei Jahren fast durchgehend krank war. (Im Traum sah ich übrigens meinen echten Physiklehrer von damals vor mir.) Anstatt mir Sorgen um den armen Mann zu machen, hatte ich über die zwei Jahre die Freistunden genossen und -mangels anderer Anhaltspunkte- immer eine gute Note einkassiert.
Letzte Woche (Traumzeit) hatte ich noch diverse Mitschülerinnen und Mitschüler befragt, wie sie sich denn ohne Unterricht auf die Abiprüfung vorbereiten würden. Unisono haben sie geantwortet "Physik im Abi? Niemals! Warum bist Du nicht einfach in den Parallelkurs gegangen? Die hatten doch durchgehend Unterricht!" Tja, hinterher schlau sein kann jeder. Und nun?
Für andere Menschen wäre der anbrechende Tag (Realzeit) gelaufen gewesen. Schweißausbruch, Herzrasen, sofort das Zeugnis suchen und die Noten nachlesen, Johanniskrauttee trinken (und die Sonne meiden!) und die Geschichte auf der Arbeit erzählen. Bei mir läuft das anders. Ich werde das nie jemandem verraten.
In meinem "Physikprüfung"-Traum machte ich mir wirklich große Sorgen, wie ich die Klausur bestehen sollte. Es war der Morgen des Prüfungstages, Ich stand halb im Freien und halb in der Küche und plötzlich lag vor mir auf den Küchentisch ein dickes, aber nicht zugeklebtes DIN A4-Kuvert und ein quadratisches, in Packpapier gewickeltes Paket. Es muss ein Brief an mich dabei gewesen sein. Ich konnte ihn nicht sehen, aber sein Inhalt ging mir durch den Kopf. "Bringen Sie das Paket mit den Prüfungsaufgaben mit in die Schule. Das Kuvert mit den Lösungshinweisen händigen Sie der Prüfungsaufsicht aus." Das kam ja wie gerufen! Ich schwankte noch, ob ich die Unterlagen schnell noch abfotografieren und an meine Mitschüler*innen verschicken sollte. Aber erstens war ich spät dran, zweitens musste ich zuerst an mich denken, drittens gab es zu meiner Abiturzeit noch kein Smartphone und viertens kannte ich ja niemanden, der/die diese Physikprüfung auch schreiben würde. Ich schwang mich mit dem ganzen Krempel auf mein Fahrrad, fuhr los und bekam Zweifel. Mein Traumgenerator berechnete den Traumverlauf neu. Das Bild bliebe stehen, das Bild ruckelte, die Szene sprang zurück in die Küche und setzte nochmals für eine Sekunde an. Dieser Traum war in einer Sackgasse gelandet. So würde das Nichts mit der Prüfung.
Plötzlich gab es einen Zeitsprung in die Zukunft (Traumzeit). Der Schuldirektor verkündete: "Alle Prüflinge haben ihre schriftlichen Arbeiten mit mindestens zehn von fünfzehn Punkten absolviert. Wir gehen daher davon aus, dass alle, die nicht mitgeschrieben haben, auch nicht komplett wissensfrei sind und bekommen drei Punkte." Was für eine großartige Idee! Was für ein Akt der Menschlichkeit! 3 Punkte für Nichts nach zwei Jahren Freizeit!
Ich wachte auf und strahlte, fiel aber sofort in ernste Gedanken. "Das kannst Du keinem erzählen", ermahnte ich mich selbst, "niemand träumt sich die Welt so schön. Da bekommst Du nur wieder diese doofen Geschichten von der Reise und vom Umzug zu hören. Verkneif' es Dir einfach, genauso wie die Träume von den zweiunddreißig Eiskugeln im Freibad in Ägypten bei 50 Grad, dem Synchronschwimmerinnenteam in der Bar der schwankenden Ostseefähre und..."


P. S. Ich hatte als drittes schriftliches Abiturprüfungsfach NICHT Physik. Auf so eine Idee wäre ich nicht im Traum gekommen.
P. P. S. Mein Physiklehrer war fast nie krank und war immer fit. Er musste heute fast 90 Jahre alt sein.
 
Zuletzt bearbeitet:

John Wein

Mitglied
Hai Kai,
Amüsant und ein wenig verwirrend.

Man fragt sich: „Prokrastinatinierer, häh?“ Hört sich irgendwie wie bei einem Roman aus der KuK-Zeit an. Ein geschickter Schachzug etwa, den Leser mit Speck in die Lesefalle zu locken? Gut, aber am Ende hättest du es vielleicht doch mal erläutern sollen oder wolltest du uns als Lehrer dazu bewegen, es selbst zu recherchieren? Ok, ich bin jetzt im Bilde und weiß um welches Phänomen es sich dabei handelt. Man kennt es ja, es ist gar nicht einmal so selten und wie ich „recherchiert“ habe, gibt es an der Uni Münster sogar eine Prokrastinationsambulanz; in Münster, natürlich wieder mal!

Zum Technischen Part: die Gliederung! Absätze sind nicht nur bei Schuhen wichtig, sondern auch bei einer Geschichte, um sie insgesamt gut zu überblicken und da würde ich jeweils eine ganze Zeile leer lassen. Aber hier:

Vielleicht kennen ihn sogar alle Menschen weltweit? Heute morgen hat mich wieder so einer erwischt.
hier:....weltweit?
Absatz
Heute morgen.....

sonst gefällt es mir gut, nur, und da bin ich vielleicht ein bisschen konservativ, mag es in Physik angebracht sein, aber in der Literatur finde ich das Gendersternchen, sagen wir mal einfach, um das Esszehha Wort zu meiden, nicht sehr angebracht. Ist aber Generation- oder Ansichtssache.
LG; John
 

Kai Kernberg

Mitglied
Vielen Dank, lieber John Wein (außerordentlich cooler Name).

Das Wort Prokrastination habe ich auch kürzlich erst gelernt. Ich finde, alle die es machen, sollten es kennen :)
Es sind zu wenige Absätze, da stimme ich Dir zu. In meinem Arbeitsalltag sind sie verpönt, die Leselupe mag sie gerne. Ich arbeite daran, KW 14/24 hat mehr davon.
Ja, das Gendersternchen. Es sollte für sich alleine das Wort des Jahres 2024 werden! Wenn sich schon Reigen arrivierter Politprominenzen säbelrasselnd aufschwingen, der Jugend mit schlechten Noten für gewagte Schriftzeichen zu drohen, dann MUSS es umso mehr verwendet werden. Meine Hoffnung ist gleichwohl: In fünf Jahren kräht kein Hahn/ Huhn/ Diversgeflügel mehr danach und es wird eine einheitliche Lösung etabliert.
LG Kai
 



 
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