Nächster Halt Leben

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Phil Trepal

Mitglied
Nächster Halt Leben.



Der Motor schnurrt vertraut. Der Winter entfaltet sich farblos längsseits der Straße, die Felder erstrecken sich in weißem Ödland und neben mir, seien es 300 Meter, schiebt sich der Wald vor den Horizont wie ein nahender Tsunami. Das Panorama ist tröstend, der Motor räuspert sich und ich bin wieder da. Aber Hauptsache anders. Ich starte in den Tag, unspektakulär. „Einmal wie immer bitte!“ Das Grau, das die Oma versprüht, ist mir vertraut. Ich gebe ihr die Fahrkarte und lächle kurz. Der Schnee, den sie mit hineinbringt, wird zu Wasser und sammelt sich in kleinen grauen Perlen hinter mir. Vielleicht wird sie ausrutschen denke ich und schäme mich. Sie stakt zu ihrem Platz, ihr Gehstock klopft stumpf mit jedem Schritt und ihre Behäbigkeit lässt mich hier und da sauer aufstoßen. Sie ist mir vertraut. Hinten sitzt die Schrille. Ich glaube sie heißt Tina. Sie ist ein Lichtblick, irgendwie. Immer bunt, immer anders, manchmal unverschämt. Sie sitzt immer auf demselben Platz, und immerzu nickt sie wie ein Specht zu der Musik, die aus ihren pinkfarbenen Kopfhörern trommelt. Der Bass ist so dumpf wie die Zahnschmerzen ganz hinten im Mund. Sie wird sicherlich gemocht von vielen, häufig eingeladen oder herbestellt, da die Leute scharf sind, auf die ganze Farbpallette, die sie zu bieten hat. Ich hätte gern eine dieser Farben, vielleicht für einen Tag. Die in Tücher gewickelte Oma nimmt drahtig Platz und schweigt. Meine Kehle ist sauer. Ich schaue auf die Straße und fühle mich konfrontiert mit tagtäglichen Begebenheiten, die sich gleichförmig auffädeln auf eine viel zu lange Kette. Asphalt und grauer Schnee geben sich die Klinke in die Hand und alles wälzt sich zurück in Reizlosigkeit. Erwin ist auch schon da. Ich glaube, dass man ihn so nennt. Schon 2 Jahre nimmt er meine Route. Keinen Tag lässt er aus. Seine Mundwinkel hängen manchmal und sie sehen aus, als rauche er immerzu Zigarren. Und auch die Zornesfalte schleppt er mit sich. Tag für Tag. Im Sommer ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich ihm in Gedanken einen Strohhalm genau an die Stelle zwischen seinen Augenbrauen platziere und warte, bis seine Mimik sich löst und sie schließlich zu Boden fällt. Denn dann denkt er nach. Und wenn er damit fertig ist, dann bildet sich die Furche erneut und ich suche mir etwas anderes als einen Strohhalm. Tina würde dann nicken wie ein Specht und die graue Oma würde in Farblosigkeit versinken. Jetzt, im Winter, erlaube ich mir keine Gedankenspiele. Ich erlaube mir gar nichts. Ich muss auf die Straße achten, vorbildlich. Die Strecke, die ich fahre, zieht sich wie ein alter Kaugummi ohne spröde zu werden. Ich passiere verschneite Dorfschilder, immerzu leere Wartehäuschen und - wenn ich Glück habe - dann kommt mir ein Auto entgegen. Mit den Dorfschildern kommen die Gedanken in immer neuen Zyklen. Gedanken über Routine, Gedanken über Disziplin und Zuverlässigkeit. Zu Hause ist alles am rechten Platz, der Wecker klingelt zur richtigen Zeit, der Kaffee ist immer zu heiß. Das nächste Ortsschild blinkt auf in der Ferne, es ist nicht mehr weit. Gerade so, dass ich es sehen kann. Die Kerle, die von der nahegelegenen Stadt beauftrag sind, dem Schnee Herr zu werden, schuften heute besonders. Der Winter hat nicht lange auf sich warten lassen. Und sie schieben mit schwerem Gerät das weiße Zeig von der Straße weg oder stemmen sich dagegen. Ein greifbarer Widerstand. Noch 2 Dörfer dann wird Erwin aussteigen. Und Tina wird nichts sagen und nicken und die Oma wird links aus dem Fenster schauen. Ich trommle mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Erst im Takt zu Tinas Popmusik - die sie übrigens niemals ändert - dann, weil ich merke, wie die ersten Schweißtropfen aus meinen Poren sprießen. „Du musst nicht anhalten!“, murmele ich mir in den Bart. Sätze, die ich drehen und wenden kann. Ich habe mir Gedanken gemacht. Die ganze Nacht. Habe abgewogen und verworfen und wieder von vorne angefangen. Den nächsten Feldweg passiere ich jetzt langsamer. Ich drehe die Schraube ein wenig nach links, dann wieder nach rechts und dann wieder nach links, in einem riesigen Apparat oder Mechanismus, der immer wieder frisch geölt wird. Mir fällt auf, dass ich tatsächlich langsamer werde und eine Sekunde lang genieße ich etwas. Gerade neben mir, am Neubacher Feld, trete ich auf die Bremse. Die Oma grunzt heiser und ich rechne damit, dass sie endlich mal etwas sagen wird. Tina nimmt die Kopfhörer ab und hält den Kopf schief. Ich steige aus, fahre mir durch die Haare und warte. Das Klopfen hinten blende ich aus. Ich greife nach meinem Tee, rauche hastig, schwitze, dünste aus, sehe nach oben und lasse den Tsunami etwas näherkommen. Dann stehe ich da, bewusst. Ich denke daran, wie ich ein paar Bilder in der Wohnung umräume und den alten Fernsehsessel in die Ecke mit den Blumen stelle. Die Kaffeemaschine kommt neben den Herd und den Vogel gebe ich ab. Und ich werde mich trauen, nach einer neuen Route zu fragen und den Hörer nicht ständig wieder auflegen. Und wenn es sein muss werde ich ein bisschen hartnäckig sein. Der Filter wird heiß, ich nehme noch einen Zug. Der Schnee frisst die Glut und ich klettere zurück in meine Kabine. Die Oma und Tina werden heute 5 Minuten zu spät kommen, vielleicht werden sie irgendetwas Wichtiges verpassen. Aber ich atme einige lange Sekunden auf und setze meinen Fuß wieder aufs Gaspedal.
 



 
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