Teil 10 * Club Saturn

»Ich will das nicht!«, schimpfte Sina.
Manfred hatte es sich in ihrem Wohnzimmer bequem gemacht. Er trug ein kurzes schwarzes Röckchen, ein ärmelloses schwarzes Oberteil und darüber eine dünne rote Jacke.
»Was willst du nicht?«, fragte er verständnislos.
»Dass du dich immer hier zurechtmachst!«
»Oh!« Enttäuscht sah er sie an, doch sie fuhr fort: »Wir können gern was zusammen machen, aber nicht so! Du musst auch mal rausgehen.«
»Wenn mich.« »Ich weiß, das Scheiß-Regierungsviertel.«
»Du weißt eben nicht!«, entgegnete er. »Wenn das rauskommt, bin ich erledigt. Ungebührliches Verhalten. Die kündigen mich ohne einen Cent Unterstützung. Ruckzuck bin ich im AC. Je höher der Aufstieg, desto tiefer der Fall. Etterling ist nicht der einzige, der spießig geworden ist. Die Zeiten, wo bei den Ökolibs noch Schwule in Spitzenämtern saßen, sind auch vorbei! Von einem Transvestiten ganz zu schweigen! Was glaubst du, warum ich immer zu dir komme?«
»Habt ihr da alle ein Keuschheitsgelübde abgelegt oder was?«
»Die Frauen bei den Ökolibs machen mich fertig, wenn sie rauskriegen, dass ich zu einer Nutte gehe. Bei der Neuen Mitte ist es noch schlimmer und bei den Konservativen auch. Alle machen auf Familie, Treue und Beziehung aus Angst, sonst von Rivalen bei den Medien angeschwärzt zu werden. Das Gleiche, wenn jemand schwul oder lesbisch ist. Die Journaille berichtet sonst über nichts, aber darüber berichtet sie.«
»Ihr seid krank. Alle miteinander! Wie auch immer, ich will nicht, dass du nur in meinen vier Wänden Frau spielst.«
»Dann eben nicht!«
Diese blöde Kuh! Jetzt zickten schon die Nutten rum!
Manfred stand auf, nahm seine Handtasche und ging. Erst an der Tür begriff er, dass er noch im Rock war. Es war so schön, er wollte ihn nicht ausziehen, noch nicht. Nun drückte Sina ihn wieder in den Sessel. »Mach mal halblang, so habe ich das nicht gemeint. Wir gehen aus!« Ängstlich, doch auch aufgeregt sah er sie an und sie erklärte: »Jetzt erkennt dich keiner und wer dich erkennen sollte, hat allen Grund, nichts zu sagen. Wir fahren in den Club Saturn, zu den Monden des Saturn.«
»Was für Monde?«
»Rhea und Dione. Und Philoxena, die Puffmutter. Da ist auch eine Neue, so ne Kleine aus Mexiko, den Namen weiß ich jetzt nicht.«
»Aber im Taxi!«
»Gut, du zahlst.«
Die stämmige Taxifahrerin machte Sina und Manfred die Tür zum Fond auf und betrachtete sie wohlgefällig. Sie setzte sich ans Steuer und fragte: »Wohin wollt ihr beiden Hübschen denn?«
»In den Club Saturn, in.« »Ich weiß, wo der ist«, sagte die Frau und summend fuhr der Elektrowagen los. Vor einer roten Ampel mussten sie halten und sie fragte: »Wie heißt ihr, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin Sina und das ist.« »Mercy!«, platzte Manfred heraus. Ja, Mercy! Mercy! Sie schlug die Beine übereinander. Plötzlich war sie Sina dankbar, dass sie sie zu dem Ausflug überredet hatte. Sie war Mercy!
»Ja, meine Freundin Mercy.« Sina tätschelte Mercys Oberschenkel. Unbehaglich fragte sich Mercy, ob die Prostituierte sie erpressen wollte, verdrängte den Gedanken aber sofort.
Von außen verriet nichts, dass hinter der Tür mit Eisengittern und blinden Glasscheiben und den fleckigen Rollläden noch jemand wohnte. Sina drückte auf den Klingelknopf und sagte in die Gegensprechanlage: »Ur in Nippur.«
»Nippur in Ur«, antwortete eine rauchige Stimme und der Türöffner summte. Hinter der Tür stand ein großer schlanker Mann mit zu einem Zopf gebundenen langen Haaren. An seinem Gürtel hing ein Schlagstock, der über ein Kabel mit einer Batterie verbunden war. Er lächelte flüchtig, als er Mercy sah: »Neu?«
»Ja«, antwortete Sina.
»Gast od?« »Gast«, antwortete Mercy schnell, die ahnte, dass nach »oder« »Nutte« kommen würde.
»Viel Spaß.«
Der Türsteher verriegelte die Tür und Mercy sah, dass es eine massive Stahlkonstruktion war. Er registrierte ihren Blick und erklärte: »Manchmal schmeißen welche mit Molotow-Cocktails. Die Front Gottes und solche Spinner.«
»Dann wird es Zeit, den Kirchentunten zurück zu geben, was sie verloren haben!«, entgegnete Sina. »Aber mit Philoxena ist das ja nicht zu machen.«
Der Türsteher zuckte die Achseln und winkte sie in einen Korridor: »Hier entlang.«
An der Decke des Korridors hing der Planet Saturn als beige leuchtende Kugel mit glitzernden Ringen. Mercy fragte sich, wie es wäre, in einem Raumschiff dort zu sein und die Ringe zu sehen. Weder sie noch ein anderer Mensch würde das jemals erfahren. Raumfahrt war »Schnee von gestern« und die Menschheit löste ihre Probleme auf der Erde, statt nach fremden Welten zu streben.
In der rechten Korridorwand öffnete sich eine Tür und Philoxena trat heraus. Die Transe war groß und üppig gebaut. Kastanienbraunes Haar, von dem Mercy nicht wusste ob es ihr eigenes oder eine Perücke war, war in Millionen Locken um ihren Kopf toupiert und machte sie noch größer. In dem Haar saßen künstlichen Blumen, Ketten aus Plastikperlen und Strasssteine. Von den in fünfzehn Zentimeter hohen Schuhen steckenden Füßen bis zum Scheitel, auf dem ein glitzerndes Hütchen saß, maß Philoxena zweieinhalb Meter. Sie umarmte Sina und lächelte Mercy an: »Eine Jungtranse. Schick!«
In Philoxenas Salon saßen ein Dutzend Männer, Frauen und Transen. Eine Transe mit blasser Haut und tiefschwarzen Haaren, die allein an einem Tischchen saß, fiel Mercy besonders auf. Sie setzte sich zu ihr und sagte: »Hallo. Ich bin Mercy und das erste Mal hier.«
»Ich bin Lucia«, antwortete die Transe mit starkem Akzent.
»Bist du die aus Mexiko?«
»Ja«, antwortete Lucia und nippte an ihrem Sekt.
»In Mexiko war ich schon einmal.« Bei seinen Reisen nach Nordamerika hatte es sich Manfred nicht nehmen lassen, auch die Hinterlassenschaften der Azteken und Mayas zu besuchen. »Auch wegen der Ruinen. Die Amis haben so was nicht.«
»Nein.«
So ging das den halben Abend weiter, bis Mercy endlich den Grund für Lucias Einsilbigkeit erfuhr. Sie kannte den Kult der Großen Gefiederten Schlange Quetzalcoatlus nicht aus Erzählungen und Lexika-Artikeln. Sie war vor ihm aus ihrer Heimatstadt La Perdida geflohen. »Und nun erhebt dieses monstruo grande auch hier sein Haupt!«, zischte sie. »Sogar meinen Liebhaber hat es verhext!«
Mercy zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht, was von alledem zu halten war. Die Nachrichten über »Ausschreitungen« in der Grenzstadt La Perdida hatten Manfred und seine Kollegen nicht ernst genommen. Da war etwas geschehen und die Journaille sollte nicht darüber berichten, sondern mit ihrem Nachrichtenmüll die wirklichen Ereignisse und ihre Hintergründe verschleiern. So war es immer und Manfred Limberg gehörte selbst zu einem Apparat, der ebenso arbeitete. Gewöhnlich verschleierten kleine Lügen nur kleine Intrigen, weshalb sich niemand darüber aufregte.
Lucia tat aber so, als ob das Ende der Welt bevorstand. »Wolodyn hat mir alles erzählt«, zischte sie. »Ich war sehr böse mit ihm, weil er sich mit el monstruo grande eingelassen hat. Und mit Gladys! Dann habe ich ihn aber doch getroffen, weil er so guten Sex machen kann. Er hat gesagt, dass er wegen mir nach Berlin gekommen ist und das hat mir geschmeichelt. Er hat mir auch Geld gegeben. Viel Geld. El monstruo grande hat mehr Geld als du dir vorstellen kannst!«
»Ist dein Liebhaber nicht in La Perdida gewesen?«
»Jetzt ist er in Berlin. Als Diener der Großen Schlange.« Nun nahm sie einen großen Schluck von ihrem Sekt. »Berlin wird fallen wie La Perdida gefallen ist. Wolodyn wird mich beschützen, das hat er mir versprochen.«
 



 
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